Entscheidungsstichwort (Thema)
Aussetzung des Klageverfahrens wegen eines vor dem BFH anhängigen Musterverfahrens
Leitsatz (NV)
Die Aussetzung eines Klageverfahrens wegen eines vor dem BFH anhängigen Musterverfahrens ist nur dann gerechtfertigt, wenn das Musterverfahren und das Klageverfahren hinsichtlich der entscheidungserheblichen Streitfrage im Wesentlichen gleich gelagert sind. Die in dem BFH-Beschluss vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/91 (BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408) aufgestellten Grundsätze bieten nicht nur Maßstäbe, wann eine Verfahrensaussetzung geboten ist, sondern zeigen zugleich auch die Grenze für die Zulässigkeit einer solchen Verfahrensaussetzung auf.
Normenkette
EStG § 6 Abs. 1 Nr. 1 S. 2; FGO § 74
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) begehrt mit der vor dem Finanzgericht (FG) anhängigen Klage wegen Einkommensteuer 2002 eine Teilwertabschreibung auf den Firmenwert ihrer Apotheke. Der Firmenwert sei voraussichtlich dauerhaft gemindert (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes --EStG--), weil das Beitragssatzsicherungsgesetz ab 1. Januar 2003 zu Umsatz- und Ertragseinbußen führe.
Das FG setzte nach vorheriger Anhörung der Beteiligten das Verfahren gemäß § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) bis zum Abschluss des Revisionsverfahrens vor dem Bundesfinanzhof (BFH) I R 22/05 aus.
Mit der Beschwerde gegen den Aussetzungsbeschluss des FG macht die Klägerin geltend, der Sachverhalt im Streitfall sei nicht mit dem Sachverhalt des Revisionsverfahrens I R 22/05 vergleichbar, da in jenem Fall über eine Teilwertabschreibung auf ein Gebäude und nicht über eine Teilwertabschreibung auf den Firmenwert einer Apotheke zu befinden sei. Zudem basiere die Entscheidung der Vorinstanz (Urteil des FG Münster vom 14. Januar 2005 9 K 1564/03 K, G, Entscheidungen der Finanzgerichte 2005, 683) auf der Überlegung, dass entgegen dem Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 25. Februar 2000 IV C 2 -S 2171 b- 14/00 (BStBl I 2000, 372 Tz. 6) bei der Frage, ob eine voraussichtlich dauernde Wertminderung vorliege, nicht auf die halbe Restnutzungsdauer des Wirtschaftsgutes, sondern auf einen Zeitraum von maximal fünf Jahren abzustellen sei. Diese Frage sei im Streitfall nicht entscheidungserheblich, da der Teilwert auch nach Ablauf der halben Restnutzungsdauer geringer als der Buchwert sei.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) weist im Beschwerdeverfahren darauf hin, dass er bereits in seiner Stellungnahme an das FG die Auffassung vertreten habe, dass der Streitfall nicht mit dem anhängigen Revisionsverfahren I R 22/05 vergleichbar sei.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist begründet.
1. Nach § 74 FGO darf ein Klageverfahren grundsätzlich nur ausgesetzt werden, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist. Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor. Auch eine entsprechende Anwendung des § 74 FGO kommt nicht in Betracht.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH kommt die Aussetzung eines Klageverfahrens nicht schon deshalb in Betracht, weil in derselben Rechtsfrage ein Musterprozess vor dem BFH anhängig ist (BFH-Entscheidungen vom 8. Juni 1990 III R 41/90, BFHE 161, 1, BStBl II 1990, 944; vom 30. November 1992 X B 18/92, BFH/NV 1993, 732; a.A. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 74 Rz. 15; Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 74 FGO Tz. 21). Vielmehr ist nach der Grundsatzentscheidung des BFH vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/91 (BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408) die Aussetzung eines Klageverfahrens nach § 74 FGO nur geboten, wenn vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, den FG zahlreiche Parallelverfahren (Massenverfahren) vorliegen und keiner der Beteiligten des Klageverfahrens ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat. Diese Voraussetzungen bilden im Interesse eines möglichst wirksamen Rechtsschutzes der Steuerpflichtigen nach dem BFH-Beschluss vom 27. November 1992 III B 133/91 (BFHE 169, 498, BStBl II 1993, 240) zudem die Grenze für die Zulässigkeit einer Verfahrensaussetzung im Hinblick auf vor dem BVerfG anhängige Verfahren.
b) Selbst wenn man die Maßstäbe, die die Aussetzung eines FG-Verfahrens wegen eines vor dem BVerfG anhängigen Verfahrens auch auf Revisionsverfahren überträgt, ist im Streitfall keine Verfahrensaussetzung gerechtfertigt. Nach dem Beschluss in BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408 muss es sich bei den anhängigen Verfahren um "echte" Musterverfahren handeln. In dem Klageverfahren, das ausgesetzt werden soll, darf es nicht um einen anderen Sachverhalt als in dem Verfahren vor dem BFH gehen. Die Fälle müssen hinsichtlich der Streitfrage vielmehr im Wesentlichen gleich gelagert sein.
Daran fehlt es im Streitfall. Zwar ist sowohl im Streitfall als auch im Revisionsverfahren I R 22/05 die Frage der Zulässigkeit einer Teilwertabschreibung nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG zu klären. Im Verfahren I R 22/05 wird aber zu entscheiden sein, ob ohne Beachtung der Art des Wirtschaftsgutes, der sich daraus ergebenden Länge der Restnutzungsdauer und der Höhe der Wertminderung auf die Hälfte der Restnutzungsdauer abzustellen ist (so BMF-Schreiben in BStBl I 2000, 372 Tz. 6) oder ob --insbesondere bei Gebäuden, bei denen die Hälfte der Restnutzungsdauer erheblich länger als fünf Jahre sein kann-- bei Zeiträumen über fünf Jahren eine sachlich begründete Prognose über die Wertermittlung nicht möglich ist. Da --jedenfalls nach Auffassung des FG in dem dem Revisionsverfahren I R 22/05 zugrunde liegenden Streitfall-- bei dem Prognosezeitraum (fünf Jahre oder die Hälfte der Restnutzungsdauer des Gebäudes) entscheidend auf die Art des Wirtschaftsgutes abzustellen ist und es obendrein im Streitfall darauf bei der Beurteilung der Frage, ob eine voraussichtlich dauernde Wertminderung vorliegt, nicht ankommt, sind die beiden Fallgestaltungen nicht gleich gelagert.
Ferner ist für den Senat nicht ersichtlich, dass bei den FG bereits eine Vielzahl gleich gelagerter Fälle (Massenverfahren) wie der Streitfall anhängig ist. Jedenfalls fehlen dazu Feststellungen des FG. Auch aus diesem Grund kann der Aussetzungsbeschluss des FG keinen Bestand haben. Das Verfahren ist daher fortzuführen.
2. Eine Kostenentscheidung ist in diesem Verfahren nicht zu treffen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 4. August 1988 VIII B 83/87, BFHE 154, 15, BStBl II 1988, 947, und vom 20. Oktober 1987 VII B 82/87, BFH/NV 1988, 387).
Fundstellen
Haufe-Index 1498415 |
BFH/NV 2006, 1140 |