Leitsatz
1. Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt kann nach § 130 Abs. 2 AO nur dann zurückgenommen werden, wenn bei seinem Erlass von einem tatsächlich nicht gegebenen Sachverhalt ausgegangen oder das im Zeitpunkt seines Erlasses geltende Recht unrichtig angewandt worden ist; eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage hingegen macht einen ursprünglich rechtmäßigen Verwaltungsakt grundsätzlich nicht i.S.d. § 130 AO rechtswidrig, es sei denn, es läge ein Fall steuerrechtlicher Rückwirkung vor.
2. Zur Frage, ob eine Verfügung über die Anrechnung der durch Steuerabzug erhobenen ESt Geltung nur im Hinblick auf das Steuerschuldverhältnis beansprucht, wie es im Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung ("Stichtag") besteht, also stillschweigend unter einer auflösenden Bedingung dergestalt steht, dass bei einer Änderung des Steuerbescheids erneut über die Anrechnung zu entscheiden ist.
3. Eine "nachträglich eingetretene Tatsache" i.S.d. § 131 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 AO kann auch die steuerrechtliche Beurteilung eines Sachverhalts in einem anderen Bescheid sein, der Bindungswirkung für den zu widerrufenden Bescheid hat.
4. Wird ein ESt-Bescheid geändert, weil die in ihm erfassten Lohnzahlungen wegen Festsetzungsverjährung nicht erfasst werden dürfen, kann die mit dem ESt-Bescheid verbundene Anrechnungsverfügung, welche die auf den Lohn entrichtete LSt angerechnet hatte, widerrufen werden.
Normenkette
§ 130 Abs. 2 und 3, § 131 Abs. 2 AO, § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG
Sachverhalt
Ein Steuerpflichtiger hatte Lohn bezogen, von welchem LSt einbehalten und abgeführt worden war. Das FA erfasste den Lohn bei einer ESt-Änderungsveranlagung und rechnete die abgeführte LSt auf die neu festgesetzte ESt an. Später gelangte es zu der Auffassung, dass der ursprüngliche ESt-Bescheid wegen Festsetzungsverjährung nicht hätte geändert werden dürfen, und hob deshalb den Änderungsbescheid wieder auf. Es änderte zugleich die Anrechnungsverfügung und rechnete die abgeführte LSt nicht mehr an.
Die dagegen gerichtete Klage wies das FG ab (FG Baden-Württemberg, Urteil vom 02.03.2007, 9 K 40/03, Haufe-Index 2137365).
Entscheidung
Das FA durfte die Anrechnungsverfügung ändern. Die Aufhebung des Steueränderungsbescheids ist eine neue Tatsache, aufgrund derer das FA die bisherige Anrechnungsverfügung nicht hätte erlassen dürfen, weil Steuern auf bei der Veranlagung nicht erfasste Einkünfte nicht angerechnet werden. Folglich kann die Anrechnungsverfügung widerrufen werden.
Hinweis
Wann ist ein Verwaltungsakt rechtswidrig i.S.d. § 130 AO? Ist das nur dann der Fall, wenn bei seinem Erlass von einem tatsächlich nicht gegebenen Sachverhalt ausgegangen oder das im Zeitpunkt seines Erlasses geltende Recht unrichtig angewandt worden ist? Oder macht auch jede nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage einen ursprünglich rechtmäßigen Verwaltungsakt rechtswidrig?
Diese Frage darf nicht schlicht mit der Frage gleichgesetzt werden, ob die Behörde (bzw. das Gericht) in einem gegen einen Verwaltungsakt angestrengten Rechtsbehelfsverfahren nach Erlass der Ausgangsentscheidung eingetretene Änderungen der Sach- und/oder Rechtslage berücksichtigen muss, von welcher Frage sich wiederum die Frage unterscheidet, ob dies in einem anschließenden gerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren geschehen muss. Und es gibt auf jene Frage (ebenso wie auf die nach der für eine Rechtsbehelfsentscheidung der Behörde und/oder eines Gerichts maßgeblichen Sach- und Rechtslage) wohl keine einfache, für alle Rechtszusammenhänge gültige Antwort. So gibt es Verwaltungsakte, welche die Behörde gleichsam fortwährend oder ggf. bis zum Abschluss ihres Verwaltungsverfahrens unter Kontrolle halten (und folglich bei einer Änderung der Sach- oder Rechtslage ändern) muss bzw. ändern kann, aber auch z.B. zeitpunktbezogene, die einmal rechtmäßig erlassen durch solche Veränderungen nicht rechtswidrig werden, insbesondere nicht zurückgenommen (sondern allenfalls widerrufen) werden dürfen.
Wie steht es insofern mit einer Anrechnungsverfügung? § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG stellt eine Verbindung zwischen der Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen und der Steuerfestsetzung her. Muss das nicht schon zur Folge haben, dass eine Verfügung über die Anrechnung der durch Steuerabzug erhobenen ESt von vornherein nur Geltung im Hinblick auf das Steuerschuldverhältnis beanspruchen kann, wie es durch den ESt-Bescheid konkretisiert wird und im Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung ("Stichtag") besteht? Der BFH hat das offengelassen; es wäre m.E. zu bejahen!
Der BFH geht von dem Grundsatz aus, dass ein ursprünglich rechtmäßiger Verwaltungsakt nicht zurückgenommen, sondern widerrufen werden kann, wenn sich die Verhältnisse nach seinem Erlass ändern und der Verwaltungsakt infolgedessen rechtswidrig wird. § 130 AO "passt" in solchen Fällen schwerlich; der durch seinen Abs. 2 dem begünstigten Steuerpflichtigen – mit den dort genannten Vorbehalten – zulasten des Fiskus gewährte Vertrauensschutz wäre kaum zu rechtfertigen, wenn sich die Beh...