Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung eines Vorläufigkeitsvermerks
Leitsatz (NV)
Die Frage, ob ein Vorläufigkeitsvermerk, durch den die Steuer im Hinblick auf anhängige Musterverfahren beim BVerfG hinsichtlich des Kinderfreibetrags vorläufig festgesetzt worden ist, dahin ausgelegt werden kann, daß auch der Abzug des halben/vollen Kinderfreibetrags nur vorläufig geregelt werden sollte, hat keine grundsätzliche Bedeutung.
Normenkette
AO 1977 § 165; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1
Gründe
Die Beschwerde ist unzulässig. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) haben die grundsätzliche Bedeutung der Sache nicht in der nach § 115 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) erforderlichen Weise dargelegt.
1. a) Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) hat eine Rechtssache grundsätzliche Bedeutung, wenn eine für die Beurteilung des Streitfalles maßgebliche Rechtsfrage das (abstrakte) Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt (vgl. die Nachweise bei Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 115 Anm. 7). Die grundsätzliche Bedeutung muß dargelegt werden. Dies erfordert ein substantiiertes Eingehen auf die aufgeworfene Rechtsfrage, d. h. es muß konkret ausgeführt werden, inwieweit diese Rechtsfrage im allgemeinen Interesse an der Entwicklung und Handhabung des Rechts klärungsbedürftig ist und ggf. in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen sie umstritten ist (BFH-Beschlüsse vom 21. August 1986 V B 46/86, BFH/NV 1987, 171; vom 28. März 1991 V B 118/89, BFH/NV 1992, 744; vom 7. August 1992 III B 146/91, BFH/NV 1993, 255).
b) Im Streitfall ist bereits zweifelhaft, ob die Kläger überhaupt eine Rechtsfrage herausgestellt haben, die vom BFH in einem Revisionsverfahren geklärt werden könnte. Der Prozeßbevollmächtigte der Kläger hat in der Beschwerdeschrift die Frage formuliert, "ob sich die Vorläufigkeit nach § 165 Abs. 1 AO der Kinderfreibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG erschöpft in dem Betrag, der vom zu versteuernden Einkommen abgezogen worden ist, oder sich auch auf die zugrundeliegenden Beurteilungsmaßstäbe nach § 32 Abs. 6 Satz 1 (Freibetrag 2052 DM) und § 32 Abs. 6 Sätze 2 und 3 EStG 1992 (Freibetrag 4104 DM) bezieht". Diese Ausführungen sind nur schwer verständlich. Vermutlich begehren die Kläger die Beantwortung der Rechtsfrage, ob Steuerbescheide, in denen die Steuer wegen einer beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängigen Verfassungsbeschwerde hinsichtlich des Kinderfreibetrages vorläufig festgesetzt worden ist, gemäß § 165 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) geändert werden können, wenn sich nachträglich herausstellt, daß ein Steuerpflichtiger anstelle des halben den vollen Kinderfreibetrag beanspruchen konnte. Es fehlt an Darlegungen der Kläger dazu, aus welchen Gründen eine Entscheidung des BFH zu dieser Frage im Interesse der Rechtseinheit oder der Rechtsfortbildung für erforderlich gehalten wird. Der allgemeine Hinweis, daß vorläufige Steuerfestsetzungen eine sehr große Zahl von Steuerpflichtigen betreffen, genügt nicht.
c) Auch insoweit, als die Kläger die Frage aufwerfen, ob die Steuerfestsetzung angesichts des Umfangs der einzelnen Vorläufigkeitsvermerke nicht insgesamt vorläufig sei, haben die Kläger die grundsätzliche Bedeutung nicht i. S. von § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt. Dies gilt auch für ihren Vortrag, das Finanzgericht (FG) habe zu Unrecht ein grobes Verschulden der Kläger nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 bejaht.
2. Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen wäre die Beschwerde auch unbegründet. Die aufgeworfenen Rechtsfragen sind nicht klärungsbedürftig. Sie sind offensichtlich so zu beantworten, wie dies in der Vorentscheidung geschehen ist. Damit besteht kein allgemeines Interesse an einer höchstrichterlichen Entscheidung (BFH- Beschluß vom 15. Dezember 1989 VI B 78/88, BFHE 159, 196, BStBl II 1990, 344). Nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 kann eine Steuer vorläufig festgesetzt werden, soweit ungewiß ist, ob die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer eingetreten sind. Ist der Umfang der Vorläufigkeit umstritten, so ist er durch Auslegung zu ermitteln (BFH-Urteil vom 26. Oktober 1988 I R 189/84, BFHE 155, 8, BStBl II 1989, 130; Senatsurteile vom 11. Dezember 1991 III R 59/89, BFH/NV 1992, 464; vom 6. März 1992 III R 47/91, BFHE 167, 290, BStBl II 1992, 588).
Im Streitfall hat das FG die Vorläufigkeitsvermerke zutreffend dahin ausgelegt, daß sie die Steuerfestsetzung nicht insgesamt betrafen und der Abzug des halben/vollen Kinderfreibetrages nicht vorläufig i. S. von § 165 Abs. 1 AO 1977 geregelt werden sollte. Die Entscheidung des BVerfG, auf das sich der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt) im Bescheid über den Lohnsteuer-Jahresausgleich 1990 bezog, hatte die verfassungsrechtlich gebotene Höhe des Kinderfreibetrages in den Jahren 1983 bis 1985 zum Gegenstand (Beschluß vom 12. Juni 1990 1 BvL 72/86, BStBl II 1990, 664). Eine Änderung kam daher allein im Hinblick auf die rechtlichen Konsequenzen in Betracht, die sich aus damaliger Sicht aus der Entscheidung des BVerfG ergeben konnten. Entsprechendes gilt für die Vorläufigkeitsvermerke in den Einkommensteuerbescheiden 1991 und 1992, in denen auf anhängige Verfassungsbeschwerden zum Kinderfreibetrag hingewiesen wurde. Das nachträgliche Bekanntwerden der Tatsache, daß den Klägern der volle Kinderfreibetrag zustand, kann daher nicht zu einer Änderung nach § 165 Abs. 2 AO 1977 führen.
Fundstellen
Haufe-Index 421075 |
BFH/NV 1996, 378 |