Entscheidungsstichwort (Thema)
Falschadressierung einer Klage zum FG
Leitsatz (NV)
1. Die Frage, ob das FG wegen offenkundiger Falschadressierung von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müsse, wenn aktenkundig sei, daß die Klage -- richtig adressiert -- fristgerecht eingegangen wäre, ist nicht von grundsätzlicher Bedeutung.
2. Unterläßt es das FG, offenkundige oder gerichtsbekannte Tatsachen von Amts wegen im Rahmen der Prüfung der Wiedereinsetzung zu berücksichtigen, so kann dies einen Verfahrensmangel begründen (Anschluß an BFH-Beschluß vom 6. April 1995 VIII B 61/94, BFH/NV 1996, 137). Es ist jedoch nicht offenkundig entschuldbar, daß eine Klageschrift trotz zutreffender Rechtsmittelbelehrung mehr als 2 Jahre nach dem Umzug des FG immer noch an dessen frühere Anschrift gerichtet wird.
Normenkette
FGO § 56
Gründe
Die Beschwerde ist jedenfalls unbegründet.
1. a) Soweit die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache mit einer Abweichung von zwei Entscheidungen anderer oberster Bundesgerichte begründet hat, ist ihre Rüge unzulässig. Von den beiden, durch die Klägerin so bezeichneten Urteilen des Bundesgerichtshofs -- BGH -- (Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1975, 257) und des Bundesarbeitsgerichts -- BAG -- (NJW 1995, 2125) weist nur die Entscheidung des BAG einen Bezug zu der Rechtsfrage auf, die auch Gegenstand der Vorentscheidung ist. Es fehlt indessen an einer schlüssigen Darstellung der Abweichung i. S. des §115 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO). An diese schlüssige Darstellung der Abweichung von einer Entscheidung eines anderen obersten Bundesgerichts sind sinngemäß dieselben Anforderungen zu stellen wie an die schlüssige Darstellung einer Abweichung von einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) i. S. des §115 Abs. 2 Nr. 2 FGO (Beschluß des BFH vom 12. März 1996 VIII B 134/95, BFH/NV 1996, 691); außerdem muß dargetan werden, daß durch die Abweichung von der Entscheidung des anderen obersten Bundesgerichts eine im Interesse der Allgemeinheit klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufgeworfen wird (Beschluß des BFH vom 1. August 1990 II B 36/90, BFHE 161, 418). Im Streitfall fehlt es an einer Bezeichnung abstrakter Rechtssätze des vorinstanzlichen Urteils und abstrakter Rechtssätze aus divergenzfähigen Entscheidungen in der Weise, daß eine Abweichung erkennbar wird (vgl. BFH-Beschluß vom 30. März 1983 I B 9/83, BFHE 138, 152, BStBl II 1983, 479).
Die angeführte Entscheidung des BAG (Beschluß vom 11. Januar 1995 4AS 24/94, NJW 1995, 2125) spricht im übrigen eher gegen die Klägerin. Dort wird nämlich ausgeführt, ohne ausdrücklichen Antrag könne die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach §236 Abs. 2 Satz 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) zwar auch dann gewährt werden, wenn die die Wiedereinsetzung rechtfertigenden Umstände offenkundig seien; dies sei jedoch dann nicht der Fall, wenn der Antragsteller zur Begründung eines später ausdrücklich gestellten Wiedereinsetzungsantrages selbst nacheinander zwei völlig verschiedene Sachverhalte anführt und seine Zweitdarstellung ausschließlich Umstände in der Sphäre seines Bevollmächtigten zum Inhalt hat. Im Streitfall hat sich die Klägerin in ihrer Stellungnahme zur Klageerwiderung im Jahre 1993 zunächst auf eine überlange Postlaufzeit berufen, während sie erst mit Schriftsatz vom 18. April 1997 erklärte, die fehlerhafte Anschrift sei darauf zurückzuführen, daß die alte Anschrift des Finanzgerichts (FG) im Computer nicht gelöscht worden sei.
b) Aber auch die von der Klägerin aufgeworfene Frage, ob das FG wegen offenkundiger Falschadressierung von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müsse, wenn aktenkundig sei, daß die Klage -- richtig adressiert -- fristgerecht eingegangen wäre, ist nicht von grundsätzlicher Bedeutung. Diese Frage ist nicht klärungsbedürftig, denn sie läßt sich ohne weiteres aus der bisherigen Rechtsprechung des BFH beantworten. In ständiger Rechtsprechung hat der BFH eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach §56 FGO infolge Verschuldens des Prozeßbevollmächtigten abgelehnt, wenn dieser -- trotz anderslautender Rechtsmittelbelehrung -- die Revision beim BFH eingereicht und dadurch bewirkt hat, daß die Revisionsschrift erst nach Ablauf der Revisionsfrist beim FG eingegangen ist (z. B. Entscheidungen des BFH vom 5. Juni 1985 VII R 65/85, BFH/NV 1986, 161; vom 18. Juli 1989 VIII R 30/89, BFHE 158, 107, BStBl II 1989, 1020; vom 30. Mai 1990 I R 91/86, BFH/NV 1991, 393, und vom 9. Januar 1992 IX R 23/90, BFH/NV 1993, 366; s. auch Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg vom 31. Juli 1990 7 Sa 85/90, LAGE §233 ZPO Nr. 6). Nichts anderes kann im Streitfall gelten, in dem die Klage zum FG trotz zutreffender Rechtsmittelbelehrung im Einspruchsbescheid falsch adressiert wurde.
