Entscheidungsstichwort (Thema)
Änderungsbefugnis nach §174 Abs. 3 AO 1977
Leitsatz (NV)
Besteht zwischen dem FA und dem Steuerpflichtigen Streit über die Zulässigkeit der Bildung einer steuermindernden Preissteigerungsrücklage im Jahre 01 und einigen sich die Beteiligten daher auf die Auflösung der Rücklage im Jahre 02, so ist der die Rücklage begründende Sachverhalt nicht bei der Veranlagung des Jahres 01 unberücksichtigt i. S. des §174 Abs. 3 AO 1977 geblieben.
Normenkette
AO 1977 § 174 Abs. 3; FGO § 69 Abs. 3, 2
Tatbestand
Am Gewerbebetrieb der Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (Antragstellerin) -- einer GmbH -- war u. a. im Erhebungszeitraum 1988 (Streitjahr) Frau B als atypisch stille Gesellschafterin beteiligt. Der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt -- FA --) führte die Antragstellerin und die aus der Antragstellerin und der stillen Gesellschafterin bestehende Personengesellschaft (GmbH & Still) unter zwei getrennten Steuernummern.
Für den Erhebungszeitraum 1988 erklärte die Antragstellerin einen Verlust der GmbH & Still aus Gewerbebetrieb von 209 581 DM. Bei der Gewinnermittlung hatte sie eine Preissteigerungsrücklage nach §74 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung in Höhe von 1 Mio. DM gewinn mindernd berücksichtigt. Die Gewerbesteuererklärung 1988 für die GmbH & Still, der diese Gewinnermittlung zugrunde liegt, wurde am 7. November 1989 beim FA eingereicht. Das FA vertrat die Auffassung, das der Preissteigerungsrücklage zugrundeliegende Geschäft -- sog. "Nickelgeschäft" (Erwerb einer Partie Nickel- ... im Dezember 1988 und Weiterveräußerung der Waren im Januar 1989) -- sei als Scheingeschäft steuerrechtlich unbeachtlich und die Rücklage somit nicht anzuerkennen. Es stellte die Einkünfte aus dem Betrieb der GmbH & Still für 1988 einheitlich und gesondert mit einem Gewinn in Höhe von 790 418 DM fest. Entsprechend korrigierte es den für die GmbH & Still erklärten Gewerbeertrag und erließ unter der Steuernummer der GmbH & Still einen Gewerbesteuermeßbescheid für 1988 (Erstbescheid 1988 GmbH & Still). Außerdem erließ es unter der Steuernummer der Antragstellerin unter dem Vorbehalt der Nachprüfung einen an die Antragstellerin gerichteten, auf 0 DM lautenden Gewerbesteuermeßbescheid für 1988 (Erstbescheid 1988 Antragstellerin vom 18. Februar 1991).
Die GmbH & Still legte gegen den Erstbescheid 1988 GmbH & Still Einspruch ein und machte geltend, die Preissteigerungsrücklage sei steuerrechtlich anzuerkennen. Um einen langwierigen Rechtsstreit zu vermeiden, einigten sich die Beteiligten unter Aufrechterhaltung ihrer gegensätzlichen Rechtsauffassungen darauf, daß die Preissteigerungsrücklage im Streitjahr zu bilden und 1991 aufzulösen sei (Vereinbarung vom 6. Mai 1991). Das FA änderte den angefochtenen Bescheid und setzte unter Vorbehalt der Nachprüfung den einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrag von 38 005 DM auf 0 DM herab (1. Änderungsbescheid 1988 GmbH & Still vom 24. Juni 1991).
Zum 31. Juli 1991 wurde die stille Gesellschaft aufgelöst. Die Antragstellerin erstellte auf den Auflösungszeitpunkt eine Zwischenbilanz, die einen Gewinn von rd. 1,11 Mio DM ausweist. Der Gewinn beruht im wesentlichen auf der Auflösung der Preissteigerungsrücklage. Das FA wollte sich daraufhin von der Abrede über die Bildung und Auflösung der Rücklage lösen. Zur Begründung machte es geltend: Basis der Vereinbarung sei gewesen, daß die verzögerte Auflösung der Rücklage nur einen Stundungs- und Zinseffekt habe. Die Beendigung der stillen Gesellschaft im Erhebungszeitraum 1991 führe jedoch dazu, daß der Gewinn aus der Auflösung der Rücklage einkommensteuerrechtlich tarifbegünstigt sei, wenn die Rücklage erst 1991 aufgelöst werde.
