Leitsatz
Der in Art. 52 EGV verankerte Grundsatz der Niederlassungsfreiheit ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, zur Vorbeugung gegen die Steuerflucht eine Regelung wie die in (dem französischen) Art. 167bis CGI vorgesehene einzuführen, wonach latente Wertsteigerungen besteuert werden, wenn ein Steuerpflichtiger seinen steuerlichen Wohnsitz ins Ausland verlegt.
Normenkette
Art. 52 EGV
Sachverhalt
Hughes de Lasteyrie du Saillant verließ Frankreich, um eine Erwerbstätigkeit in Belgien auszuüben. In den letzten fünf Jahren vor seinem Wegzug waren er und seine Familienangehörigen zu mehr als 25 % an einer steuerpflichtigen Kapitalgesellschaft beteiligt. Für die bis zum Wegzugszeitpunkt aufgelaufenen stillen Reserven dieser Beteiligungen wurde er nach den entsprechenden Vorschriften des Code Général des Impôts in Anspruch genommen. Darin sahen zunächst der Steuerpflichtige, sodann der Conseil d'État ...
Entscheidung
... und schließlich der EuGH einen Verstoß gegen die gemeinschaftsrechtlich garantierte Niederlassungsfreiheit.
Hinweis
1.§ 6 Abs. 1 AStG bestimmt, dass bei einer natürlichen Person, die insgesamt mindestens zehn Jahre nach § 1 Abs. 1 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig war und die Anteile an einer inländischen Kapitalgesellschaft i.S.d. § 17 EStG (also von mehr als 1 %) hält, der Wertzuwachs zu besteuern und die aufgelaufenen stillen Reserven zu versteuern sind, wenn die besagte Person ihren Wohnsitz aufgibt und ins Ausland "entschwindet". Konsumenten der täglichen Zeitungslektüre wissen um die entsprechend spektakulären Fälle, die hiervon betroffen sind oder waren: Horten, Beisheim usw.
Eine damit vergleichbare Vorschrift kennt auch das französische Steuerrecht. Sie sieht vor, dass Gesellschafter mit einer mehr als 25%igen Kapitalbeteiligung beim Wegzug zu besteuern sind, um dadurch bedingten Steuerausfällen im Inland entgegenzuwirken. Diese Vorschrift hatte der EuGH jüngst an den (Diskriminierungs-)Vorgaben und -Maßstäben des EG-Vertrags zu messen.
Sein Verdikt ergibt sich in glasklarer Deutlichkeit aus dem Leitsatz: Die Regelung ist geeignet, die Freizügigkeitsrechte des EGV, in concreto das Niederlassungsrecht, zu beschränken. Der Aspekt einer tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen "Steuerflucht" durch Wegzug einer natürlichen Person rechtfertigt solche Beschränkungen nicht. Die Ausdehnung des Besteuerungsanspruchs stellt schlicht die falsche Methode dar, um dem ggf. legitimen Ziel des französischen Fiskus', die im Inland erwirtschafteten stillen Reserven steuerlich zu erfassen, zu erreichen und durchzusetzen.
2. Erste Konsequenz: § 6 Abs. 1 AStG ist an der selben Elle zu messen wie die französische Vorschrift. Beide unterscheiden sich zwar: Während die französische Regelung in erster Linie darauf abzielt, die Steuerflucht ins Ausland zu verhindern, geht es § 6 Abs. 1 AStG zuvörderst darum, die stillen Reserven im Inland zu erfassen. Diese Unterschiede wirken wertungsmäßig jedoch nicht so schwer, dass sie unterschiedliche Ergebnisse rechtfertigen könnte. Dem dürfte schon entgegenstehen, dass die deutsche Vorschrift in ihrer konkreten Ausgestaltung (was hier nicht näher darzutun ist) wesentlich rigider ist als die französische.
Auch die deutsche Vorschrift dürfte damit wohl europarechtswidrig sein. Das deutsche Außensteuerrecht ist – und zwar nicht nur in diesem Punkt – kaum mehr zu halten und (allein schon zur Vermeidung eines EU-Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik) dringend zu novellieren oder (jedenfalls innerhalb der EU) sogar gänzlich abzuschaffen. Der Gesetzgeber wird die insoweit schon seit geraumer Zeit erhobenen Mahnungen nicht länger überhören können.
3. Zweite Konsequenz: Der Gesetzgeber wird kaum umhinkönnen, das gesamte steuerliche Regelungswerk, soweit dieses darauf gerichtet ist, die Besteuerung stiller Reserven auf lange Zeit (oder auf immer) hinauszuschieben, einer Gesamtremedur zu unterziehen. Erfordert das Gemeinschaftsrecht nämlich die uneingeschränkte Gleichbehandlung von Gebietsansässigen und Gebietsfremden, dann ist z.B. auch die Schlussbesteuerung "wegziehender" Kapitalgesellschaften oder Betriebsstätten in das EG-Ausland gem. § 12 KStG (nach Maßgabe einer fiktiven Liquidatitionsbesteuerung) in Frage gestellt. Das betrifft auch die Sitzverlegung einer Gesellschaft in der (mit Wirkung vom 8.10.2004) neu geschaffenen Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft (S.E.), jedenfalls solange die geplante EG-Richtlinie zur steuerneutralen Sitzverlegung nicht in Kraft ist.
Gleiches gilt letztlich für die einschlägigen Entstrickungsklauseln im deutschen Umwandlungssteuerrecht (§ 11 Abs. 1 Satz 1, § 15 Abs. 1 Satz 1, § 20 Abs. 3, § 21 Abs. 2 Nr. 2 UmwStG), der nur eingeschränkt zulässigen Übertragung stiller Reserven gem. § 6b Abs. 4 Nr. 3 EStG, aber auch ganz allgemein für die Besteuerung stiller Reserven bei grenzüberschreitender Überführung von Wirtschaftsgütern: Wird eine solche Überführung nämlich durch ein deutsches Unternehmen i...