Entscheidungsstichwort (Thema)
Richterablehnung
Leitsatz (NV)
1. Wird der Einzelrichter, dem gemäß §6 FGO der Rechtsstreit zur Entscheidung übertragen worden ist, als befangen abgelehnt, so ist, sofern nicht in Fällen offenbarer Unzulässigkeit oder rechtsmißbräuchlicher Ablehnung der abgelehnte Richter selbst über das Ablehnungsgesuch befinden darf, nicht etwa der geschäftsplanmäßige Vertreter des Einzelrichters (gleichfalls als Einzelrichter), sondern der FG-Senat, dem der abgelehnte Richter angehört, als Kollegialgericht für die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch zuständig.
2. Hat nicht der Senat, sondern ein anderer Einzelrichter über die Richterablehnung entschieden (1.), ist der Antragsteller seinem gesetzlichen Richter entzogen worden; das Beschwerdegericht hat die Vorentscheidung auch ohne dahingehende Rüge wegen wesentlichem Verfahrensmangel aufzuheben. Bei einer solchen Sachlage erscheint es angemessen, daß das Beschwerdegericht, statt selbst in der Sache zu entscheiden, zuvörderst die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch durch den zuständigen erstinstanzlichen gesetzlichen Richter herbeiführt.
Normenkette
GG Art. 97 Abs. 1, Art. 101 Abs. 1 S. 2; FGO § 6 Abs. 1, § 51 Abs. 1 S. 1, § 119; ZPO § 44 Abs. 3, § 45 Abs. 1
Tatbestand
Der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin, Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) lehnte nach Aufruf der Sache und Eröffnung der mündlichen Verhandlung vor dem Einzelrichter über die Klage seiner Mandantin gegen einen sog. Ergänzungsbescheid des Beklagten, Antragsgegners und Beschwerdegegners (Finanzamt -- FA --) nach §278 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) den Einzelrichter E wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Zur Begründung führte er aus, von der Geschäftsstelle des Finanzgerichts (FG) sei am Vortag in seinem Büro angerufen und gefragt worden, wann mit der Rücknahme der Klage zu rechnen sei. Auf Rückruf sei ihm persönlich von der Geschäftsstelle mitgeteilt worden, E habe wiederum einen Tag zuvor mit jemandem aus der Kanzlei gesprochen, der eine solche Klagerücknahme angekündigt habe. Ein solcher Anruf mit einer solchen Mitteilung sei indessen nicht erfolgt. Schon die Aufforderung des Gerichts, eine Klage zurückzunehmen, deren Rücknahme nicht beabsichtigt gewesen sei, lasse Zweifel an der Unabhängigkeit des Richters aufkommen. Hinzu komme, daß Richter E nach seiner eigenen Einlassung in der mündlichen Verhandlung nicht mehr genau wisse, mit wem er gesprochen habe. E habe sich somit über die Person seines Gesprächspartners nicht die erforderliche Gewißheit verschafft; auch sei eine Telefonnotiz über dieses Gespräch nicht gefertigt worden. Dies erscheine vor dem Hintergrund einer angekündigten Klagerücknahme nicht angemessen.
Nach der Stellung des Ablehnungsantrags hat Richter E die Sache vertagt. In seiner dienstlichen Äußerung zu der Richterablehnung erklärte sich E für nicht befangen. In einem dazu beigegebenen Vermerk führte er aus, er sei am ... 1996 -- mithin drei Tage vor der mündlichen Verhandlung -- in der Sache angerufen und wegen einer Terminsüberschneidung um Terminsverlegung gebeten worden. Er habe die Sache mit dem Anrufenden rechtlich im Hinblick auf das vorrangige Eilverfahren erörtert. Der Anrufende -- seiner Meinung nach der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin -- habe dann erklärt, er werde mit der Mandantin über eine Rücknahme der Klage reden und spätestens am nächsten Tag zum weiteren Fortgang des Verfahrens Stellung nehmen. Er -- Richter E -- habe die Akte daraufhin der Geschäftsstelle mit der Bitte übergeben, den Fortgang zu überwachen. Einen Aktenvermerk über das Telefongespräch habe er zunächst nicht gefertigt, weil der Termin unmittelbar bevorgestanden habe und sich die Sache so oder so klären werde.