Im Februar 1992 einigten sich die Antragstellerin und das FA darauf, es bei der Auf lösung der Rücklage im Erhebungszeitraum 1991 zu belassen, den Gewinn aufgrund der Auflösung jedoch als laufenden Gewinn zu behandeln (Vereinbarung vom 10. Februar 1992). Mit Bescheid vom 8. April 1992 stellte das FA den Gewinn der GmbH & Still 1991 daraufhin einheitlich und gesondert in Höhe von 758 430 DM als laufenden Gewinn fest.
Für den Erhebungszeitraum 1991 reichte die Antragstellerin dem FA zunächst unter ihrer Steuernummer eine Gewerbesteuererklärung ein, in der der Gewinn 1991 einschließlich des Gewinnanteils der stillen Gesellschafterin als Teil des Gewerbeertrags erfaßt worden war. Nach Erörterungen mit dem FA über einen Verlustvortrag reichte die Antragstellerin zwei neue Gewerbesteuererklärungen ein, eine für den Zeitraum bis zur Auflösung der stillen Gesellschaft und eine für den restlichen Zeitraum des Jahres 1991. Am 7. Januar 1994 erließ das FA je einen an die GmbH & Still bzw. die Antragstellerin gerichteten Gewerbesteuermeßbescheid für 1991 (Erstbescheid 1991 GmbH & Still und Erstbescheid 1991 Antragstellerin). Die einheitlichen Gewerbesteuermeßbeträge wurden auf 25 956 DM bzw. 510 DM festgesetzt.
1995 erließ das FA nach einer Außenprüfung an die Antragstellerin bzw. die GmbH & Still gerichtete geänderte Gewerbesteuermeßbescheide für 1991 (1. Änderungsbescheid 1991 Antragstellerin und 1. Änderungsbescheid 1991 GmbH & Still, jeweils vom 25. September 1995). Den 1. Änderungsbescheid 1991 GmbH & Still hob das FA aufgrund eines Rechtsbehelfs auf, weil der Bescheid falsch adressiert und daher nichtig gewesen sei. Am 8. Januar 1996 erließ es unter der Steuernummer der GmbH & Still einen Bescheid mit gleichem Inhalt, den es an die Antragstellerin als Inhaberin des Handelsgeschäfts in stiller Gesellschaft mit Frau B adressierte (2. Änderungsbescheid 1991 GmbH & Still).
Auch gegen den 2. Änderungsbescheid 1991 GmbH & Still legte die Antragstellerin Einspruch ein. Sie machte geltend, der einheit liche Gewerbesteuermeßbetrag 1991 sei bereits durch den 1. Änderungsbescheid 1991 Antragstellerin bestandskräftig festgesetzt worden, eine weitere Festsetzung sei -- auch unter einer anderen Steuernummer -- nicht zulässig; außerdem habe das FA den Gewinn aus der Auflösung der Preissteigerungsrücklage als Teil des Gewerbeertrags erfaßt, obwohl es sich um einen Veräußerungsgewinn handele. Das FA änderte daraufhin den 2. Änderungsbescheid 1991 GmbH & Still und setzte den einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrag auf 0 DM herab (3. Änderungsbescheid 1991 GmbH & Still vom 15. Juli 1996). In einer Anlage zum Bescheid begründete es die Änderung damit, daß die abweichende Steuerfestsetzung gemäß §163 Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977) bezüglich der Auflösung der Preissteigerungsrücklage im Kalenderjahr 1991 abgelehnt werde.
Gleichzeitig -- 1m 15. Juli 1996 -- erließ das FA unter der Steuernummer der GmbH & Still einen gemäß §175 Abs. 1 Nr. 1 i. V m. §171 Abs. 10 AO 1977 geänderten Gewerbesteuermeßbescheid für 1988 (2. Änderungsbescheid 1988 GmbH & Still). Wegen der Aussetzung der Vollziehung dieses Bescheides wird der Rechtsstreit geführt. Der Bescheid ist adressiert an Herrn X als Empfangsbevollmächtigten der Antragstellerin und enthält den Hinweis, er betreffe die Antragstellerin als Inhaberin des Handelsgeschäftes in stiller Gesellschaft mit Frau B. In dem Bescheid ist die Bildung der Preissteigerungsrücklage nicht mehr gewinnmindernd berücksichtigt. Dies begründete das FA in einer Anlage zum Bescheid damit, daß eine abweichende Steuerfestsetzung bezüglich der Bildung und Auflösung der Rück lage für die Gewerbesteuer nicht gebilligt werde.
