Entscheidungsstichwort (Thema)
Sofortabzug der Vorsteuer bei beabsichtigtem Verzicht auf die Steuerfreiheit des Verwendungsumsatzes
Leitsatz (NV)
- Die - an sich zutreffende ‐ Erwägung, daß der Verzicht auf die Steuerfreiheit nicht ausgeführter Umsätze gegenstandslos ist, hindert den "Sofortabzug" der Vorsteuer bei dem Bauunternehmer oder Immobilienhändler, der seine Bauten unter Verzicht auf die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG veräußern will, nicht.
- Falls es zu der beabsichtigten Veräußerung nicht kommt, erscheint lediglich zweifelhaft, ob der "Sofortabzug" ‐ vorbehaltlich einer Vorsteuerberichtigung nach § 15a UStG, Art. 20 der Richtlinie 77/388/EWG ‐ "endgültig" oder entsprechend der bisherigen Rechtsprechung des Senats nur "materiell vorläufig" ist.
Normenkette
FGO § 69; UStG 1993 § 2 Abs. 1, § 4 Nr. 9 Buchst. a, §§ 9, 15; EWGRL 388/77 Art. 17, 20
Tatbestand
I. Die Antragstellerin, Beschwerdeführerin und Klägerin (Klägerin) ist eine Gesellschaft, deren Zweck der An- und Verkauf von Grundstücken ist. Nach ihrem Vortrag beabsichtigte sie, zwei benachbarte Grundstücke in A zu erwerben und mit Geschäftshäusern zu bebauen, um sie anschließend umsatzsteuerpflichtig zu veräußern. Eines der beiden Grundstücke sollte von der X-GmbH erworben werden. Der Ankauf dieses Grundstücks scheiterte. Deshalb trat die Klägerin auch vom Kaufvertrag über das andere Grundstück zurück und gab ihr Vorhaben im Streitjahr auf. Jedenfalls seit 1996 befindet sie sich in Liquidation.
Die Klägerin machte zunächst in ihren Umsatzsteuer-Voranmeldungen für das Streitjahr 1994 Vorsteuerbeträge geltend. In der Jahres-Umsatzsteuererklärung bezifferte sie die Vorsteuerbeträge auf … DM und erklärte einen Überschuß in gleicher Höhe.
Der Antragsgegner, Beschwerdegegner und Beklagte (das Finanzamt ―FA―) stimmte dieser Erklärung zunächst zu, setze dann aber die Umsatzsteuer auf 0 DM fest; zur Erläuterung führte das FA aus, die beabsichtigten Grundstücksumsätze seien steuerfrei und deshalb vorsteuerabzugschädlich (§ 4 Nr. 9 Buchst. a, § 15 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes 1993 ―UStG―); da bisher noch keine Umsätze getätigt worden seien, könne auch noch nicht optiert werden (Änderungsbescheid vom 19. Februar 1997).
Nach erfolglosem Einspruch hat die Klägerin Klage erhoben, die beim Finanzgericht (FG) anhängig ist.
Bereits vor Klageerhebung hatte sie beim FG die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Umsatzsteuerbescheids beantragt.
Das FG wies den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Umsatzsteuerbescheids als unbegründet ab. Es vertrat die Auffassung, die Option nach § 9 UStG erfordere, daß optionsfähige Umsätze tatsächlich bewirkt würden. Im Streitfall seien derartige Umsätze nicht bewirkt worden; die Vorbezüge seien tatsächlich nicht verwendet worden, da die Klägerin nach der Projektaufgabe ihre werbende Tätigkeit eingestellt habe.
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der vorliegenden Beschwerde, die das FG zugelassen hat.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde wegen der Aussetzung der Vollziehung des Umsatzsteuerbescheids für 1994 ist begründet. An der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Umsatzsteuerbescheids bestehen ernstliche Zweifel i.S. des § 69 Abs. 2 und 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
1. Nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG kann der Unternehmer als Vorsteuerbeträge u.a. abziehen: die in Rechnungen i.S. des § 14 UStG gesondert ausgewiesene Steuer für Lieferungen oder sonstige Leistungen, die von anderen Unternehmern für sein Unternehmen ausgeführt worden sind. Nach § 15 Abs. 2 Nr. 1 UStG ist der Vorsteuerabzug ausgeschlossen, wenn die bezogene Leistung zur Ausführung steuerfreier Umsätze verwendet wird.
a) Für den Vorsteuerabzug gilt der Grundsatz des "Sofortabzugs" (vgl. Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften ―EuGH― vom 14. Februar 1985 Rs. 268/83, Rompelman, Slg. 1985, 655, Umsatzsteuer-Rundschau ―UR― 1985, 199), d.h., der Vorsteuerabzug ist bereits in dem Besteuerungs- bzw. Voranmeldungszeitraum zu gewähren, in dem die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG erfüllt sind.
