Leitsatz (amtlich)
Eine Verpflichtungsklage, mit der die Verurteilung der Behörde zum Erlaß eines von ihr abgelehnten Verwaltungsaktes der in § 229 AO bzw. § 348 AO 1977 bezeichneten Art begehrt wird, ist ohne Vorverfahren zulässig, wenn die Behörde innerhalb eines Monats nach Zustellung der Klageschrift zustimmt.
Orientierungssatz
1. Der Große Senat entscheidet in seiner Stammbesetzung (§ 11 Abs. 2 Satz 1 FGO), welche Senate berechtigt sind, nach § 11 Abs. 2 Satz 2 FGO einen Richter zu den Sitzungen des Großen Senats zu entsenden.
2. Da der vorlegende Senat den Großen Senat angerufen hatte, ohne zuvor bei den Senaten mit anderer Rechtsauffassung angefragt zu haben, ob sie der beabsichtigten Abweichung zustimmen, hat der Große Senat in seiner Stammbesetzung beschlossen, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, diese Stellungnahmen einzuholen.
3. In seiner erweiterten Besetzung entscheidet der Große Senat über die Zulässigkeit der Anrufung (vgl. BFH-Beschluß vom 5.3.1979 GrS 5/77).
4. Eine Verpflichtungsklage ohne Vorverfahren ist nicht zulässig, wenn der Erhebung der Verpflichtungsklage die Beschwerde vorausgehen muß, wie es der Fall ist, wenn die Behörde den Erlaß eines mit der Beschwerde anfechtbaren Verwaltungsakts abgelehnt hat oder gegenüber dem Antrag auf Erlaß eines Verwaltungsakts überhaupt untätig geblieben ist (§ 349 Abs. 1, Abs. 2 AO 1977).
5. Die entsprechende Anwendung von § 45 Abs. 1 FGO auf eine Sprung-Verpflichtungsklage bedeutet gleichzeitig, daß auf eine solche Klage auch die Vorschrift des Art. 3 § 2 VGFGEntlG entsprechend anwendbar ist.
Normenkette
VGFGEntlG Art. 3 § 2; FGO § 45 Abs. 1 S. 1; AO § 229; FGO § 11 Abs. 3; AO 1977 § 348; FGO § 45 Abs. 1 S. 2, § 11 Abs. 2 Sätze 1-2; AO 1977 § 349 Abs. 1 a.F., Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der V.Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat mit Beschluß vom 21.Juli 1983 V R 3/77 (BFHE 139, 17, BStBl II 1983, 742) den Großen Senat gemäß § 11 Abs.3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Entscheidung folgender Rechtsfragen angerufen:
1. Kann die Klage, mit welcher der Kläger die Aufhebung eines ablehnenden Verwaltungsaktes der in § 229 der Reichsabgabenordnung (AO) bzw. § 348 der Abgabenordnung (AO 1977) bezeichneten Art und die Verurteilung zum Erlaß des entsprechenden Verwaltungsaktes begehrt, mit Zustimmung des Finanzamts (FA) gemäß § 45 Abs.1 Satz 1 FGO als Sprungklage erhoben werden?
2. Falls die Anwendbarkeit des § 45 Abs.1 Satz 1 FGO verneint wird: Ist § 45 Abs.1 Satz 2 FGO auf eine beim Finanzgericht (FG) eingelegte Verpflichtungsklage anwendbar?
In dem beim V.Senat anhängigen Revisionsverfahren hat die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) beantragt, eine negative Umsatzsteuerschuld in Höhe eines Vorsteuerbetrages festzusetzen, der ihr beim Erwerb eines anschließend in eine KG eingebrachten Betriebs in Rechnung gestellt wurde. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das FA) hat die Veranlagung zur Umsatzsteuer abgelehnt, weil die Klägerin nicht Unternehmerin geworden sei. Hiergegen hat die Klägerin mit Zustimmung des FA unmittelbar Klage zum FG erhoben. Das FG hat darin eine als Sprungklage zulässige Anfechtungsklage gesehen, diese aber aus sachlichen Gründen abgewiesen.
