Leitsatz
Der Begünstigungszeitraum des § 35b Satz 1 des Einkommensteuergesetzes beginnt mit Entstehung der Erbschaftsteuer (§ 9 des Erbschaftsteuergesetzes), regelmäßig mit dem Tod des Erblassers.
Normenkette
§ 35b Satz 1 EStG, § 38 AO, § 9 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG
Sachverhalt
Der Kläger hatte von der im Jahr 2010 verstorbenen W zwei KG-Beteiligungen als Alleinerbe geerbt. Ein Erbschein wurde ihm allerdings erst im Jahr 2016 erteilt (wegen eines mehrinstanzlichen Erbscheinverfahrens und personeller Engpässe im Nachlassgericht). Bis zur Erteilung des Erbscheins war der Kläger aufgrund der Bestellung eines Nachlass- und Verfahrenspflegers daran gehindert gewesen, über den Nachlass zu verfügen. ErbSt wurde (erst) im Jahr 2016 festgesetzt und vom Kläger Ende Dezember 2016 entrichtet. Mit Wirkung zum 1.1.2017 veräußerte der Kläger die KG-Beteiligungen mit nicht unerheblichem Gewinn. Den Ansatz einer Steuerermäßigung nach § 35b EStG lehnte das FA ab. Einspruch und Klage blieben erfolglos (FG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 23.8.2021, 1 K 305/19, Haufe-Index 14826021, EFG 2021, 1887).
Entscheidung
Der BFH hat die Entscheidung des FG bestätigt. Die Voraussetzungen für die beantragte Steuerermäßigung bei Belastung mit ErbSt gemäß § 35b Satz 1 EStG lagen im Streitfall nicht vor. Dass damit in Bezug auf die im Streitjahr veräußerten KG-Beteiligungen die aufgrund des Erwerbs von Todes wegen entstandene ErbSt-Belastung bei der ESt-Festsetzung unberücksichtigt geblieben ist, hat der BFH für verfassungsrechtlich unproblematisch angesehen.
Hinweis
1. Die Berücksichtigung einer Steuerermäßigung nach § 35b EStG soll einen Ausgleich für eine Doppelbelastung mit ESt und ErbSt schaffen. Für diesen Ausgleich gilt eine zeitliche Grenze, ein fünfjähriger Begünstigungszeitraum: Die Ermäßigung wird nur für Einkünfte gewährt, die in demselben VZ, in dem die ESt-Schuld beim Erben entstanden ist, oder in den vorangegangenen vier VZ der ErbSt unterlegen haben.
2. In diesem Sinne haben Einkünfte in dem Zeitpunkt gemäß § 35b Satz 1 EStG"der ErbSt unterlegen", in dem die ErbSt für den korrespondierenden Erwerb nach Maßgabe von § 38 AO i.V.m. § 9 ErbStGrechtlich entstanden ist.
Nach § 38 AO entsteht der Steueranspruch als Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das (Einzelsteuer‐) Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Dieser Entstehungszeitpunkt wird hinsichtlich der ErbSt durch § 9 ErbStG bestimmt (allgemeine Meinung, vgl. nur Drüen in Tipke/Kruse, § 38 AO, Rz. 14; Schlücke in Gosch, § 38 AO, Rz. 94). Nach dem Grundtatbestand des § 9 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG entsteht die ErbSt bei Erwerben von Todes wegen mit dem Tod des Erblassers. Dieser materielle Steueranspruch ist unabhängig von der Steuerfestsetzung.
3. Die Gesetzessystematik, konkret das Zusammenspiel von § 35b EStG mit den Regelungen des SchenkStG, spricht für eine Anknüpfung an § 9 ErbStG. Denn die in § 35b EStG vorgesehene Steuerermäßigung lässt sich nach Grund und Umfang nur dann sachgerecht ermitteln, wenn man auf den Entstehungszeitpunkt der ErbSt abstellt. § 35b EStG muss handhabbar bleiben. Eine Auslegung, die in der Rechtsanwendung zu nicht oder nur schwer lösbaren Problemen führte, wäre eine der Funktionalität der Einkommensbesteuerung widersprechende Auslegung.
4. Der Sinn und Zweck des § 35b EStG, der sich aus der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift ergibt, steht diesem Ergebnis nicht entgegen. Das gilt insbesondere auch für Konstellationen, in denen – wie im Streitfall – die ErbSt so spät festgesetzt wird, dass wegen Ablaufs des Ermäßigungszeitraums eine Doppelbelastung nicht mehr ausgeglichen werden kann.
5. Auf den vorliegenden Fall angewandt bedeutet dies, dass eine Ermäßigung der ESt nach § 35b Satz 1 EStG schon deshalb ausscheidet, weil der Kläger die KG-Beteiligungen außerhalb des dort genannten fünfjährigen Zeitraums nach dem Tod der W veräußert hat.
Da es schon vom Wortlaut des § 35b Satz 1 EStG her auf ein Verschulden nicht ankommt, ist es vorliegend auch unerheblich, dass der Erbschein erst sechs Jahre nach dem Tod der Erblasserin erstellt worden ist und der Kläger erst nach Erteilung des Erbscheins die einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, um die es geht, überhaupt erzielen konnte.
6. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn aufgrund der Begrenzung des Begünstigungszeitraums des § 35b Satz 1 EStG auf fünf Jahre – wie vorliegend – zum einen der Erwerb der Beteiligungen mit ErbSt und zum anderen ihre Veräußerung mit ESt belastet wird. Weder ist der Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt, noch ist eine etwaige verfassungsrechtlich zu beachtende Belastungsgrenze überschritten.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 28.11.2023 – X R 20/21