2. Auch ein Verfahrensmangel, der -- wie die Klägerin meint -- darin liegen könnte, daß das FG offenkundige oder gerichtsbekannte Tatsachen nicht von Amts wegen im Rahmen der Prüfung der Wiedereinsetzung berücksichtigt hat, greift nicht durch.
Zwar kann grundsätzlich Wiedereinsetzung auch ohne besonderen Antrag gewährt werden, wenn die versäumte Rechtshandlung innerhalb der Antragsfrist nachgeholt worden ist (§56 Abs. 2 Satz 4 FGO). Auch in einem solchen Falle sind jedoch die Tatsachen, die die Wiedereinsetzung begründen können, innerhalb der Antragsfrist nach §56 Abs. 2 Satz 1 FGO vorzutragen (BFH- Beschluß vom 17. Februar 1994 VIII B 114/93, BFH/NV 1994, 810, m. w. N., ständige Rechtsprechung). Ist dies -- wie im Streitfall -- nicht geschehen, kann Wiedereinsetzung nur gewährt werden, wenn ein Wiedereinsetzungsgrund offenkundig, gerichtsbekannt oder aktenkundig ist (vgl. zuletzt BFH-Beschluß vom 6. April 1995 VIII B 61/94, BFH/NV 1996, 137, m. w. N.; s. auch Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Juli 1975 VI C 18/75, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Finanzgerichtsordnung, §56, Rechtsspruch 290).
Entgegen der Auffassung der Klägerin waren Wiedereinsetzungsgründe im Streitfall weder offenkundig noch gerichtsbekannt oder aktenkundig.
Offenkundig ist eine Tatsache, wenn sie einem größeren Kreis von Personen allgemein bekannt ist und der Richter die Überzeugung von der Wahrheit aus der Allgemeinkunde schöpft; gerichtskundig ist eine Tatsache, wenn zumindest die Mehrheit des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers sie aus der gegenwärtigen oder auch aus der früheren Tätigkeit sicher kennt und sich nicht erst durch Beiziehen von Akten oder die Einholung von Auskünften u. a. kundig machen muß (BFH-Beschluß in BFH/NV 1996, 137, m. w. N.). Daß die fehlerhafte Adressierung der Klageschrift für die verspätete Klageerhebung ursächlich gewesen ist, mag zwar offenkundig, gerichtsbekannt oder auch aktenkundig gewesen sein. Damit hat sich aber die Verschuldensprüfung keineswegs erübrigt. Denn es ergibt sich weder aus den Akten, daß die Klageschrift ohne Verschulden des Prozeßbevollmächtigten mit einer falschen Anschrift versehen wurde, noch kann es als gerichtsbekannt unterstellt werden, daß eine fehlerhafte Adressierung stets entschuldbar ist. Nach ständiger Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat ein Prozeßbevollmächtigter insbesondere zu prüfen, ob eine Rechtsmittelschrift vollständig ist, alle notwendigen Angaben richtig enthält und an das richtige Gericht adressiert ist (vgl. z. B. Senatsbeschluß vom 7. Juni 1991 IV R 32/91, BFH/ NV 1991, 761, m. w. N., und BFH in BFH/NV 1993, 366; Beschluß des BGH vom 2. Mai 1990 XII ZB 17/90, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1991, 307). Schließlich ist es nicht offenkundig entschuldbar, daß eine Klageschrift trotz zutreffender Rechtsmittelbelehrung mehr als zwei Jahre nach dem Umzug des FG immer noch an dessen frühere Anschrift gerichtet wird. Der Senat vermag auch keine Verletzung der Fürsorgepflicht darin zu erkennen, daß es das FG unterlassen hat, die Tatumstände aufzuklären, die zu der fehlerhaften Adressierung geführt haben könnten. Es ist Sache des Prozeßbevollmächtigten, alle Anstrengungen zur Firstwahrung zu unternehmen. Das Gericht ist dabei nicht sein Erfüllungsgehilfe (BFH-Beschlüsse vom 8. Juli 1991 X B 3/91, BFH/NV 1992, 120, und in BFH/NV 1993, 366).
Im übrigen wird von einer Begründung gemäß Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs abgesehen.
Fundstellen
Haufe-Index 67305 |
BFH/NV 1998, 870 |