Leitsatz (amtlich)
Wird vom FG ein Schriftsatz, der nach der Beschlußfassung über das Urteil, aber vor dessen Verkündung oder Zustellung eingeht, erkennbar bei der Rechtsfindung nicht berücksichtigt, so liegt darin grundsätzlich eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, die auf eine Nichtzulassungsbeschwerde zur Zulassung der Revision führt.
Normenkette
FGO § 119
Tatbestand
Der Beschwerdeführer war im Streitjahr 1966 Rechtsreferendar. Er wandte im Streitjahr für seine Promotion 1 897,20 DM auf. Das FA lehnte es ab, diese Ausgaben beim Lohnsteuer-Jahresausgleich als abzugsfähig anzuerkennen. Die Klage blieb erfolglos. Das FG sah im Einklang mit der Rechtsprechung des BFH (insbesondere Urteil IV R 266/66 vom 16. März 1967, BFH 89, 511, BStBl III 1967, 723; VI R 88/66 vom 7. August 1967, BFH 90, 26, BStBl III 1967, 777, und VI R 63/67 vom 7. August 1967, BFH 90, 34, BStBl III 1967, 779) diese Ausgaben als nichtabzugsfähige Kosten der Lebensführung im Sinne von § 12 Nr. 1 EStG, nämlich als Kosten der Berufsausbildung an. Das ohne mündliche Verhandlung ergangene Urteil des FG, in dem die Revision ohne Rücksicht auf die Höhe des Streitwerts nicht zugelassen wurde, trägt das Datum des 17. Oktober 1969 und wurde dem Beschwerdeführer am 15. Januar 1970 zugestellt. Mit Schriftsatz vom 31. Oktober 1969 ergänzte der Beschwerdeführer sein bisheriges Vorbringen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht. Er führte u. a. an, die Promotion sei auch notwendig gewesen, damit er sich um Mitarbeit an wissenschaftlichen Werken habe bemühen können und stellte hierzu einen Beweisantrag. Das FG richtete am 3. November 1969 an den Beschwerdeführer folgendes Schreiben:
"Über die Klage wurde bereits in der Sitzung vom 17.10.1969 entschieden. Verzicht auf mündliche Verhandlung lag vor. Das Urteil wird demnächst zugestellt."
Gegen die Nichtzulassung der Revision legte der Beschwerdeführer Beschwerde ein. Zur Begründung machte er einen Verfahrensmangel geltend ($ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) und vertrat außerdem die Ansicht, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung ($ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).
Den Verfahrensmangel sieht der Beschwerdeführer darin, daß das FG bei seiner Entscheidung lediglich das Vorbringen berücksichtigt habe, das dem FG bis zum Tag der ohne mündliche Verhandlung ergangenen Entscheidung vom 17. Oktober 1969 vorgelegen habe. Es habe, wie aus dem Schreiben des FG hervorgehe, zu Unrecht seinen Schriftsatz vom 31. Oktober 1969 nicht berücksichtigt. Das habe aber geschehen müssen. Die Beschlußfassung des Gerichts sei bis zur Zustellung des Urteils ein Internum geblieben. Das Urteil werde existent erst mit seiner Verkündung, die bei einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch die Zustellung ersetzt werde. Bis zu diesem Zeitpunkt müsse das Gericht weiteres Vorbringen berücksichtigen.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet. Die angefochtene Entscheidung leidet an einem Verfahrensmangel und kann auf diesem Verfahrensmangel beruhen ($ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
Ein Verfahrensmangel ist auch die Verletzung des jedem Steuerpflichtigen gemäß Art. 103 Abs. 1 GG zustehenden Anspruchs auf rechtliches Gehör. Die Versagung des rechtlichen Gehörs gehört gemäß § 119 Nr. 3 FGO zu den unbedingten Revisionsgründen, begründet jedoch keine zulassungsfreie Revision. Wird die Versagung des rechtlichen Gehörs geltend gemacht, so muß, sofern nicht die Revision schon aus einem anderen Grund zulässig ist, die Nichtzulassungsbeschwerde erhoben werden. Wird die Versagung des rechtlichen Gehörs festgestellt, so kann im Hinblick darauf, daß es sich hierbei um einen unbedingten Revisionsgrund handelt, in jedem Fall angenommen werden, daß das Urteil auf diesem Verfahrensmangel beruht.
