Entscheidungsstichwort (Thema)
Konkretisierung des Streitgegenstandes
Leitsatz (NV)
Die Aufforderung des Vorsitzenden zur Konkretisierung des Streitgegenstandes (§ 65 Abs. 2 FGO) kann noch in der mündlichen Verhandlung erfolgen.
Normenkette
FGO § 65 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, § 76 Abs. 2, § 115 Abs. 2 Nr. 3
Tatbestand
Die Klageschrift des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) enthielt lediglich den Antrag, den Bescheid des beklagten Finanzamts (FA) i. d. F. der Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion (OFD), die beide näher bezeichnet waren, aufzuheben. Eine Begründung sollte - wie angekündigt - mit gesondertem Schriftsatz erfolgen. Nachdem trotz Aufforderung durch das Gericht die Klagebegründung nicht eingereicht worden und der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen war, wies das Finanzgericht (FG) die Klage mit der Begründung als unzulässig ab, daß entgegen § 65 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) der Streitgegenstand nicht bezeichnet sei.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger eine Verletzung des § 65 Abs. 2 FGO. Er meint, wenn das FG die Ansicht vertrete, er habe den Streitgegenstand nicht bezeichnet, hätte ihn der Vorsitzende unter Fristsetzung nicht nur allgemein zu einer Begründung, sondern zur Konkretisierung des Streitgegenstandes auffordern müssen, den er mit dem bestimmten Klageantrag als ausreichend bezeichnet angesehen habe. Das Urteil beruhe auch auf einer Verletzung des § 76 Abs. 2 FGO, denn der Vorsitzende habe nicht darauf hingewirkt, daß er Darlegungen zum Streitgegenstand mache.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist unbegründet. Die vom Kläger für die Zulassung der Revision gerügten Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) - Verletzung der Aufforderungs- und Hinwirkungspflichten des Vorsitzenden gemäß §§ 65 Abs. 2, 76 Abs. 2 FGO - liegen nicht vor.
Die in § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO vorgeschriebene Bezeichnung des Streitgegenstandes gehört zu den Mußvorschriften einer ordnungsgemäßen Klageerhebung. Fehlt es an diesem Erfordernis überhaupt, so kann nach einer im Schrifttum vertretenen strengen Auffassung ein Untätigbleiben des Vorsitzenden im Hinblick auf seine Verpflichtungen nach den §§ 65 Abs. 2, 76 Abs. 2 FGO keinen Verfahrensmangel darstellen, weil eine wirksame Anfechtungsklage nicht erhoben ist und mit den genannten Vorschriften nicht eine Verlängerung der Klagefrist (§ 47 Abs. 1 FGO) bewirkt werden kann. § 65 Abs. 2 FGO läßt demgemäß die ,,erforderliche Ergänzung" nur zu, wenn die Klage ,,nicht im vollen Umfang" den Anforderungen des Abs. 1 Satz 1 entspricht (vgl. Gräber / von Groll, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 65 Rz. 51 ff.).
Die Aufforderung des Vorsitzenden zur Ergänzung fehlender Mußerfordernisse der Klage nach § 65 Abs. 2 FGO kommt aber jedenfalls dann in Betracht, wenn das einzelne Erfordernis (hier: Streitgegenstand) im Ansatz schon angegeben, wenn auch ungenau oder unvollständig benannt, ist. Für eine derartige, schon vorhandene, aber noch ergänzungsbedürftige Angabe des Streitgegenstandes könnte im Streitfall aus der Sicht des FG die Tatsache sprechen, daß ein bestimmter Klageantrag vorlag (Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts) und die Klage erst als unzulässig abgewiesen worden ist, nachdem der Kläger erfolglos zur Begründung seiner Klage aufgefordert worden war. Darüber hinaus wird in Rechtsprechung und Schrifttum auch die Auffassung vertreten, daß einzelne, gänzlich fehlende Klageessentialien auf Aufforderung des Vorsitzenden nach § 65 Abs. 2 FGO noch bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung ergänzt, d. h. nachgetragen werden dürfen (vgl. Gräber / von Groll, a. a. O., § 65, Rz. 51 ff., insbesondere Rz. 54, und Tipke / Kruse, Abgabenordnung - Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 65 FGO Tz. 7, mit Hinweis auf die Rechtsprechung; zur Ergänzung des nicht bezeichneten Streitgegenstandes vgl. auch Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 23. Oktober 1989 GrS 2/87, BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327, 331). Der Senat braucht nicht abschließend zu entscheiden, ob es der Aufforderung des Vorsitzenden zur Bezeichnung des Streitgegenstandes auch dann bedarf, wenn jeglicher Hinweis auf das Klagebegehren fehlt. Er ist für den Streitfall der Auffassung, daß auch bei Anwendbarkeit des § 65 Abs. 2 FGO eine Verletzung dieser Vorschrift durch den Vorsitzenden des FG-Senats nicht vorliegt.
