OFD Niedersachsen, Verfügung v. 28.9.2011, S 0622 - 889 - St 141
Hinweise zum Anwendungserlass zur Abgabenordnung vom 2.1.2008 i.d.F. vom 17.3.2011 (BStBl 2011 I S. 241)
1. Zweck der Vorschrift und Anwendungsbereich
Das Finanzamt ist grundsätzlich gehalten, den Fortgang des Einspruchsverfahrens zu fördern und es möglichst rasch abzuschließen. Ein Verfahrensstillstand ohne gesetzliche Grundlage verstößt gegen das ungeschriebene Beschleunigungsgebot im Einspruchsverfahren (BFH-Urteil vom 21.7.1967, BStBl 1967 III S. 783). Gegen die Untätigkeit des Finanzamts kann sich der Einspruchsführer mit der Untätigkeitsklage gem. § 46 FGO wenden. Sowohl bei Aussetzung als auch bei Ruhen des Verfahrens tritt jedoch vorübergehend Verfahrensstillstand ein. Das Beschleunigungsgebot gilt in diesem Fall nicht.
Ein zureichender Grund für die Untätigkeit des Finanzamts ist gegeben, wenn bei objektiver Betrachtungsweise ein Verwaltungsakt nicht zu erwarten ist. Das ist z.B. der Fall, wenn die Entscheidung vom Ausgang eines anderen Verfahrens abhängt (BFH-Beschluss vom 31.8.1971, BStBl 1972 II S. 20) oder es zweckmäßig ist, diese Entscheidung abzuwarten.
Verfahrensaussetzung und Verfahrensruhe kommen i.d.R. nicht in Betracht, wenn der Einspruch unzulässig ist (BFH-Urteil vom 20.9.1989, BStBl 1990 II S. 177). Bei Unzulässigkeit besteht für einen Stillstand des Verfahrens kein Bedürfnis. § 363 Abs. 1 und 2 AO gelten auch nicht bei Anträgen außerhalb eines Einspruchsverfahrens. Im Verfahren wegen Aussetzung der Vollziehung nach § 361 AO kommt eine Aussetzung oder ein Ruhen des Verfahrens aufgrund der Eilbedürftigkeit und des summarischen Charakters der Entscheidung i.d.R. nicht in Betracht (BFH-Urteil vom 29.10.1987, BStBl 1988 II S. 240).
Bei ermessensfehlerhafter Weigerung des Finanzamts, das Verfahren bei Vorliegen von Musterverfahren ruhen zu lassen, können dem Finanzamt die Kosten des Verfahrens auferlegt werden (BFH-Beschluss vom 29.4.2003, BStBl 2003 II S. 719).
Sind die Voraussetzungen für eine Verfahrensaussetzung oder Verfahrensruhe erfüllt, kann über den Einspruch insoweit nicht entschieden werden, und zwar weder durch eine Einspruchsentscheidung noch durch den Erlass eines Änderungsbescheids. Über Fragen, die nicht Anlass der Verfahrensaussetzung oder Verfahrensruhe sind, kann dagegen durch Erlass einer Teil-Einspruchsentscheidung (§ 367 Abs. 2a AO) oder eines Teilabhilfebescheids entschieden werden. Dabei wird i.d.R. zur Herbeiführung der Bestandskraft eine Teil-Einspruchsentscheidung zweckmäßig sein (vgl. AEAO zu § 367, Nr. 6). Auch der Erlass von Änderungsbescheiden aus außerhalb des Einspruchsverfahrens liegenden Gründen (z.B. Folgeänderung gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO) bleibt zulässig. Änderungsbescheide werden gem. § 365 Abs. 3 AO Gegenstand des anhängigen Verfahrens (AEAO zu § 363, Nr. 3).
Von der Verfahrensaussetzung und Verfahrensruhe ist die vorrangige Unterbrechung des Verfahrens kraft Gesetzes zu unterscheiden. Insbesondere kommt Unterbrechung durch Eröffnung des Insolvenzverfahrens bzw. die Anordnung des allgemeinen Verfügungsverbots bei Einsetzung eines vorläufigen Insolvenzverwalters (AO-Kartei § 367 AO Karte 4) und bei Gesamtrechtsnachfolge in Betracht (Brandis in Tipke/Kruse, § 363 AO Tz. 4).
2. Aussetzung des Verfahrens (§ 363 Abs. 1 AO)
Nach § 363 Abs. 1 AO kann das Finanzamt die Entscheidung über einen zulässigen Einspruch aussetzen, wenn sie ganz oder teilweise von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt (vorgreifliches Rechtsverhältnis), das den Gegenstand eines anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einem Gericht oder einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist. Die Vorschrift entspricht der Regelung in § 74 FGO.
2.1 Voraussetzung ist zunächst das Vorliegen eines Rechtsverhältnisses, das sich aus einem konkreten Sachverhalt ergibt und öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Art sein kann.
Kein Rechtsverhältnis i.S. dieser Vorschrift sind:
- reine Rechts- oder Auslegungsfragen (vgl. BFH-Beschluss vom 21.8.1986, BFH/NV 1987 S. 43, und vom 18.7.1995, BFH/NV 1996 S. 215), insbesondere auch nicht die Frage, ob eine Rechtsnorm gilt oder nicht (BFH-Beschuss vom 23.1.1974, BStBl 1974 II S. 247 und vom 7.2.1992, BStBl 1992 II S. 408)
- das Schweben eines Verständigungsverfahrens (BFH-Urteil vom 1.2.1967, BStBl 1967 III S. 495)
- die Möglichkeit einer Rechtsänderung (BVerwG-Beschluss vom 13.2.1962, NJW 1962 S. 1170; BFH-Urteil vom 29.11.2006, BStBl 2007 II S. 129).
2.2 Des Weiteren muss das Rechtsverhältnis vorgreiflich sein. Das ist der Fall, wenn die Entscheidung im Rechtsbehelfsverfahren ganz oder teilweise von der Art und dem Umfang der vom Gericht oder der Behörde zu fällenden Entscheidung abhängt (BFH-Beschluss vom 24.9.1974, BStBl 1975 II S. 211, und vom 6.8.1985, BStBl 1985 II S. 672).
Es muss also ein anderes Verfahren über das Rechtsverhältnis anhängig oder zu erwarten sein, dass eine andere Behörde von Amts wegen ein solches Verfahren einleiten oder der Steuerpflichtige es alsb...