Leitsatz (amtlich)
Im finanzgerichtlichen Verfahren haben Rechtsanwälte keinen Anspruch darauf, die Gerichtsakten und Beiakten in ihrer Wohnung oder in ihren Geschäftsräumen einzusehen.
Normenkette
FGO § 78 Abs. 1
Tatbestand
Der Beschwerdeführer zu 1. ist Kläger in einem finanzgerichtlichen Verfahren, in dem es um die Einkommensteuer 1963 bis 1970 und die Vermögensteuer 1966, 1969 und 1970 geht. Der Beschwerdeführer zu 1. wird in diesem Rechtsstreit von den Beschwerdeführern zu 2. als Prozeßbevollmächtigte vertreten; die Beschwerdeführer zu 2. sind Rechtsanwälte.
Die Beschwerdeführer zu 2. haben während des Verfahrens vor dem Finanzgericht (FG) beantragt, ihnen die Gerichtsakten samt Beiakten zur Einsichtnahme in ihre Kanzlei zu übersenden. Die Einsichtnahme in der Geschäftsstelle des FG sei ihnen nur unter größten Schwierigkeiten möglich. Wegen Terminswahrnehmungen bei den Gerichten und wegen der Besprechungen im Rahmen ihrer Kanzleitätigkeit könnten die Akten erst abends nach 18 Uhr oder während eines Wochenendes, nicht aber während der normalen Dienststunden des FG eingesehen werden.
Diesen Antrag hat das FG mit Beschluß vom 23. Februar 1977 abgelehnt. Zur Begründung hat es unter Hinweis auf die Beschlüsse des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 29. September 1967 III B 31/67 (BFHE 90, 312, BStBl II 1968, 82) und vom 3. Dezember 1974 VII B 88/74 (BFHE 114, 173, BStBl II 1975, 235) ausgeführt, daß Rechtsanwälte kein Recht auf Überlassung der Akten in ihre Geschäftsräume hätten. Die Aktenüberlassung stehe vielmehr im Ermessen des Gerichts. Im Streitfall sei der Akteninhalt den Beschwerdeführern zum weitaus überwiegenden Teil bekannt. Die Akten seien insgesamt nicht besonders umfangreich. Es sei zumutbar, daß die Beschwerdeführer zu 2., deren Geschäftsräume sich am Ort des Gerichts befänden, die Akten in der Geschäftsstelle des Gerichts einsähen. Die Aufbewahrung der Akten durch das Gericht sei sicherer; die Akten könnten bei Verlust in aller Regel nicht rekonstruiert werden. Beim FG sei es nicht üblich, daß die Akten den Rechtsanwälten in deren Geschäftsräume oder in die Wohnung überlassen würden.
Gegen den FG-Beschluß vom 23. Februar 1977 legten die Beschwerdeführer Beschwerde ein. Sie machen geltend, es sei nicht verständlich, daß die Akteneinsicht in der Finanzgerichtsbarkeit grundsätzlich anders gehandhabt werden müsse als in allen anderen Zweigen der Gerichtsbarkeit. Es sei zu prüfen, ob diese Praxis aufrechterhalten bleiben könne. Abgesehen hiervon müsse geprüft werden, ob im vorliegenden Falle die Ablehnung der Aktenherausgabe gerechtfertigt sei. Daß die Akten insgesamt nicht besonders umfangreich seien, sei für die Ablehnung unerheblich. Nicht gefolgt werden könne auch den Ausführungen des FG zur Zumutbarkeit der Akteneinsicht in der Geschäftsstelle des Gerichts. In der Geschäftsstelle könnten die Akten nur während der Dienststunden des FG eingesehen werden; dies aber sei genau die Zeit, in der ein Rechtsanwalt Gerichtstermine wahrnehmen und seinen Parteiverkehr abwickeln müsse. Die Ablehnung der Akteneinsicht könne nicht mit der Verlustgefahr begründet werden; in Bayern seien während der letzten 30 Jahre keine Gerichtsakten verlorengegangen. Es sei auch nicht richtig, daß im Falle eines Verlustes die FG-Akten nicht rekonstruiert werden könnten. Die derzeitige Handhabung der Akteneinsicht durch die Finanzgerichtsbarkeit führe schließlich zu einer erheblichen Verteuerung der Rechtsvertretung im finanzgerichtlichen Verfahren.
Die Beschwerdeführer beantragen, den angefochtenen Beschluß aufzuheben und den Beschwerdeführern zu 2. die Gerichtsakten samt Beiakten zur Einsichtnahme in ihre Kanzlei herauszugeben.
Der Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.
Das FG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig.
