Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Aussetzung des Verfahrens bei anhängigen Verfassungsbeschwerden
Leitsatz (NV)
1. Es verstößt gegen die Grundordnung des Verfahrens und stellt damit einen Verfahrensfehler dar, wenn das Finanzgericht eine Sachentscheidung trifft, obwohl es das Verfahren gemäß § 74 FGO hätte aussetzen müssen.
2. Die Verpflichtung zur Aussetzung des Verfahrens besteht dann, wenn das dem FG in § 74 FGO eingeräumte Ermessen hinsichtlich der Entscheidung über die Aussetzung des Klageverfahrens auf Null reduziert ist, weil alle Erwägungen ausschließlich oder zumindest ganz überwiegend für die Aussetzung des Verfahrens sprechen.
3. Das FG ist trotz eines unter Hinweis auf anhängige Verfassungsbeschwerden gestellten Antrags auf Aussetzung des Verfahrens nicht verpflichtet, das Verfahren auszusetzen, wenn mit den Verfassungsbeschwerden Grundrechtsverletzungen durch die Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit in bezug auf die Auslegung und die Anwendung des Gesetzes auf komplexe Sachverhalte gerügt wird, die sich in tatsächlicher Hinsicht jeweils unterschiedlich darstellen.
Normenkette
FGO §§ 74, 115 Abs. 2 Nr. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin beteiligte sich an einem sog. Bauherrenmodell betreffend die Errichtung einer aus 16 Eigentumswohnungen bestehenden Wohnanlage in bezug auf eine der Eigentumswohnungen. Zu diesem Zweck bevollmächtigte und beauftragte sie einen Dritten mit dem Erwerb eines Grundstücksmiteigentumsanteils zu einem bestimmten Preis, dem Abschluß von Finanzierungsverträgen, der Abgabe der Teilungserklärung gemäß § 3 des Wohnungseigentumsgesetzes (WEG) sowie mit der Vornahme aller Rechtshandlungen, die erforderlich sind, um das Bauvorhaben, und zwar auch hinsichtlich des Gemeinschaftseigentums durchzuführen. Vorgegeben war ein bezifferter Gesamtaufwand. Vertreten durch den Bevollmächtigten schloß sie die erforderlichen Verträge, darunter auch den notariell beurkundeten Kaufvertrag über einen Miteigentumsanteil an dem Baugrundstück ab.
Das Finanzamt (FA), das den Erwerb des Miteigentumsanteils zunächst materiell vorläufig von der Grunderwerbsteuer ausgenommen hatte, setzte in der Folgezeit gegen die Klägerin Grunderwerbsteuer fest, wobei es in die Besteuerungsgrundlage auch die Herstellungskosten und einen Teil der Betreuungsgebühren neben dem Kaufpreis für den Grundstücksmiteigentumsanteil einbezog.
Mit der Klage begehrt die Klägerin die Aufhebung der Grunderwerbsteuerfestsetzung. Während des Klageverfahrens hat die Klägerin die Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) beantragt im Hinblick auf die beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängigen Verfassungsbeschwerden unter dem Aktenzeichen 2 BvR 795/89 und 2 BvR 72/90. Das Finanzgericht (FG) hat die Klage unter gleichzeitiger Ablehnung des Antrags auf Aussetzung des Verfahrens abgewiesen.
Das FG hat die Revision nicht zugelassen.
Mit der Beschwerde beantragt die Klägerin die Zulassung der Revision. Sie macht geltend, das angefochtene Urteil weiche von dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 18. Juli 1990 I R 12/90 (BFHE 161, 409, BStBl II 1990, 986) ab. Es beruhe auch auf dieser Abweichung, weil unter Anwendung des genannten BFH-Urteils keine Entscheidung in der Sache ergangen wäre. Das FG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist unbegründet.
Der Senat legt die Beschwerde dahingehend aus, daß die Klägerin in Wahrheit als Verfahrensmangel rügt, das FG habe rechtsfehlerhaft das Klageverfahren nicht antragsgemäß ausgesetzt. Denn die Ausführungen im Urteil in BFHE 161, 409, BStBl II 1990, 986 liegen der genannten Entscheidung nicht zugrunde, sondern betreffen Hinweise für das Vorgehen des FG im zweiten Rechtszug nach der Zurückverweisung der Sache durch den BFH.
Die angefochtene finanzgerichtliche Entscheidung beruht jedoch nicht auf dem Verfahrensfehler, weil die Ablehnung des Antrags der Klägerin auf Aussetzung des Verfahrens durch das FG nicht auf einem Ermessensfehlgebrauch beruht und deshalb nicht rechtswidrig ist.
1. Ein Verfahrensfehler i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO ist ein Fehler, der dem FG in bezug auf das Verfahren unterlaufen ist, sofern dadurch der materielle Inhalt seiner Entscheidung beeinflußt sein kann. In diesem Sinne stellt es nach ständiger Rechtsprechung des BFH (vgl. Urteil vom 12. November 1985 IX R 85/82, BFHE 145, 308, BStBl II 1986, 239, m. w. N.) einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens und damit einen Verfahrensfehler dar, wenn das FG eine Sachentscheidung trifft, obwohl es das Verfahren hätte gemäß § 74 FGO aussetzen müssen. Eine derartige Verpflichtung zur Aussetzung des Verfahrens besteht dann, wenn das dem FG in § 74 FGO eingeräumte Ermessen hinsichtlich der Entscheidung über die Aussetzung des Klageverfahrens auf Null reduziert ist, weil alle Erwägungen ausschließlich oder zumindest ganz überwiegend für die Aussetzung des Verfahrens sprechen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 161, 409, BStBl II 1990, 986, unter B. 3. a).