Unternehmer i.S. des § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG ist nach § 2 Abs. 1 UStG, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt. Gewerblich oder beruflich ist jede nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen. Darunter ist die Ausführung von Leistungen gegen Entgelt (vgl. § 1 Abs. 1 UStG) zu verstehen. Fehlt noch die (tatsächliche) Umsatztätigkeit ―wie bei Unternehmensgründungen―, ist (zunächst) auf die beabsichtigte Tätigkeit abzustellen.
Bei der Prüfung des Vorsteuerausschlusses nach § 15 Abs. 2 UStG ist entsprechend vorzugehen (Beschluß des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 27. August 1998 V R 18/97, BFHE 186, 475). Das gilt auch dann, wenn die beabsichtigten Verwendungsumsätze an und für sich steuerfrei ―und deshalb nach § 15 Abs. 2 UStG vorsteuerabzugschädlich― sind, der Steuerpflichtige aber zur Eröffnung des Vorsteuerabzugs auf die Steuerfreiheit der Verwendungsumsätze verzichten will (vgl. BFH-Vorlagebeschluß vom 27. August 1998 V R 77/96, BFHE 186, 468). Deshalb steht auch dem Bauunternehmer oder Immobilienhändler, der seine Bauten unter Verzicht auf die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG veräußern will, der "Sofortabzug" der Vorsteuer zu.
Nach dem bislang bekannten Sachverhalt liegen die Voraussetzungen des § 15 UStG für den "Sofortabzug" jedenfalls für einen Teil der streitbefangenen Eingangsumsätze vor, da die Klägerin beabsichtigte, unternehmerisch tätig zu werden und zur Vermeidung des Vorsteuerausschlusses nach § 15 Abs. 2 UStG auf die Steuerfreiheit der Grundstückslieferungen (§ 4 Nr. 9 Buchst. a UStG) zu verzichten (§ 9 UStG). Daß diese Absicht ernsthaft vorlag, kann mit dem FG u.a. aus dem Erwerbsantrag an die X-GmbH und dem Antrag eines Bauvorbescheids geschlossen werden. Auch der Kauf des Nachbargrundstücks spricht für die Ernsthaftigkeit des Bauvorhabens.
b) Nach der bisherigen Rechtsprechung des BFH (bis zum EuGH-Urteil vom 29. Februar 1996 Rs. C-110/94, INZO, Slg. 1996, I-857, BStBl II 1996, 655) steht der "Sofortabzug" jedoch unter dem Vorbehalt, daß es zu der beabsichtigten Tätigkeit später wirklich kommt, soweit sich die beabsichtigte Tätigkeit im maßgeblichen Besteuerungszeitraum noch nicht realisiert hat.
Das gilt auch für die Tatbestandsvoraussetzung des § 15 Abs. 1 UStG, daß nur ein Unternehmer abzugsberechtigt ist. Die die Unternehmereigenschaft begründende Umsatztätigkeit muß nach der bisherigen Rechtsprechung des BFH tatsächlich vorliegen. Führt der Leistungsempfänger keinen Umsatz aus, erfüllt er die Voraussetzungen der Unternehmereigenschaft nicht.
Nach diesen Grundsätzen dürfte das FA den begehrten Vorsteuerabzug im Ergebnis zu Recht abgelehnt haben, da mittlerweile festzustehen scheint, daß es zu einer Umsatztätigkeit der Klägerin im o.g. Sinne nicht mehr kommt.
c) Der Grundsatz des "Sofortabzugs" der Vorsteuer findet seine gemeinschaftsrechtliche Rechtsgrundlage in Art. 17 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG). Danach entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht, d.h. grundsätzlich im Zeitpunkt der Bewirkung der Eingangsleistung (vgl. Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG). Um das Recht auszuüben, muß der Unternehmer eine Rechnung mit Steuerausweis besitzen (vgl. Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG).
Gemeinschaftsrechtliche Voraussetzung für den Vorsteuerabzug ist, daß der Steuerpflichtige eine wirtschaftliche Tätigkeit i.S. des Art. 4 der Richtlinie 77/388/EWG ausführt.
Zum Recht auf Vorsteuerabzug auf Investitionen, wenn die beabsichtigte wirtschaftliche Tätigkeit nicht zu besteuerten Umsätzen führt, enthält das EuGH-Urteil (INZO) in Slg. 1996, I-857, BStBl II 1996, 655 folgende Grundsätze:
In Rdnr. 17 wird gefolgert, "daß selbst die ersten Investitionsausgaben, die für die Zwecke eines Unternehmens getätigt werden, als wirtschaftliche Tätigkeiten im Sinne des Artikels 4 der Richtlinie angesehen werden können und daß die Steuerbehörde in diesem Zusammenhang die erklärte Absicht des Unternehmens zu berücksichtigen hat", ferner (Rdnr. 19), daß die für eine solche Investitionsausgabe entrichtete Mehrwertsteuer grundsätzlich nach Art. 17 der Richtlinie 77/388/EWG abgezogen werden kann.