Der vorlegende Senat ist demgegenüber der Auffassung, daß es sich um eine Verpflichtungsklage auf Durchführung einer abgelehnten Umsatzsteuerveranlagung handele. Er möchte annehmen, daß auch eine solche Klage als Sprungklage erhoben werden kann und deswegen in der Sache entscheiden. Er sieht sich hieran durch Entscheidungen des I., II., III., IV. und VI.Senats des BFH gehindert, die den Standpunkt vertreten, eine Klage auf Verpflichtung des FA zum Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsaktes könne nicht in dieser Weise erhoben werden (Urteile vom 21.März 1979 I R 156/75, nicht veröffentlicht --NV--; vom 23.September 1981 II R 181/79, NV; vom 28.April 1972 III R 119/70, BFHE 106, 116, BStBl II 1972, 711; vom 19.Mai 1972 III R 138/68, BFHE 106, 8, BStBl II 1972, 703; vom 27.Januar 1977 IV R 173/75, BFHE 122, 5, BStBl II 1977, 510; Beschluß vom 21.Januar 1983 VI B 98/82, NV).
Sollte die Klage nicht statthaft sein, will der V.Senat sie als unzulässig behandeln. Er sieht hierin eine Abweichung von dem angeführten Urteil des IV.Senats in BFHE 122, 5, BStBl II 1977, 510, das in einem solchen Fall § 45 Abs.1 Satz 2 FGO angewendet und die Klage als Einspruch behandelt hat.
Die Beteiligten haben sich in der Rechtsfrage zu 1. der Auffassung des vorlegenden Senats angeschlossen.
Entscheidungsgründe
II. 1. Der Große Senat entscheidet in seiner Besetzung gemäß § 11 Abs.2 Satz 1 FGO (Stammbesetzung) darüber, welche Senate berechtigt sind, nach § 11 Abs.2 Satz 2 FGO einen Richter zu den Sitzungen des Großen Senats zu entsenden. Beteiligte Senate im Sinne dieser Vorschrift sind außer dem vorlegenden V.Senat der I., II., III., IV. und VI.Senat, von deren Rechtsprechung der V.Senat abweichen würde. Eine Abweichung von der Rechtsprechung des VII.Senats liegt nicht vor; die Ausführungen zur Rechtsfrage 1. in seinem Urteil vom 26.Oktober 1976 VII R 57/73 (BFHE 120, 151, BStBl II 1977, 36) waren für die Entscheidung nicht erheblich.
Der vorlegende Senat hat den Großen Senat angerufen, ohne zuvor bei den Senaten mit anderer Rechtsauffassung angefragt zu haben, ob sie der beabsichtigten Abweichung zustimmen. Daraufhin hat der Große Senat in seiner Stammbesetzung beschlossen, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, diese Stellungnahmen einzuholen. Der I. und der III.Senat haben der Auffassung des V.Senats nicht zugestimmt; sie können jedenfalls schon aus diesem Grund einen Richter in die Sitzung des Großen Senats entsenden. Der II., IV. und VI.Senat haben nicht vorbehaltlos zugestimmt; sie sind deshalb weiterhin entsendungsbefugt. Alle Senate haben von ihrem Entsendungsrecht Gebrauch gemacht.
2. In seiner erweiterten Besetzung entscheidet der Große Senat über die Zulässigkeit der Anrufung (Beschluß vom 5.März 1979 GrS 5/77, BFHE 127, 140, BStBl II 1979, 570). Er bejaht die Zulässigkeit.
Die vorgelegte Rechtsfrage ist entscheidungserheblich. Die Klägerin erstrebt die Verurteilung des FA zum Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsaktes, nämlich eines Umsatzsteuerbescheids mit bestimmtem Inhalt. Der vorlegende Senat konnte darin eine Verpflichtungsklage i.S. von § 40 Abs.1 FGO sehen; seine Entscheidung hängt davon ab, ob die Klage auch ohne Einhaltung eines außergerichtlichen Vorverfahrens erhoben werden konnte.
3. Der Große Senat entscheidet ohne mündliche Verhandlung gemäß Art.1 Nr.2 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG).
III. Der Große Senat bejaht die ihm vorgelegte Rechtsfrage zu 1.
1. Nach § 44 Abs.1 FGO ist die Klage zum FG nur zulässig, wenn der Kläger zuvor von einem gegebenen außergerichtlichen Rechtsbehelf Gebrauch gemacht hat und dieses Vorverfahren ganz oder teilweise erfolglos geblieben ist. Demgegenüber bestimmt § 45 Abs.1 Satz 1 FGO, daß die "Anfechtungsklage" gegen einen Verwaltungsakt der in § 348 AO 1977 (§ 229 AO) bezeichneten Art --das sind die außergerichtlich mit dem Einspruch anfechtbaren Verwaltungsakte-- ohne Vorverfahren zulässig ist, sofern die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, dem innerhalb eines Monats nach Zustellung der Klageschrift zustimmt.
