Prof. Dr. Stefan Müller, Lina Warnke
Rz. 50
Im Umkehrschluss ergibt sich aus der Vorschrift des § 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB bei Vorliegen entgegenstehender Gegebenheiten die Vorgabe zur Berücksichtigung der gegebenen Situation i. R. d. Bewertung und entsprechend i. d. R. das Erfordernis zur abweichenden Bewertung. Wie genau aber eine derartige, abweichende Bewertung zu erfolgen hat, ist gesetzlich nicht geregelt. Das IDW sieht dann nicht mehr die nutzenbringende Verwendung der VG i. R. d. bislang üblichen Unternehmenstätigkeit, sondern die Zerschlagung des Unt mit einer Orientierung der Bewertung der VG am Absatzmarkt für gegeben an. In Konsequenz ergibt sich, dass die handelsrechtlichen Bewertungsvorschriften der §§ 253 bis 256a HGB (insb. das AHK-Prinzip) sowie allen voran das Vorsichts-, Realisations- und Imparitätsprinzip bis auf wenige Ausnahmen grds. weiterhin gültig bleiben (müssen). Allerdings hat eine Auslegung der handelsrechtlichen Bewertungsvorschriften unter Berücksichtigung des Wegfalls der Unternehmensfortführung und insofern ein Abweichen von den Wertansätzen in Richtung von Zerschlagungswerten zu erfolgen. Bereits das Erfordernis zur Berücksichtigung der Aufgabe der Unternehmensfortführung macht deutlich, dass der Grundsatz der Bewertungsstetigkeit in diesen Fällen nicht gelten kann.
Rz. 51
Mit den § 71 Abs. 2 Satz 3 GmbHG und § 270 Abs. 2 Satz 3 AktG gibt es – zunächst beschränkt auf GmbH und AG – für Liquidationsbilanzen Vorschriften zur abweichenden Bewertung. Diese sind nach h. M. auch auf andere Rechtsformen anzuwenden. Die Vorschriften für den Jahresabschluss sind demnach grds. auf die (Liquidations-)Eröffnungsbilanz, den erläuternden Bericht und auch auf den (Liquidations-)Jahresabschluss anzuwenden.
Dies untermauert die grds. Anwendung der handelsrechtlichen Bewertungsvorschriften, etwa des AHK-Prinzips und des Aktivierungsverbots für bestimmte selbst geschaffene immaterielle VG des AV (§ 248 Abs. 2 HGB), sowie der GoB auch in der Handelsbilanz bei Durchbrechung der Fortführungsprämisse. Dies liegt darin begründet, dass eine Liquidation bei tatsächlich beabsichtigter Beendigung als rechtliche Gegebenheit i. S. einer Aufgabe der going-concern-Prämisse gewertet werden muss, was die Analogien zwischen einer Liquidationsbilanz und einer vorgelagerten Handelsbilanz unter Durchbrechung der Unternehmensfortführung verdeutlicht. Entsprechend kann kaum argumentiert werden, dass bspw. das AHK-Prinzip in der (vorgelagerten) Handelsbilanz ohne Fortführung nicht, in der Liquidationsbilanz dagegen schon Beachtung zu finden hat.
Für Liquidationsbilanzen ist zudem eine explizite Ausnahme von den handelsrechtlichen Bewertungsvorschriften vorgesehen. Unter der Voraussetzung, dass die Veräußerung von VG des AV innerhalb eines übersehbaren Zeitraums beabsichtigt ist oder diese VG nicht mehr dem Geschäftsbetrieb dienen, hat eine Bewertung unter Anwendung der Vorschriften für UV zu erfolgen. Dies entspricht letztlich einer Ausrichtung der Bewertung an Veräußerungs- bzw. Auflösungsgesichtspunkten, wie sie auch für die Handelsbilanz bei Wegfall der going-concern-Prämisse gefordert wird.
Rz. 52
Aus der Notwendigkeit zur Berücksichtigung der aktuellen Unternehmenslage mit Beendigung der Unternehmensfortführung ergibt sich nach h. M. – in den Grenzen der handelsrechtlichen Bewertungsvorschriften – entsprechend das Erfordernis zur Ausrichtung der Bewertung an Veräußerungs- bzw. Auflösungsgesichtspunkten, wobei dann ggf. zwischen folgenden Optionen zu unterscheiden ist:
- Auslaufende Produktion;
- Umwandlungsrechtliche Vorgänge;
Veräußerung
- des gesamten Betriebs;
- eines Teilbetriebs;
- der einzelnen VG.
Dabei ist auch zu berücksichtigen, ob das Unt bereits nach der Satzung für einen bestimmten Zeitraum (Rz 47) oder etwa projektbezogen gegründet wurde. Mit der Festschreibung einer zeitlich begrenzten Lebensdauer etwa in der Satzung steht der Unternehmensfortführung bereits von Anfang an eine rechtliche Gegebenheit entgegen. Kommt dazu der tatsächliche Wille zur Auflösung nach Ablauf des Zeitraums, erfolgt die Bilanzierung grds. bereits im ersten Gj unter Durchbrechung der Fortführungsprämisse. Während z. B. bei einem auf vier Jahre limitierten Bestehen des Unt im letzten Jahr ein Ausrichten der Bewertung an der Veräußerungs- bzw. Auflösungsabsicht zu erfolgen hat, ließe sich etwa ein Ansatz von Nettoveräußerungspreisen bereits im ersten Jahr nicht begründen. Etwa hinsichtlich der Nutzungsdauer kommt eine Berücksichtigung der zeitlich begrenzten Lebensdauer des Unt bereits im ersten Gj aber durchaus in Betracht.
Rz. 53
Unter Berücksichtigung der bisherigen Ausführungen zur Bewertung bei Wegfall der going-concern-Prämisse ergeben sich folgende Bewertungskonsequenzen:
- Bei der Bewertung von Schulden mit ihrem Erfüllungsbetrag ist die ggf. infolge der wirtschaftlich kritischen Situation mögliche vorzeitige Fälligkeit zu beachten. Dies gilt insb. auch bei der Ermittlung des Erfüllungsbetrags von Rückstellungen sowie der Bestimmung des Abzins...