Nach Rdnr. 21 "verbietet nämlich der Grundsatz der Rechtssicherheit, daß die von der Steuerbehörde festgestellten Rechte und Pflichten der Steuerpflichtigen von Tatsachen, Umständen oder Ereignissen abhängen können, die nachträglich eingetreten sind. Hat die Behörde also aufgrund der ihr von einem Unternehmen übermittelten Angaben festgestellt, daß diesem die Eigenschaft als Steuerpflichtiger zuzuerkennen sei, so kann ihm diese Stellung ab diesem Zeitpunkt grundsätzlich nicht wegen des Eintritts oder Nichteintritts bestimmter Ereignisse nachträglich aberkannt werden".
Der BFH konnte dem nicht zweifelsfrei entnehmen,
-ob nur in den Fällen, in denen die Finanzbehörde die Eigenschaft als vorsteuerabzugsberechtigter Steuerpflichtiger bereits in einem Steuerbescheid ―aufgrund der erklärten Absichten des "Unternehmers", steuerbare Umsätze ausführen zu wollen― anerkannt hatte (so offenbar im Entscheidungsfall INZO), nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit daran festzuhalten ist, obwohl sich nachträglich ergibt, daß die Absichten nicht verwirklicht werden,
oder
-ob die Finanzbehörde in jedem Fall die (objektivierte) Absicht, zu steuerbaren Umsätzen führende wirtschaftliche Tätigkeiten aufzunehmen, der Besteuerung zugrunde legen muß.
Er hat deshalb dem EuGH die entsprechenden Zweifelsfragen zur Vorabentscheidung vorgelegt (BFH-Beschlüsse in BFHE 186, 475, und in BFHE 186, 468).
Die Vorlagefragen beruhen auf der Erwägung, daß die Vorschrift des § 15 UStG richtlinienkonform auszulegen ist und daß der BFH deshalb seine bisherige Rechtsprechung möglicherweise nicht mehr aufrechterhalten kann.
Demnach kommt ernsthaft in Betracht, daß die Klägerin bereits aufgrund ihrer Absicht, unternehmerisch tätig zu werden, oder jedenfalls aufgrund der Tatsache, daß ihr der begehrte Vorsteuerabzug bereits gewährt worden war, endgültig als Unternehmerin i.S. des § 15 UStG anzusehen ist und daß ihr der begehrte Vorsteuerabzug nicht mehr im Hinblick auf die weitere Geschäftsentwicklung genommen werden kann.
d) War die Klägerin im Zeitpunkt des Leistungsbezugs Unternehmerin oder als solche zu behandeln, kann ihr der Vorsteuerabzug schwerlich nach § 15 Abs. 2 UStG versagt werden. Nach bislang ganz herrschender Ansicht ist der Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 2 Nr. 1 UStG nur dann ausgeschlossen, wenn es tatsächlich zu den dort genannten steuerfreien Verwendungsumsätzen kommt (BFH in BFHE 186, 468). Im Streitfall ist es aber gerade nicht zu den steuerfreien Grundstückslieferungen gekommen. Jedenfalls hindert die ―an sich seit jeher zutreffende― Erwägung, daß der Verzicht auf die Steuerfreiheit nicht ausgeführter Umsätze gegenstandslos ist, nicht den "Sofortabzug" der Vorsteuer bei dem Bauunternehmer oder Immobilienhändler, der seine Bauten unter Verzicht auf die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG veräußern will. Zweifelhaft erscheint lediglich, ob der "Sofortabzug" ―vorbehaltlich einer Vorsteuerberichtigung nach § 15a UStG, Art. 20 der Richtlinie 77/388/EWG― "endgültig" oder entsprechend der bisherigen Rechtsprechung des Senats nur "materiell vorläufig" ist.
2. Da der Ausgang des Rechtsstreits fraglich erscheint, war dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Bescheids bis zur Entscheidung des FG in der Hauptsache stattzugeben. Im Hauptverfahren kann auch geklärt werden, inwieweit die übrigen Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG vorliegen, insbesondere ob bezüglich aller streitbefangenen Vorsteuerbeträge steuerpflichtige Leistungsbezüge von anderen Unternehmern vorliegen.
Fundstellen
Haufe-Index 302403 |
BFH/NV 1999, 1524 |
UR 2000, 124 |