Die Möglichkeit, Sprungklage zu erheben, besteht nach dem Gesetzeswortlaut nur hinsichtlich einer Anfechtungsklage, die sich auf Aufhebung oder Änderung eines ergangenen Verwaltungsaktes richtet, nicht aber hinsichtlich der Verpflichtungsklage, mit der die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsaktes erstrebt wird (§ 40 Abs.1 FGO). Diese Regelung erweist sich als lückenhaft, wenn der Erlaß eines mit dem Einspruch anfechtbaren Verwaltungsaktes abgelehnt wurde.
2. Das der Klageerhebung vorgeschaltete außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren bedeutet für den Steuerpflichtigen zusätzlichen Rechtsschutz, für die Finanzbehörde die Möglichkeit der Selbstkontrolle und für die Steuergerichte eine Entlastung von vermeidbaren Klagen. § 45 Abs.1 Satz 1 FGO beruht auf der Überlegung, daß sich diese Zwecke nicht erreichen lassen, wenn die den Verwaltungsakt erlassende Behörde bei der Ermittlung und Beurteilung des Sachverhalts so sorgfältig verfahren ist, daß sich nach dem übereinstimmenden Urteil der Beteiligten an diesem Ergebnis im Vorverfahren nichts ändern wird. Verzichten die Beteiligten deshalb übereinstimmend auf die Einhaltung des Vorverfahrens, soll ihrem Interesse an einer Verfahrensbeschleunigung Rechnung getragen werden und die unmittelbare Klageerhebung zulässig sein. Sofern die Beurteilung der Beteiligten nicht zutrifft und weitere Tatsachenfeststellungen erforderlich sind, kann das FG die Klage nach Art.3 § 2 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG) zur Durchführung des Vorverfahrens an die Finanzbehörde abgeben.
3. Diese Erwägungen sind auch bei der Erhebung einer Verpflichtungsklage zu berücksichtigen. Dies gilt allerdings nicht, wenn der Erhebung der Verpflichtungsklage die Beschwerde vorausgehen muß, wie es der Fall ist, wenn die Behörde den Erlaß eines mit der Beschwerde anfechtbaren Verwaltungsaktes abgelehnt hat oder gegenüber dem Antrag auf Erlaß eines Verwaltungsaktes überhaupt untätig geblieben ist (§ 349 Abs.1, Abs.2 AO 1977). Da § 45 Abs.1 Satz 1 FGO im Hinblick auf die zusätzliche Beteiligung der Beschwerdebehörde im Vorverfahren die unmittelbare Anfechtungsklage gegenüber einem beschwerdefähigen Verwaltungsakt nicht vorsieht, kann auch die Verpflichtungsklage nicht ohne Einhaltung des Beschwerdeverfahrens erhoben werden.
Anderes gilt jedoch, wenn Verpflichtungsklage auf Erlaß eines abgelehnten, mit dem Einspruch anfechtbaren Bescheids erhoben wird. Wie die in § 348 Abs.1 AO 1977 genannten Verwaltungsakte mit dem Einspruch anfechtbar sind, gewährt § 348 Abs.2 AO 1977 den Einspruch auch dann, wenn ein Antrag auf Erlaß, Aufhebung oder Änderung eines derartigen Bescheids abgelehnt wurde. Dieses Verfahren unterscheidet sich in seinem Ablauf und seinen Aufgaben nicht von einem Einspruch, mit dem die Aufhebung oder Änderung eines angefochtenen Verwaltungsaktes erreicht werden soll. In ihm hat die Behörde, die den ablehnenden Verwaltungsakt erlassen hat, gemäß § 367 Abs.2 AO 1977 noch einmal zu prüfen, ob die Ablehnung zu Recht erfolgt ist, weil der begehrte Verwaltungsakt nicht erlassen werden kann; dies geschieht wiederum zur Sicherung des Rechtsschutzes des Steuerpflichtigen, zur Selbstkontrolle der Verwaltung und zur Entlastung der Gerichte von vermeidbaren Klagen. Auch hierbei können die Beteiligten zu der Auffassung kommen, daß die Behörde den entscheidungserheblichen Sachverhalt vor Erlaß des ablehnenden Verwaltungsaktes umfassend geklärt und gewürdigt hat, mit einer abweichenden Entscheidung nicht zu rechnen ist und deshalb das Einspruchsverfahren entbehrlich erscheint. Wenn § 45 Abs.1 Satz 1 FGO in dieser Situation dem Bedürfnis der Beteiligten nach einer Verfahrensbeschleunigung Rechnung trägt und die unmittelbare Klageerhebung zuläßt, so trifft diese gesetzliche Wertung auch dann zu, wenn als Klageart nicht die Anfechtungs-, sondern die Verpflichtungsklage in Betracht kommt; eine unterschiedliche Behandlung beider Fälle läßt sich angesichts der übereinstimmenden Interessenlage sachlich nicht begründen.