Eine ausreichende Bezeichnung des Streitgegenstandes i. S. des § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO erfordert, daß der Kläger substantiiert darlegt, inwiefern der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig ist und ihn in seinen Rechten verletzt (BFH-Beschluß vom 26. November 1979 GrS 1/78, BFHE 129, 117, BStBl II 1980, 99, 102; Tipke / Kruse, a. a. O., § 65 FGO Tz. 3 Buchst. c). Das Gericht muß in die Lage versetzt sein, das Klagebegehren zu ermitteln, um die Grenzen seiner Entscheidungsbefugnis zu bestimmen; ihm muß deshalb insoweit substantiiert der konkrete Sachverhalt unterbreitet werden, in dessen rechtlicher Würdigung durch den Beklagten der Kläger eine Rechtsverletzung erblickt. Wie weit indessen das Klagebegehren jeweils substantiiert werden muß, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab (BFH in BFHE 129, 117, BStBl II 1980, 99, 102).
§ 65 Abs. 2 FGO schreibt nicht vor, bis zu welchem Zeitpunkt der Vorsitzende auf die erforderliche Ergänzung der Klage hinwirken muß, wenn diese nicht in vollem Umfang den Anforderungen des § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO entspricht. Die Konkretisierung des Streitgegenstandes im vorstehenden Sinne muß als Sachentscheidungsvoraussetzung bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung erfolgt sein, sonst ist die Klage als unzulässig abzuweisen. Es reicht demnach grundsätzlich aus, wenn die Aufforderung nach § 65 Abs. 2 FGO zur Substantiierung des Klagebegehrens noch in der mündlichen Verhandlung ergeht. In Fällen wie dem vorliegenden, in denen bereits die Klageschrift einen bestimmten Klageantrag enthält und außerdem eine Begründung der Klage mit gesondertem Schriftsatz angekündigt ist, erübrigt sich regelmäßig eine besondere Aufforderung hinsichtlich der Bezeichnung des Streitgegenstandes, da sich dieser in der Regel mit hinreichender Bestimmtheit aus dem vorliegenden Antrag i. V. m. dem Sachverhalt ergibt, mit dessen Vortrag in der angekündigten Klagebegründung gerechnet werden kann. Der Vorsitzende braucht deshalb im Streitfall den Kläger nicht unter Fristsetzung besonders aufzufordern, den Streitgegenstand ausreichend zu bezeichnen. Nachdem die angekündigte Klagebegründung ausgeblieben war, konnte er sich damit begnügen, diese anmahnen zu lassen, da sich aus ihr und dem vorliegenden Antrag aller Voraussicht nach das Klagebegehren erschließen würde. Auch nachdem die Aufforderung zur Begründung der Klage erfolglos geblieben war, war der Vorsitzende nicht gehindert, ohne weitere Aufforderung gemäß § 65 Abs. 2 FGO Termin zur mündlichen Verhandlung anzuberaumen, denn er konnte davon ausgehen, daß ihm der zur Konkretisierung des Klagebegehrens erforderliche Sachverhalt - ggf. auf entsprechende Aufforderung hin - in der mündlichen Verhandlung vorgetragen würde. Ein Ausbleiben des Klägers in der mündlichen Verhandlung brauchte er nicht in Rechnung zu stellen, da die mündliche Verhandlung den Kernbereich des Prozesses bildet, in der der Kläger durch Tatsachenvortrag, Rechtsausführungen und Erörterung der Streitsache mit dem Gericht (vgl. §§ 92, 93 FGO) seine Rechte wahrzunehmen hat.
Die Verfahrenspflichten des Gerichts und des Vorsitzenden stehen im übrigen in einer Wechselbeziehung mit den prozessualen Pflichten der Prozeßbeteiligten. Der Kläger, der früher selbst Rechtsanwalt war, konnte nicht davon ausgehen, daß seine Klageschrift den Anforderungen des § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO genügen würde. Nachdem er ausdrücklich - aber erfolglos - darauf hingewiesen worden war, daß das Gericht noch eine Begründung der Klage erwartete, mußte er auch ohne Hinweis auf die nicht ausreichende Bezeichnung des Streitgegenstandes damit rechnen, daß im Falle seines Ausbleibens in der mündlichen Verhandlung ein Prozeßurteil gegen ihn ergehen würde. Die fehlende Aufforderung zur Substantiierung des Streitgegenstandes stellt demnach unter den vorliegenden Umständen keinen Verfahrensfehler i. S. des § 65 Abs. 2 FGO dar.
Die vorstehenden Ausführungen gelten entsprechend hinsichtlich der vom Kläger als Verfahrensmangel gerügten Verletzung des § 76 Abs. 2 FGO. Diese Vorschrift, nach der der Vorsitzende darauf hinzuwirken hat, daß Formfehler beseitigt, sachdienliche Anträge gestellt, unklare Anträge erläutert, ungenügende tatsächliche Angaben ergänzt, ferner alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden, betrifft nur den Gang des Verfahrens (BFHE 129, 117, BStBl II 1980, 99, 101). Auch diese Prozeßförderungspflicht kann noch in der mündlichen Verhandlung wahrgenommen werden, was die Anwesenheit des Prozeßbeteiligten voraussetzt. Im übrigen betrifft diese Vorschrift in Abgrenzung zu § 65 Abs. 2 FGO, der sich nur auf Mußvorschriften bezieht (Gräber / von Groll, a. a. O., § 65 Rz. 52), die Sollerfordernisse einer Klage (Tipke / Kruse, a. a. O., § 65 FGO Tz. 7 am Ende), so daß sie auf die fehlende Bezeichnung des Streitgegenstandes keine Anwendung findet.
Fundstellen
Haufe-Index 418207 |
BFH/NV 1992, 752 |