Das Grundrecht auf rechtliches Gehör fordert, daß gegen einen Prozeßbeteiligten keine Tatsachen und Beweisergebnisse verwertet werden, zu denen er sich nicht hat äußern können (Entscheidung des BVerfG 1 BvR 109/58 vom 14. April 1959, StRK, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 103 Abs. 1 Rechtsspruch 29). Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß ein Gericht das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis genommen hat, da es nach Art. 103 Abs. 1 GG nicht verpflichtet ist, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen seiner Entscheidung ausdrücklich zu behandeln (Entscheidung des BGH VI ZR 155/50 vom 27. September 1951, BGHZ 3, 162 [175]). Nur dann, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, daß das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen, und zwar grundsätzlich das gesamte Vorbringen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, nicht nachgekommen ist, ist der Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (ebenso v. Wallis-List in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 119 Anm. 4).
Ein solcher Sachverhalt ist im Streitfall gegeben. Das FG-Urteil trägt das Datum des 17. Oktober 1969, ist also an diesem Tag vom FG beschlossen worden. Mit diesem Zeitpunkt ist das Urteil aber noch nicht "ergangen". Es bedarf vielmehr noch der Verkündung und, wenn eine mündliche Verhandlung nicht stattgefunden hat, oder in der mündlichen Verhandlung ein Urteil nicht verkündet worden ist, der Zustellung ($ 104 FGO). "Ergangen" ist ein Urteil erst, wenn es entweder verkündet oder zugestellt worden ist. Das hat der BFH zu § 184 Abs. 2 Nr. 2 FGO ausdrücklich entschieden (Urteil VI R 80/66 vom 15. Juli 1966, BFH 86, 543, BStBl III 1966, 595). Es handelt sich aber um einen Grundsatz von allgemeiner Bedeutung. Erst zu diesem Zeitpunkt ist das Urteil wirksam geworden, während es vorher nur ein "Internum" des Gerichts war, das das Gericht noch jederzeit ändern kann (vgl. Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 4. Aufl., Rdnr. 17 zu § 116). Solange das Urteil nach diesen Grundsätzen noch nicht wirksam geworden ist, ist das Gericht, wenn es seiner Pflicht zur Gewährung des rechtlichen Gehörs genügen will, verpflichtet, Vorbringen der Parteien entgegenzunehmen und in seine Erwägungen einzubeziehen, wenn es auch, wie bereits ausgeführt wurde, nicht verpflichtet ist, zu dem gesamten Vorbringen in den Urteilsgründen Stellung zu nehmen. Das gilt jedenfalls für das Verfahren im ersten Rechtszug vor dem FG, in dem es - anders als im Revisionsverfahren (vgl. § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO) - eine bestimmte Frist zur Begründung der Klage nicht gibt.
Aus dem Schreiben des FG vom 3. November 1969 ist zu entnehmen, daß das FG dieser Verpflichtung hinsichtlich des Schriftsatzes des Beschwerdeführers vom 31. Oktober 1969 nicht nachgekommen ist. Es wurde im Schreiben vom 3. November 1969 darauf hingewiesen, daß über die Klage bereits in der Sitzung vom 17. Oktober 1969 entschieden worden sei. Diesem Hinweis ist zu entnehmen, daß das FG der Ansicht war, damit sei die Sache zum Abschluß gekommen, und der Schriftsatz vom 31. Oktober 1969 sei als nachträgliches - verspätetes - Vorbringen nicht mehr zu berücksichtigen. Das ist nach den vorstehenden Ausführungen aber unzutreffend. Solange das Urteil nicht zugestellt war, war die Sache nicht endgültig erledigt. Bis zur Zustellung bzw. der Absendung zur Zustellung konnte das FG nicht nur von sich aus das beschlossene Urteil ändern; es war auch verpflichtet, etwaiges nach der Beschlußfassung eingegangenes weiteres Vorbringen zu berücksichtigen, soweit es nicht offensichtlich unerheblich war. Das FG war also auch verpflichtet, den Schriftsatz des Beschwerdeführers vom 31. Oktober 1969 zu berücksichtigen und in seine Erwägungen einzubeziehen. Es handelte sich nicht etwa um eine Wiederholung oder Zusammenfassung früheren Vorbringens oder um Darlegungen, die aus anderen Gründen offensichtlich unerheblich waren, sondern um neues tatsächliches Vorbringen mit einem Beweisantrag. Ob das Vorbringen geeignet war, das FG zu einer Änderung seiner bisherigen Rechtsauffassung zu bringen oder nicht, ist unerheblich. Jedenfalls durfte es nicht zu erkennen geben, daß es nicht gewillt war, sich mit diesem Vorbringen auseinanderzusetzen. Da es dies getan hat, liegt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs des Beschwerdeführers vor, die zur Zulassung der Revision führt.
Fundstellen
Haufe-Index 69182 |
BStBl II 1971, 25 |
BFHE 1971, 351 |