Liest sich die Beschreibung der Entwicklungsstufen als ein im Großen und Ganzen sinnvoller, zu erwartender und für die Praxis wertvoller Prozess der Weiterentwicklung, so erwies sich die Konzeptevolution für die Anwender in der Praxis als äußert problematisch. Denn entgegen einer nachvollziehbaren Modifikation, Spezifizierung oder Erweiterung der Konzeption im Ganzen, vollzog sich die Entwicklung teilweise sprunghaft, unkommentiert und an vielen Punkten sogar widersprüchlich. Beispielhaft können nachfolgende Punkte aufgeführt werden:

  1. Konzeptionelle Positionierung: Vom "Performance Measurement", über "Performance Management" hin zu "Strategischem Management".
  2. Visualisierung der Konzeptelemente: Von einem kennzahlenbasierten Tabellenformat zu einer zielbasierten Visualisierung der Korrelationen zwischen den strategischen Zielen über die Perspektivgrenzen hinweg ("Strategy Map").
  3. Verknüpfung zwischen den Konzeptelementen: Von einer Verknüpfung innerhalb der Indikatoren zu einer Verknüpfung zu den strategischen Zielen.
  4. Methodisches Vorgehen zur KPI-Selektion: Von einer perspektivischen Sammlung und Auswahl auf Basis von generischen, für die gesamte Perspektive geltenden Kriterien, wie bspw. "wie wollen wir in den Augen unserer Kapitalgeber dastehen", zu einer zielspezifischen Auswahl der Indikatoren aus den strategischen Zielen.
  5. Sequenzierung des BSC-Implementierungsprozesses:Von einer 8-stufigen über einen 13-stufigen zu einem 10-stufigen Implementierungsprozess.

Nicht nur diese ausgewählten Punkte führten in den ersten Jahren nach der Erstveröffentlichung zu massiven Verständnisproblemen auf Anwenderseite. Auch nach 10 Jahren war bspw. die grundsätzliche Frage "Was ist eine Balanced Scorecard?" die bei weitem am häufigsten gestellt Frage in entsprechenden Online-Diskussionsforen. In Folge dessen konnten in den Unternehmen immer wieder Interpretationsdifferenzen mit den dazugehörenden Diskussionen unter den Führungskräften und zwischen Führungskräften und Mitarbeitern beobachtet werden. Ebenso kritisch war und ist die Frage nach den Zielen, die mit der BSC-Einführung erreicht werden sollen. Dem Unternehmen oder Sponsor kann es um eine rein verbesserte Messung, um die Verschlankung des bestehenden Reportings, die Erhöhung der Qualität und Strategiekommunikation oder die Menge an unterschiedlichen Reports gehen. Auch organisatorisch führt ein differenziertes BSC-Verständnis zu unterschiedlichen Antworten, bspw. bezüglich der Projektverantwortung oder der organisatorischen Zuständigkeit im Betrieb (Business Development, Controlling, IT usw.).

Rückblickend lässt sich feststellen, dass das jeweilige Verständnis der BSC noch immer stark davon abhängt, auf welche Veröffentlichung es sich konkret bezieht bzw. welche BSC-Artikel zur Meinungsbildung konsultiert wurden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass die meisten Anwender der BSC in den Unternehmen i. d. R. keine jungen Wissenschaftler sind, die ihren Kontakt mit dem Konzept im Rahmen übergreifender Studien erleben. Viel mehr waren und sind das Gros der Anwender erfahrene Mitarbeiter, meist aus den controllingnahen Bereichen, deren Wissen zur BSC sich i. d. R. auf die populärwissenschaftlichen Beiträge zur BSC stützt. Unterschiedliche Basistexte führen aufgrund der beschriebenen Konzeptmodifikationen in Konsequenz zu einem unterschiedlichen BSC-Verständnis. Der notwendige Aufwand zum Angleichen der Konzeptinterpretationen wurde und wird bei den meisten Implementierungsprojekten/Unternehmen daher auch deutlich unterschätzt. Die Ziele der BSC-Einführung werden in Konsequenz nicht oder nur mit erheblichem Mehraufwand erreicht.

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