Der angefochtene Beschluß des FG ist eine Entscheidung i. S. des § 128 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO), gegen die den Beteiligten und den sonst von der Entscheidung Betroffenen die Beschwerde an den BFH zusteht (BFH-Beschluß VII B 88/74). Beschwerdebefugt ist nicht nur der Beschwerdeführer zu 1., der zugleich Kläger im finanzgerichtlichen Verfahren ist. Auch die Beschwerdeführer zu 2. sind berechtigt, Beschwerde im eigenen Namen zu erheben; denn sie sind von der Entscheidung des FG unmittelbar betroffen (BFH-Beschluß III B 31/67).
Die Beschwerde ist nicht begründet.
Das Recht auf Akteneinsicht (§ 78 Abs. 1 FGO) wird grundsätzlich nur in der Weise gewährt, daß die Verfahrensbeteiligten die Akten bei der Geschäftsstelle des Gerichts einsehen können (BFH-Beschlüsse III B 31/67 und VII B 88/74). Ob den Beteiligten darüber hinaus auch in anderer Form Akteneinsicht gewährt werden kann, ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Während die Akten im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nach dem Ermessen des Vorsitzenden "dem bevollmächtigten Rechtsanwalt zur Mitnahme in seine Wohnung oder in seine Geschäftsräume übergeben werden" können (§ 100 Abs. 2 Satz 3 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -), fehlt es an einer entsprechenden Regelung in der Finanzgerichtsordnung. Wie sich aus der Entstehungsgeschichte des § 78 FGO ergibt (vgl. hierzu BFH-Beschluß III B 31/67), sollte einem Rechtsanwalt im finanzgerichtlichen Verfahren kein Sonderrecht auf Aktenüberlassung eingeräumt werden.
Der Umstand, daß in der Finanzgerichtsordnung - im Gegensatz zu § 100 Abs. 2 Satz 3 VwGO - keine ausdrückliche Regelung der Aktenherausgabe enthalten ist, wird in der Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beurteilt. Während der BFH (Beschlüsse III B 31/67 und VII B 88/74) bisher davon ausgegangen ist, daß das Gericht trotz Fehlens entsprechender Vorschriften nach seinem Ermessen den vertretungsberechtigten Personen die Akten zur Einsicht übersenden kann (ebenso auch FG Hamburg, Beschluß vom 7. November 1975 II 78/75, Entscheidungen der Finanzgerichte 1976 S. 241 - EFG 1976, 241 -; v. Wallis/List in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., Anm. 8 a zu § 78 FGO; Tipke/Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 9. Aufl., § 78 FGO Tz. 4), vertreten das FG Berlin (Beschluß vom 18. Mai 1976 V 79-81/74, EFG 1976, 616) sowie Gräber (Finanzgerichtsordnung, § 78 Anm. 4), Kühn/Kutter/Hofmann (Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., Anm. 2 zu § 78 FGO) und Ziemer/Birkholz (Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 78 Tz. 8) die Auffassung, daß die Akten im finanzgerichtlichen Verfahren überhaupt nicht herausgegeben werden dürfen.
Die Frage braucht hier nicht abschließend entschieden zu werden. Denn selbst dann, wenn man mit der bisherigen Rechtsprechung des BFH die Überlassung von Akten an den bevollmächtigten Rechtsanwalt für zulässig ansieht, besteht jedenfalls kein Anspruch hierauf. Die Versendung von Akten ist in diesem Fall vielmehr in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts (bzw. seines Vorsitzenden) gestellt. Bei der Entscheidung über einen entsprechenden Antrag sind die für und gegen die Aktenübersendung in Betracht kommenden Umstände gegeneinander abzuwägen. Das Gericht hat dabei das Interesse an einem geordneten gerichtlichen Geschäftsgang (Vermeidung von Aktenverlusten, Wahrung des Steuergeheimnisses - § 30 der Abgabenordnung - vor allem Dritten gegenüber) dem Interesse an einer sachgerechten Wahrnehmung des Vertretungsauftrages gegenüberzustellen. Im Streitfall bestehen keine übergeordneten Interessen der Beschwerdeführer zu 2. an einer Aktenübersendung. Daß die Beschwerdeführer zu 2. ihren Vertretungsauftrag wegen besonderer Umstände des Streitfalles ohne Aktenüberweisung nicht gerecht werden können, ist nicht vorgetragen worden. Die allgemeine Arbeitslage der Rechtsanwälte ist kein hinreichender Grund, im Streitfall die Aktenüberlassung verlangen zu können. Auch die von den Beschwerdeführern behauptete Verteuerung des Verfahrens, die sich als Folge der Akteneinsicht bei Gericht ergeben soll, kann für das Herausgabebegehren nicht als ausschlaggebend angesehen werden.
Fundstellen
Haufe-Index 72581 |
BStBl II 1978, 677 |
BFHE 1979, 1 |