Der Gesetzestext ist danach lückenhaft und ergänzungsbedürftig. Zur Ausfüllung der Lücke muß die in § 45 Abs.1 FGO getroffene Regelung auch auf die Verpflichtungsklage erstreckt werden, mit der der Erlaß, die Aufhebung oder Änderung eines Verwaltungsaktes i.S. von § 348 Abs.1 AO 1977 erstrebt wird, nachdem die Finanzbehörde dieses Verlangen abgelehnt hat. Dies bedeutet gleichzeitig, daß auf eine solche Klage auch die Vorschrift des Art.3 § 2 VGFGEntlG entsprechend anwendbar ist.
Da die Verpflichtungsklage in der FGO nur unvollkommen geregelt ist, hat sich die entsprechende Anwendung von Vorschriften für die Anfechtungsklage auch sonst als notwendig erwiesen. So ist der Übergang von der Verpflichtungsklage zur sog. Fortsetzungsfeststellungsklage und die Verbindung der Verpflichtungsklage mit der Leistungsklage unter entsprechender Anwendung des § 100 Abs.1 Satz 4 und Abs.3 FGO ermöglicht worden, die dies nur für eine Anfechtungsklage vorsehen (BFH-Urteile vom 23.März 1976 VII R 106/73, BFHE 118, 503, BStBl II 1976, 459; vom 29.Oktober 1981 I R 89/80, BFHE 134, 245, BStBl II 1982, 150, 154).
4. Die Erstreckung des § 45 Abs.1 FGO auf eine Sprung-Verpflichtungsklage entspricht der Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Vor Inkrafttreten der FGO erlaubte § 261 AO dem Steuerpflichtigen, gegen nach § 229 Abs.1 AO einspruchsfähige Bescheide mit Einwilligung des Vorstehers des FA Sprungberufung zum FG einzulegen; dies galt auch, wenn damit der Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsaktes erreicht werden sollte (BFH-Urteil vom 12.März 1970 IV 7/65, BFHE 99, 172, BStBl II 1970, 625). Wie sich aus der Begründung zu § 43 (jetzt § 45) des Entwurfs einer FGO (BTDrucks IV/1446 S.47) ergibt, sollte sich daran nichts ändern.
Für die Gleichbehandlung beider Klagearten im Rahmen der Sprungklage spricht schließlich ein praktisches Bedürfnis, da sonst jeweils eine Abgrenzung zwischen den Klagearten vorgenommen werden müßte und der Steuerpflichtige Gefahr liefe, durch eine Fehlbeurteilung der Klagemöglichkeit den Rechtsschutz einzubüßen.
IV. Der Große Senat entscheidet demnach die vorgelegte Rechtsfrage wie folgt:
Eine Verpflichtungsklage, mit der die Verurteilung der Behörde zum Erlaß eines von ihr abgelehnten Verwaltungsaktes der in § 229 AO bzw. § 348 AO 1977 bezeichneten Art begehrt wird, ist ohne Vorverfahren zulässig, wenn die Behörde innerhalb eines Monats nach Zustellung der Klageschrift zustimmt.
Fundstellen
Haufe-Index 60753 |
BStBl II 1985, 303 |
BFHE 143, 112 |
BFHE 1985, 112 |
DB 1985, 1168-1168 (LT) |
DStR 1986, 796-796 (ST) |
HFR 1985, 273-274 (LT) |