Leitsatz (amtlich)
1. Ist beim FG das Verfahren über die Hauptsache und über die Aussetzung der Vollziehung anhängig und entscheidet das Gericht zuerst über die Hauptsache, so bleibt es trotzdem noch für eine sachliche Entscheidung über die Aussetzung zuständig, solange die Entscheidung über die Hauptsache weder angefochten noch rechtskräftig ist.
2. Beschwerden gegen die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung werden nicht dadurch gegenstandslos, daß auch die Hauptsache beim BFH anhängig ist.
2. Die Beschwerde gegen die Versagung der Aussetzung kann auch noch nach Einlegung der Revision erhoben werden.
Normenkette
FGO § 69 Abs. 3, § 128
Tatbestand
Das FA hatte in der die Einkommensteuer 1963 betreffenden Einspruchsentscheidung die Steuer erhöht, weil es beim Warenbestand des von der Steuerpflichtigen betriebenen Verlagsunternehmens die Kosten für Schutzumschläge und Klischees als Herstellungskosten der Bücher für aktivierungspflichtig hielt. Die Steuerpflichtige erhob gegen die Einspruchsentscheidung Klage und beantragte außerdem die Aussetzung der Vollziehung. Sie bestritt die Aktivierungspflicht der streitigen Kosten. Das FG entschied auf Grund mündlicher Verhandlung am 10. Dezember 1968 sowohl über die Klage als auch über den Aussetzungsantrag, indem es um 18.45 Uhr das klageabweisende Urteil, um 18.50 Uhr den den Antrag ablehnenden Beschluß verkündete.
Die Steuerpflichtige legte gegen das Urteil noch vor dessen am 12. Februar 1969 bewirkter Zustellung am 3. Januar 1969 Revision ein und erhob gegen den am 6. Februar 1969 zugestellten Beschluß, der auf die Gründe des (noch nicht zugestellten) Urteils verwies, am 18. Februar 1969 Beschwerde. Mit dieser wird geltend gemacht, es liege, obwohl der Beschluß nach Urteilsverkündung ergangen sei, eine Beschwer vor, die jedenfalls in der Kostenauferlegung zu erblicken sei. Ein unmittelbarer Antrag auf Aussetzung der Vollziehung an den BFH erscheine wegen der Rechtshängigkeit der Beschwerde als nicht zulässig. Sollte der BFH wegen des vom FG in der Hauptsache gefällten Urteils die Beschwerde für nicht zulässig halten, so werde gebeten, sie in einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung umzudeuten. Der Einwand des FA, die Beschwerde sei, wie bei Ziemer-Birkholz, Finanzgerichtsordnung, § 69 Anm. 59 ausgeführt sei, unzulässig, weil bei ihrer Erhebung bereits die Hauptsache beim BFH anhängig gewesen sei, sei ungerechtfertigt. Die Zitatstelle könne jedenfalls auf den hier vorliegenden Fall nicht zutreffen, in dem das FG nach Verkündung des Urteils in der Hauptsache den den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung zurückweisenden Beschluß, der zu diesem Zeitpunkt nicht mehr wirksam hätte ergehen können, erlassen habe.
Im übrigen sei der Aussetzungsantrag sachlich gerechtfertigt gewesen; denn die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes sei ernstlich zweifelhaft gewesen, weil die Kosten für Schutzumschläge und Klischees nicht zu den Herstellungskosten der Bücher gehörten.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Beschwerde ist zulässig.
Die Frage, ob das FG noch über die Aussetzung der Vollziehung entscheiden konnte, nachdem es (fünf Minuten vorher) in der Hauptsache entschieden hatte, ist zu bejahen. Die Meinung im Schrifttum ist allerdings geteilt. Einerseits wird die Auffassung vertreten, daß "mit der Beendigung der Instanz" (Gräber, Deutsches Steuerrecht 1966 S. 747 [748]), "nach Abschluß des Verfahrensabschnitts" (Ziemer-Birkholz, a. a. O., § 69 Anm. 38), "nach Entscheidung des FG in der Hauptsache" (Meßmer, Der Betriebs-Berater 1966 S. 692 [694]) das FG über die Aussetzung der Vollziehung nicht mehr entscheiden dürfe. Andere sehen als maßgeblichen Zeitpunkt, von dem ab die Hauptsachen-Vorinstanz nicht mehr im Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung entscheiden kann, den Zeitpunkt der Rechtsmitteleinlegung an (Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 4. Auflage, § 80 Anm. 40; Redeker-von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Aufl., § 80 Anm. 45). Am deutlichsten äußern sich Koehler (Verwaltungsgerichtsordnung, § 80 E II 7, E IV 3) und Klinger (Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl., § 80 E 2), die unter Hinweis auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) Kassel vom 25. Oktober 1951 (Die öffentliche Verwaltung 1953 S. 350) ausführen, daß das Gericht erster Instanz auch nach seinem Urteil über die Hauptsache noch zuständig bleibe, bis das Urteil rechtskräftig oder mit der Berufung angefochten werde. Auch Tipke-Kruse (Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 2.-4. Aufl., § 69 FGO Anm. 10) meinen, daß zwischen Ergehen des FG-Urteils und Einlegung der Revision oder Nichtzulassungsbeschwerde das FG noch für die Aussetzung der Vollziehung zuständig bleibe.