Die Antragstellerin legte gegen den Bescheid fristgerecht Einspruch ein, über den -- soweit bekannt -- das FA noch nicht entschieden hat. Den Antrag, die Vollziehung des Bescheides auszusetzen, lehnte das FA ab.
Das Finanzgericht (FG) gab dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gemäß §69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) statt, lehnte es jedoch ab, gemäß §69 Abs. 2 Satz 6 i. V. m. Abs. 3 Satz 1 FGO die Anforderung einer Sicherheitsleistung durch die hebeberechtigte Gemeinde auszuschließen (Beschluß vom 16. September 1996).
Das FA macht mit der gemäß §128 Abs. 3 FGO zugelassenen und beim FG am 8. Oktober 1996 -- und damit fristgerecht -- eingelegten Beschwerde geltend, das FG habe zu Unrecht die Änderungsbefugnis gemäß §174 Abs. 3 und 4 AO 1977 als zweifelhaft angesehen.
Es beantragt, den Beschluß des FG aufzuheben und den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Gewerbesteuermeßbescheides 1988 vom 15. Juli 1996 abzulehnen.
Die Antragstellerin ist der Beschwerde entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist unbegründet.
Das FG hat zutreffend ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des 2. Änderungsbescheides 1988 GmbH & Still vom 15. Juli 1996 bejaht, die auf Antrag der Antragstellerin zur Aussetzung der Vollziehung des Bescheides führen.
1. Gemäß §69 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 FGO kann das FG die Vollziehung eines angefochtenen Steuerbescheides auf Antrag aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides bestehen.
Die Rechtmäßigkeit eines Steuerbescheides ist ernstlich zweifelhaft, wenn bei Prüfung der Sach- und Rechtslage aufgrund der präsenten Beweismittel, der gerichtsbekannten Tatsachen und des unstreitigen Sachverhalts erkennbar wird, daß aus gewichtigen Gründen Unsicherheit oder Unentschiedenheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung von Sachverhaltsfragen besteht und sich bei abschließender Klärung dieser Fragen der Bescheid als rechtswidrig erweisen könnte (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs vom 17. Mai 1978 I R 50/77, BFHE 125, 423, 426, BStBl II 1978, 579; Koch in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl. 1997, §69 Anm. 77f., m. w. N.).
2. Im Streitfall ergibt diese Prüfung, daß die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Gewerbesteuermeßbescheides 1988 vom 15. Juli 1996 ernstlich zweifelhaft ist. Dies gilt selbst dann, wenn unterstellt wird, daß die Voraussetzungen für die Bildung der Preissteigerungsrücklage im Erhebungszeitraum 1988 nicht erfüllt sind, weil das der Bildung der Rücklage zugrundeliegende Geschäft ein Scheingeschäft war und deshalb steuerrechtlich unbeachtlich ist.
a) Die ernstlichen Zweifel an der Recht mäßigkeit des angefochtenen Bescheides ergeben sich nicht aufgrund von Unklarheiten hinsichtlich der Person, an die sich der Bescheid richtet. Der Bescheid ist ein an die Antragstellerin gerichteter Änderungsbescheid zum bestandskräftigen Erstbescheid 1988 Antragstellerin vom 18. Februar 1991. Daß er die Steuernummer der GmbH & Still trägt, läßt nicht den Schluß zu, er richte sich an die GmbH & Still und sei daher rechtswidrig oder nichtig (vgl. Senatsurteil vom 10. November 1993 I R 20/93, BFHE 173, 184, BStBl II 1994, 327). Dies ergibt sich auch für die Antragstellerin eindeutig aus der Adressierung des Bescheides und dem im Bescheid enthaltenen Hinweis, der Bescheid betreffe die Antragstellerin als Inhaberin des Handelsgeschäfts in stiller Gesellschaft mit Frau B.
b) Unsicherheit besteht jedoch hinsichtlich der Beurteilung der Rechtsfrage, ob das FA aufgrund einer Änderungsvorschrift berechtigt war, den bestandskräftigen Erstbescheid 1988 der Antragstellerin zu ändern.
