Prof. Dr. Stefan Müller, Lina Warnke
2.4.3.2.1 Im Allgemeinen
Rz. 111
§ 252 Abs. 1 Nr. 4 Hs. 2 HGB ist keine Vorgabe hinsichtlich des Realisationszeitpunkts zu entnehmen. Demnach kommen theoretisch etwa folgende Realisationszeitpunkte in Betracht:
- Vertragsabschluss
- Zugang zur produktionsnachgelagerten Lagerung
- Erfüllung der Lieferungs-/Leistungsverpflichtung
- Erfolgte Gegenleistung/Zahlung
- Ablauf der Gewährleistung
- Ablauf der Produkthaftung
Nach h. M. sowohl im Schrifttum als auch der BFH-Rechtsprechung ist von Gewinnrealisation i. S. d. GoB auszugehen, wenn die Lieferungs-/Leistungsverpflichtung erfüllt ist. Von einer Erfüllung kann regelmäßig ausgegangen werden, wenn ein quasi-sicherer, ausschüttungsfähiger Erfolgsbeitrag vorliegt bzw. die Gefahr (Preis, Untergang etc.) übergegangen und der geschuldete Lieferungs-/Leistungsauftrag wirtschaftlich erfüllt ist.
Daraus ergibt sich, dass sowohl der Vertragsabschluss als auch der Zugang zur produktionsnachgelagerten Lagerung als Realisationszeitpunkte ausscheiden. Der Gefahrenübergang (auf den Käufer/Auftraggeber) ist in diesen Fällen noch nicht erfolgt. Aus der Vorschrift des § 252 Abs. 1 Nr. 5 HGB wiederum folgt, dass Aufwendungen und Erträge unabhängig von den Zeitpunkten der entsprechenden Zahlungen zu berücksichtigen sind (Rz 134 ff.) und damit der Zeitpunkt der erfolgten Gegenleistung/Zahlung für die Realisation irrelevant ist. Zur Berücksichtigung von Gewährleistungs- sowie Produkthaftungsrisiken bedarf es keiner Ausdehnung/Verschiebung des Realisationszeitpunkts. Vorhersehbare Risiken und Verluste, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, sind gem. § 252 Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 HGB zu berücksichtigen (Rz 102 ff.).
Erfolgt die Gegenleistung/Zahlung vor Erfüllung der Lieferungs-/Leistungsverpflichtung, so ändert dies nichts an der Realisation erst mit Gefahrenübergang. In diesen Fällen erfolgt buchhalterisch eine Berücksichtigung der Zahlung als erhaltene Anzahlung unter den Verbindlichkeiten (C.3.).
Hinsichtlich der Frage, wann im Speziellen von einer entsprechenden Erfüllung der Lieferungs-/Leistungsverpflichtung bzw. einem Übergang der Gefahr auszugehen ist, ist zwischen den möglichen Geschäftsarten (Verkaufsgeschäfte, Dienstleistungen, Nutzungsvergütungen etc.) sowie möglichen Ausprägungen dieser (etwa kurz- oder langfristige Auftragsfertigung) zu differenzieren. Dazu nachfolgend die Rz 112 ff.
2.4.3.2.2 Verkaufsgeschäfte
Rz. 112
Im Rahmen von Verkaufsgeschäften ist von einer Erfüllung der Lieferungs-/Leistungsverpflichtung und damit einer Gewinn-/Ertragsrealisation auszugehen, wenn die Gefahr des zufälligen Untergangs und der zufälligen Verschlechterung bzw. die Chancen und Risiken auf den Käufer übergehen. Dies erfolgt gem. § 446 Satz 1 BGB mit der Übergabe der verkauften Sache (dazu das Schrifttum tw. einschränkend s. Rz 115).
Bei der Übergabe kommt es zudem auf den Übergang des wirtschaftlichen und nicht (erst) des rechtlichen Eigentums an. Dies kann sich auch dann nicht ändern, wenn das rechtliche Eigentum vor dem wirtschaftlichen Eigentum übergeht.
Rz. 113
Im Kontext von Versendungsverkäufen ist hinsichtlich des Gefahrenübergangs zwischen einem Verbrauchsgüterverkauf und einem Verkauf nicht an Verbraucher zu unterscheiden. Gem. § 447 Abs. 1 BGB erfolgt jenseits eines Verbrauchsgüterverkaufs der Gefahrenübergang, sobald der Verkäufer die Sache dem Spediteur, dem Frachtführer oder der sonst zur Ausführung der Versendung bestimmten Person oder Anstalt ausgeliefert hat. Handelt es sich um einen Verbrauchsgüterkauf, geht die Gefahr erst über, wenn der Verbraucher die Sache erhalten hat.
Rz. 114
Die in einigen Branchen/Unt gängige Praxis der Forderungsverbuchung im Zuge bzw. infolge der Rechnungsstellung ist streng genommen unzulässig. Zwar können Erfüllung der Lieferungs-/Leistungsverpflichtung und Rechnungsstellung zusammenliegen, es bleibt jedoch grds. bei der Maßgeblichkeit der Erfüllung der Lieferungs-/Leistungsverpflichtung. Allerdings kann der Zeitpunk...