Der Senat nimmt jedenfalls für die Fälle, in denen - wie im Streitfall - bei Erlaß des Hauptsacheurteils ein Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung beim Gericht anhängig war, in Übereinstimmung mit der Mehrheit des Schrifttums an, daß die Zuständigkeit des FG für eine sachliche Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung noch gegeben ist, so lange das Hauptsacheurteil noch nicht rechtskräftig geworden oder die Revisionsinstanz noch nicht angerufen und damit der BFH noch nicht zum Gericht der Hauptsache geworden ist (vgl. Eyermann-Fröhler, a. a. O.; Tipke-Kruse, a. a. O.; unentschieden das OVG Koblenz vom 4. Januar 1961, NJW 1961, 1597).
Auch die weitere Frage, ob der Beschluß über die Aussetzung der Vollziehung des FG angefochten werden konnte, obwohl auch in der Hauptsache Rechtsmittel eingelegt wurde, und ob die Beschwerde sogar nach Einlegung der Revision noch erhoben werden konnte, ist zu bejahen. Eyermann-Fröhler (a. a. O.) und Ziemer-Birkholz (a. a. O.) sind der auch vom FA im Streitfall vertretenen Meinung, daß mit Anhängigwerden der Hauptsache in der höheren Instanz die bei dieser Instanz gegen die Ablehnung der Aussetzung anhängigen Beschwerden erledigt seien (Ziemer-Birkholz) bzw. für erledigt erklärt werden müßten (Eyermann-Fröhler). Demgegenüber vertritt die Mehrheit des Schrifttums, vielfach unter Hinweis auf die genannte Entscheidung des OVG Koblenz, die Auffassung, daß Beschwerden über die Aussetzung der Vollziehung nicht dadurch unzulässig werden, daß auch die Hauptsache beim höheren Gericht anhängig wird (OVG Koblenz, Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 69 Anm. 40, Klinger, a. a. O., § 80 E 10, Redeker-von Oertzen, a. a. O., § 80 Anm. 49; Meßmer, a. a. O., S. 695). Dem ist beizupflichten. Die Beschwerde ist nicht etwa deshalb gegenstandslos, weil eine Aussetzung der Vollziehung für die finanzgerichtliche Instanz nicht mehr in Betracht kommt oder weil der Beschwerdeführer nunmehr die Möglichkeit hätte, die Aussetzung unmittelbar beim BFH als dem Gericht der Hauptsache zu beantragen. Es ist zu beachten, daß die Beschwerde nicht wegen der Anhängigkeit der Hauptsache etwa sinnlos wäre; denn bei der Beschwerde ist die Vorentscheidung nicht nur, wie bei der Revision, auf ihre rechtliche Haltbarkeit hin zu überprüfen, sondern es ist in der Sache nach den derzeitigen Erkenntnissen zu entscheiden, also bezüglich der Frage, ob ausgesetzt werden soll oder nicht, dieselbe Entscheidung zu treffen, wie sie auch auf einen beim BFH unmittelbar gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung zu treffen wäre. Gründe der Prozeßwirtschaftlichkeit gebieten es also nicht, den Beschwerdeführer auf den unmittelbaren Aussetzungsantrag beim höheren Gericht zu verweisen (vgl. OVG Koblenz). Bei einer Entscheidung im Beschwerdeverfahren kommt vielmehr noch die dem Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers dienende Möglichkeit hinzu, daß die Vorentscheidung auch im Kostenpunkt überprüft und notfalls revidiert werden kann.
Steht hiernach die Tatsache allein, daß beim BFH neben der Beschwerde auch die Hauptsache anhängig ist, einer Entscheidung über die Beschwerde nicht entgegen, so kommt im Streitfalle jedoch noch hinzu, daß die Beschwerde erst nach der Revision eingelegt wurde. Die Revision wurde schon vor Zustellung des FG-Urteils, aber nach dessen Verkündung erhoben, was ihre Wirksamkeit nicht beeinträchtigt (vgl. Tipke-Kruse, a. a. O., § 120 Anm. 3 a; Eyermann-Fröhler, a. a. O., § 139 Anm. 3; Stein-Jonas-Schönke, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 18. Aufl., § 516 Anm. III). Die Beschwerde hingegen wurde erst nach Zustellung des Beschlusses eingelegt. Der Senat sieht keine Veranlassung, im Streitfall von anderen Grundsätzen deshalb auszugehen, weil hier die Beschwerde erst nach der Revision erhoben wurde (gegen Zulässigkeit der Beschwerde in einem solchen Fall wohl Meßmer, Hübschmann-Hepp-Spitaler, Klinger, Redeker-von Oertzen). Die Steuerpflichtige hätte hier zwar bei dem mit der Beschwerde angerufenen Gericht, weil es im Zeitpunkt der Beschwerdeeinlegung bereits Gericht der Hauptsache im Sinne von § 69 Abs. 3 FGO war, von vornherein den unmittelbaren Antrag auf Aussetzung der Vollziehung stellen können. Es ist jedoch, wie dargelegt, nicht erforderlich, die Steuerpflichtige auf diesen Weg zu beschränken, bei dem noch dazu eine Überprüfung der Kostenentscheidung der Vorinstanz nicht möglich ist. Die Steuerpflichtige konnte allerdings nur eine der beiden Möglichkeiten - entweder Beschwerde oder unmittelbaren Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO - ergreifen. Hatte sie von einer dieser Möglichkeiten Gebrauch gemacht, so war wegen Rechtshängigkeit der Streitsache, wie die Antragstellerin richtig erkannt hat, für die andere Möglichkeit kein Raum mehr. Es gelten hier dieselben Grundsätze, wie sie der BFH für eine ähnliche Rechtslage im Beschluß I S 8/66 vom 19. April 1966 (BFH 86, 56, BStBl III 1966, 358) zum Ausdruck gebracht hat.
Fundstellen
BStBl II 1970, 786 |
BFHE 1971, 17 |
NJW 1971, 448 |