Entscheidungsstichwort (Thema)
Bindung des Gerichts an Klagebegehren
Leitsatz (NV)
Das Gericht hat zunächst das wirkliche Klagebegehren anhand des gesamten Parteivorbringens einschließlich des Klageantrags zu ermitteln, um dann - begrenzt durch das Klagebegehren - seine Sachentscheidung zu treffen.
Normenkette
FGO § 96 Abs. 1 S. 2, § 110 Abs. 1 S. 1, § 115 Abs. 2 Nr. 3; EStG § 4 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
Niedersächsisches FG (Urteil vom 26.01.2011; Aktenzeichen 3 K 111/08) |
Gründe
Rz. 1
Die Beschwerde ist unbegründet.
Rz. 2
Das Urteil des Finanzgerichts (FG) kann schon deshalb nicht i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf einer Verletzung des § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO beruhen, weil das FG nicht über den Antrag der Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) hinausgegangen ist.
Rz. 3
1. Nach § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO darf das Gericht nicht über das Klagebegehren hinausgehen, ist allerdings an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Daraus ergibt sich, dass das Gericht zunächst das wirkliche Klagebegehren anhand des gesamten Parteivorbringens einschließlich des Klageantrags zu ermitteln hat, um dann --begrenzt durch das Klagebegehren-- seine Sachentscheidung zu treffen. Beachtet das FG § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO nicht, verstößt es gegen die Grundordnung des Verfahrens (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 4. September 2008 IV R 1/07, BFHE 222, 220, BStBl II 2009, 335).
Rz. 4
2. Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das FG das Klagebegehren der Klägerin zu Recht allein aus ihrem in der mündlichen Verhandlung am 26. Januar 2011 gestellten Sachantrag abgeleitet. Dieser war durch Verweis auf Bl. 2 der Klagebegründung vom 27. März 2008 darauf gerichtet, den gegen sie, die Klägerin, ergangenen Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen 2000 vom 29. November 2007 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 3. März 2008 abzuändern. Zwar verstößt das Gericht auch dann gegen § 96 Abs. 1 FGO, wenn es die wörtliche Fassung des Klageantrags als maßgeblich ansieht, obwohl diese dem erkennbaren Klageziel nicht entspricht (BFH-Beschluss vom 8. Juni 2006 IX B 30/06, BFH/NV 2006, 1689). Allerdings ergeben sich aus dem sonstigen Vortrag der Klägerin keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sie etwa auch die Gewinnfeststellung des Jahres 1999 hätte angreifen wollen. Insbesondere hat die Klägerin auf den an den Beklagten und Beschwerdeführer (das Finanzamt --FA--) gerichteten und ihr zur Kenntnis gegebenen richterlichen Hinweis vom 19. Januar 2011, wonach möglicherweise schon die zum 1. Januar 1999 vorgenommenen Kapitalanpassungen nicht hätten erfolgen dürfen, weil der Betriebsprüfer zu diesem Zeitpunkt die Fehlerhaftigkeit der Bilanzansätze der Vor-Betriebsprüfung bereits erkannt habe und die insoweit richtige Bilanz der Klägerin für die geprüften Jahre 1999 bis 2003 zugrunde zu legen sei, nicht reagiert.
Rz. 5
3. Soweit das FA rügt, das FG sei zwar im Tenor seines Urteils dem vorgenannten Klagebegehren gefolgt, aber in den Entscheidungsgründen über dieses hinausgegangen, weil es in den Entscheidungsgründen festgestellt habe, dass weder die Anfangs- noch die Schlussbilanz des Jahres 1999 noch die Anfangsbilanz des Jahres 2000 vom Betriebsprüfer hätte angepasst werden dürfen, ist dem nicht zu folgen.
Rz. 6
a) Nach § 110 Abs. 1 Satz 1 FGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten nur so weit, als über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Streitgegenstand ist bei einer Anfechtungsklage die Rechtsbehauptung des Klägers, der Verwaltungsakt sei rechtswidrig und verletze ihn in seinen Rechten. Inwieweit diese Rechtsbehauptung vom Gericht tatsächlich überprüft worden ist, ergibt sich nicht allein aus dem Tenor des Urteils, sondern auch unter Berücksichtigung des Sachverhalts, der der Entscheidung zugrunde lag. Zwar erwächst nur der Tenor der gerichtlichen Entscheidung in Rechtskraft und erzeugt eine Bindungswirkung, die Entscheidungsgründe geben aber Aufschluss darüber, wie weit die Bindung gemäß § 110 FGO reicht (vgl. BFH-Urteile vom 7. Februar 1990 I R 145/87, BFHE 161, 387, BStBl II 1990, 1032; vom 27. Februar 1997 IV R 38/96, BFH/NV 1997, 388; vom 17. Dezember 1998 IV R 47/97, BFHE 187, 409, BStBl II 1999, 303; BFH-Beschlüsse vom 26. November 1990 X B 54-59/90, BFH/NV 1991, 547; vom 20. September 2007 XI B 192/06, BFH/NV 2008, 85).