aa) Eine Änderungsbefugnis gemäß §175 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. §171 Abs. 10 AO 1977 scheidet aus den vom FG angeführten und vom FA nicht mehr angegriffenen Gründen aus.
bb) Ob das FA gemäß §174 Abs. 3 i. V. m. §184 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 zur Änderung befugt war, ist unsicher.§
174 Abs. 3 AO 1977 macht die Änderungsbefugnis u. a. davon abhängig, daß ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuer bescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt worden ist, er sei in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen. Im Streitfall hatte das FA den Sachverhalt "Nickelgeschäft" jedoch in den vor 1996 ergangenen Änderungsbescheiden für 1988 nicht unberücksichtigt gelassen. Es hatte aufgrund des "Nickelgeschäfts" die Bildung einer Preissteigerungsrücklage im Streitjahr zugelassen und die Rücklage bei der Festsetzung der Gewerbesteuermeßbeträge 1988 gewinnmindernd berücksichtigt. Dabei war es -- wie sich aus den Feststellungen des FG und dem Vortrag des FA ergibt -- nicht etwa von der Annahme ausgegangen, im Streitjahr seien nur die gegen ein Scheingeschäft sprechenden Tatsachen und im Erhebungszeitraum 1991 nur die für ein Scheingeschäft sprechenden Umstände zu berücksichtigen. Vielmehr hatte es den Sachverhalt "Nickelgeschäft" insgesamt -- also einschließlich der für ein Scheingeschäft sprechenden Umstände -- im Streitjahr berücksichtigt. Im Erhebungszeitraum 1991 wurde lediglich dem Sachverhalt "Vereinbarung vom 6. Mai 1991 über die Auflösung der Preissteigerungsrücklage im Erhebungszeitraum 1991" Rechnung getragen. Dieser Sachverhalt ist jedoch nicht identisch mit dem Sachverhalt "Nickelgeschäft".
cc) Unsicherheit besteht auch hinsichtlich der vom FA geltend gemachten Änderungsbefugnis gemäß §174 Abs. 4 i. V. m. §184 Abs. 1 Satz 2 AO 1977.§
174 Abs. 4 AO 1977 setzt voraus, daß aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen ist, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag der Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wurde. In diesem Fall können nach §174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlaß oder Änderung eines Steuerbescheides die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden. Der Ablauf der Festsetzungsfrist ist gemäß §174 Abs. 4 Satz 3 AO 1977 dann unbeachtlich, wenn die steuerlichen Folgerungen innerhalb eines Jahres nach Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheides gezogen werden. War die Festsetzungsfrist bereits abgelaufen, als der fehlerhafte und später aufgehobene oder geänderte Steuerbescheid erlassen wurde, gilt dies nur, wenn der Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt wurde, daß er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei, und sich diese Annahme als unrichtig herausstellte (§174 Abs. 4 Satz 4 i. V. m. §174 Abs. 3 Satz 1 AO 1977).
Sämtliche möglicherweise fehlerhaften Gewerbesteuermeßbescheide für 1991, die auf Antrag der Antragstellerin aufgehoben wurden, sind nach 1993 erlassen worden. Die Festsetzungsfrist für den Gewerbesteuermeßbetrag 1988 lief nach den Feststellungen des FG bereits Ende 1993 ab. Somit kommt es für die Anwendung des §174 Abs. 4 AO 1977 darauf an, ob die Voraussetzungen des §174 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 erfüllt sind. Dies ist -- wie oben ausgeführt -- unsicher.
Unsicherheit besteht auch hinsichtlich der Beurteilung der Frage, ob die Antragstellerin nach Treu und Glauben verpflichtet ist, die Änderung des bestandskräftigen Erstbescheides 1988 Antragstellerin vom 18. Februar 1991 hinzunehmen. Eine Bindung nach Treu und Glauben könnte allenfalls aufgrund der Vereinbarungen über die Auflösung der Rücklage im Jahr 1991 bestehen. Sie würde -- wird sie bejaht -- jedoch wohl nur dazu führen, daß sich die Antragstellerin für den Erhebungszeitraum 1991 nicht darauf berufen könnte, daß die Auflösung der Rücklage kein Teil des der Gewerbesteuer unterliegenden laufenden Gewinns ist.
Fundstellen
Haufe-Index 66930 |
BFH/NV 1998, 148 |