2. Nach § 74 FGO kann das FG, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde ausgesetzt wird. Dabei braucht die Entscheidung des anderen Gerichts nicht für das Verfahren rechtlich bindend sein. Der Senat kann es offenlassen, ob es genügt, daß das andere Verfahren irgendeinen rechtlichen Einfluß auf das auszusetzende Verfahren nimmt (so der I. Senat des BFH in BFHE 161, 409, BStBl II 1990, 986), oder ob die Entscheidung in dem anhängigen Verfahren dasselbe Rechtsverhältnis betreffen und kraft Gesetzes oder rechtslogisch von dem Bestehen oder Nichtbestehen des in den anderen Verfahren anhängigen Rechtsverhältnisses abhängen muß (so der III. Senat des BFH im Beschluß vom 7. Oktober 1977 III B 8/77, Der Steuerberater 1979, 38, und der VI. Senat des BFH im Beschluß vom 21. August 1986 VI B 91/85, BFH/NV 1987, 43). Denn selbst wenn davon ausgegangen würde, die Voraussetzungen des § 74 FGO seien bereits dann erfüllt, wenn das andere Verfahren irgendwie für die Entscheidung erheblich ist in dem Sinne, daß es einen rechtlichen Einfluß auf das auszusetzende Verfahren hat, ist dem FG kein Verfahrensfehler unterlaufen.
3. Das FG war nicht verpflichtet, das Verfahren auf den Antrag der Klägerin auszusetzen, weil das ihr eingeräumte Ermessen nicht auf Null reduziert war. Unmittelbarer Gegenstand der Verfassungsbeschwerden, auf deren Anhängigkeit die Klägerin ihr Begehren auf Aussetzung des Verfahrens stützt, sind Beschlüsse des erkennenden Senats, durch die Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Revision in klageabweisenden Urteilen von FG als unbegründet zurückgewiesen wurden. Die angegriffenen FG-Urteile hatten die vielfältigen Entscheidungen des erkennenden Senats zum Gegenstand des Erwerbsvorgangs im grunderwerbsteuerrechtlichen Sinn bei komplexen Sachverhalten, insbesondere im Zusammenhang mit sog. Bauherrenmodellen, in die Einzelfallentscheidung umgesetzt. Wenn auch der Senat im Laufe der Zeit gewisse Auslegungsgrundsätze aufgestellt hat, sind doch seine Erkenntnisse ihrerseits strikt auf die tatsächlichen Verhältnisse des Falles abgestellt (vgl. beispielsweise die den folgenden Entscheidungen des erkennenden Senats jeweils zugrunde liegenden Lebenssachverhalte: Urteil vom 4. Mai 1983 II R 6/82, BFHE 138, 480, BStBl II 1983, 609; Beschluß vom 18. September 1985 II B 24-29/85, BFHE 144, 280, BStBl II 1985, 627; Urteil vom 29. Juni 1988 II R 258/85, BFHE 154, 149, BStBl II 1988, 898; Beschluß vom 21. Dezember 1988 II B 47/88, BFHE 155, 419, BStBl II 1989, 333; Urteile vom 13. September 1989 II R 28/87, BFHE 158, 139, BStBl II 1989, 986; vom 29. November 1989 II R 254/85, BFHE 159, 246, BStBl II 1990, 230; vom 24. Januar 1990 II R 94/87, BFHE 160, 284, BStBl II 1990, 590). Da letztendlich jeder der Fälle in tatsächlicher Hinsicht unterschiedlich gelagert ist, kann nicht von Parallelfällen präjudiziellen Charakters im weitesten Sinne gesprochen werden. Ohne etwa auch nur eine überschlägige Prüfung der Aussichten der Verfassungsbeschwerden vornehmen zu wollen, was dem Senat versagt ist, muß jedoch davon ausgegangen werden, daß dem BVerfG, wenn es die jeweilige Verfassungsbeschwerde für begründet erachtete, nicht nur eine, sondern vielfältige Entscheidungsmöglichkeiten verbleiben. Aus diesem Grunde ist es unwahrscheinlich, daß der Inhalt einer stattgebenden Entscheidung des BVerfG es ermöglichen würde, ihn unmittelbar generell zu übernehmen. Es wird vielmehr erforderlich sein, ihn jeweils bezogen auf den zu entscheidenden Einzelfall umzusetzen. Deshalb konnten auch prozeßökonomische Gründe nicht den nach § 74 FGO bestehenden Ermessensspielraum des FG verengen.
4. Der Senat weicht mit dieser Entscheidung nicht ab von dem Beschluß des I. Senats vom 8. Mai 1991 I B 132, 134/90 (BFHE 164, 194, BStBl II 1991, 641). Denn in diesem Beschluß wird die Reduzierung des Ermessens des FG bei seiner Entscheidung über einen Antrag, das Verfahren nach § 74 FGO auszusetzen, daraus hergeleitet, daß mit der Verfassungsbeschwerde, deren Entscheidung der dortige Beschwerdeführer für vorgreiflich ansah, angestrebt wird, ein Gesetz mit Gesetzeskraft als mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder für nichtig zu erklären, weshalb kein vernünftiger Gesichtspunkt gegen die Aussetzung der im übrigen in tatsächlicher Hinsicht praktisch gleichgelagerten Parallelverfahren spreche. Um ein Parallelverfahren im Sinne dieser Entscheidung handelt es sich, wie unter 3. ausgeführt, nicht. Eine Abweichung vom Urteil desselben Senats in BFHE 161, 409, BStBl II 1990, 986 liegt schon deshalb nicht vor, weil es sich in bezug auf die Ausführungen zur Aussetzung des Verfahrens im zweiten Rechtsgang nach der Zurückverweisung nur um vorsorgliche Hinweise handelt.
Fundstellen
Haufe-Index 418044 |
BFH/NV 1992, 125 |