Rz. 7
b) Streitgegenstand des angegriffenen FG-Urteils war allein die Behauptung der Klägerin, der das Jahr 2000 betreffende Feststellungsbescheid vom 29. November 2007 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 3. März 2008 sei rechtswidrig und verletze sie in ihren Rechten, weil das Ausscheiden der Komplementär-GmbH in Bezug auf die Gewinnverteilung zu Gunsten der in der Klägerin verbliebenen Kommanditisten gewinnneutral erfolgt sei, während das FA von einem erheblichen Anwachsungsgewinn ausging. Über diesen Streitgegenstand hat das FG auch entschieden, denn es hat --entgegen der Auffassung des FA-- nicht nur in seinem Tenor festgestellt, dass die Klägerin bezogen auf den Feststellungsbescheid 2000 in ihren Rechten verletzt war, sondern die bindende Wirkung seines Urteils auch unter Berücksichtigung der Entscheidungsgründe nur auf diesen Umfang erstreckt, indem es in der Sache lediglich für den von ihm zu entscheidenden Streitfall die rechtlichen Konsequenzen aus dem BFH-Urteil vom 4. November 1999 IV R 70/98 (BFHE 190, 404, BStBl II 2000, 129; ebenso BFH-Beschluss vom 16. Dezember 2009 I R 43/08, BFHE 227, 469) gezogen hat.
Rz. 8
aa) Nach den Grundsätzen des BFH-Urteils in BFHE 190, 404, BStBl II 2000, 129 kann eine Bilanzberichtigung nach § 4 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes nur der Steuerpflichtige selbst vornehmen und ist dem FA eine Berichtigung verwehrt. Hält das FA eine Bilanz für fehlerhaft, so darf es diese Bilanz der Besteuerung nicht zugrunde legen, sondern muss eine eigene Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich mit ggf. auf der Grundlage der Bilanz abgeänderten Werten vornehmen. Übernimmt der Steuerpflichtige dann die vom FA ermittelten Werte, führt er selbst eine Bilanzberichtigung durch, deren Zulässigkeit nach den vom BFH aufgestellten Grundsätzen zu beurteilen ist. Sind die Werte des FA unzutreffend, übernimmt der Steuerpflichtige sie nicht und ist er auch nicht durch ein rechtskräftiges Urteil zur Übernahme der fehlerhaften Werte in die Bilanz verpflichtet, so muss seine richtige Bilanz für den Betriebsvermögensvergleich im Folgejahr herangezogen werden.
Rz. 9
bb) Im Streitfall hat das FG unter Anwendung dieser Rechtsgrundsätze und ausschließlich mit Blick auf die rechtlichen Auswirkungen für das Jahr 2000 ausgeführt, dass der Betriebsprüfer weder die Anfangs- noch die Schlussbilanz des Jahres 1999 noch die Anfangsbilanz des Jahres 2000 habe anpassen dürfen, weil der Betriebsprüfer die fehlerhafte Würdigung der Vor-Betriebsprüfung, wonach für die nicht am Kapital beteiligten Komplementäre ein variables Kapitalkonto I zu bilden und um Gewinnanteile zu erhöhen war, bereits vor der Kapitalanpassung erkannt habe. Davon ausgehend war es Folge der vorgenannten Rechtsprechung, dass der Betriebsprüfer die insoweit richtige Bilanz der Klägerin für alle geprüften Jahre zugrunde legen musste. Daraus ergibt sich allerdings keine über den Klageantrag der Klägerin hinausgreifende Überprüfung der klägerischen Rechtsbehauptung. Sondern das FG hat ausdrücklich klargestellt, dass sich bei Abstellen auf die richtige Bilanz der Klägerin schon kein Anwachsungsgewinn ergeben konnte. Durch diese Formulierung wird eindeutig klar, dass das FG materiell nur über die Rechtmäßigkeit der vom FA vorgenommenen gewinnerhöhenden Berücksichtigung eines Anwachsungsgewinns zulasten der Kommanditisten für das Jahr 2000 entschieden hat.
Fundstellen
Haufe-Index 2946338 |
BFH/NV 2012, 965 |