Das FG hat das Ablehnungsgesuch durch Beschluß des Richters B -- ein anderes Mitglied des Senats -- als Einzelrichter als unbegründet zurückgewiesen. Für ein unsachliches Verhalten des Richters E gebe es keine Anhaltspunkte. E habe in einem Telefongespräch, das er mit einem der Prozeßbevollmächtigten der Klägerin zu führen glaubte, über die Erfolgsaussichten der Klage gesprochen, sich dabei eine Meinung über den Verfahrensausgang gebildet und den Hinweis auf seine Rechtsmeinung mit der Empfehlung verbunden, eine Klagerücknahme sei zu erwägen. Dies allein sei kein Grund, der geeignet sei, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Daher sei es auch nicht zu beanstanden, wenn sich nach einem solchen Gespräch, in dem eine Klagerücknahme in Aussicht gestellt worden sei, der vom Richter beauftragte Geschäftsstellenverwalter nach dem Fortgang des Verfahrens erkundige.
Selbst wenn Richter E nach dem Vortrag der Klägerin das Telefongespräch weder mit einem der Prozeßbevollmächtigten der Klägerin noch mit einem sonstigen Angehörigen dieser Kanzlei geführt haben sollte, was Richter E nicht ausschließen könne, sei die Ablehnung unbegründet. Denn in einem solchen Fall gehe der Anruf der Geschäftsstelle auf einen Irrtum des Richters zurück, für den eine Verwechslung ursächlich sein könne. Ein solcher Irrtum allein lasse auf keine Voreingenommenheit schließen. Das gelte auch für die Tatsache, daß sich Richter E über die Identität seines Gesprächspartners keine Gewißheit verschafft und keinen Aktenvermerk angefertigt habe.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Klägerin. Sie ist der Ansicht, bei vernünftiger objektiver Betrachtung sei nach den Umständen des Falles doch Voreingenommenheit des Richters E zu befürchten. Der Anruf des Geschäftsstellenleiters in der Kanzlei des Prozeßbevollmächtigten könne nur so verstanden werden, daß Richter E sich schon eine abschließende Meinung über den Ausgang des Verfahrens gebildet habe und daher über seinen Geschäftsstellenleiter die Aufforderung habe aussprechen lassen, die Klage zurückzunehmen. Auch wenn dies im Nachhinein durch entsprechende Erklärungen und auch durch einen möglichen Irrtum des Richters erläutert werden könne, so verbleibe doch jedenfalls im Zeitpunkt des Anrufs das Odium einer bereits endgültig gefaßten Meinung des Richters E, das nicht mehr auszuräumen sei. Im übrigen sei auf die Sichtweise und den Standpunkt des betroffenen Beteiligten und nicht auf den des abgelehnten Richters abzustellen. Anders wäre nur dann zu entscheiden, wenn tatsächlich zuvor ein Gespräch zwischen dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin und dem Richter E stattgefunden hätte, was nachweislich aber nicht der Fall gewesen sei. Mithin sei der Beschwerde stattzugeben.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur erneuten Entscheidung über das Richterablehnungsgesuch.
Nach §51 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i. V. m. §45 Abs. 1 erster Halbsatz der Zivilprozeßordnung (ZPO) entscheidet über ein Richterablehnungsgesuch grundsätzlich das Gericht, dem der Abgelehnte angehört, und zwar regelmäßig nach dienstlicher Äußerung des abgelehnten Richters über die geltend gemachten Ablehnungsgründe (§44 Abs. 3 ZPO) durch Beschluß (vgl. §46 Abs. 2 ZPO) und ohne Mitwirkung des abgelehnten Richters (§45 Abs. 1 ZPO). Wird ein Richter eines FG-Senats abgelehnt, so ist für die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch zunächst der Senat des FG zuständig, dem der abgelehnte Richter angehört (vgl. Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 29. Juli 1988 IX B 15/88, BFH/NV 1989, 238). Würde dieser Senat durch das Ausscheiden des oder der abgelehnten Richter beschlußunfähig, so träten an deren Stelle deren geschäftsplanmäßige Vertreter (aus anderen Senaten). Erst wenn das gesamte FG als das "Gericht" i. S. des §45 Abs. 1 erster Halbsatz ZPO durch Ausscheiden der abgelehnten Richter beschlußunfähig würde -- ein wegen der Größe der FG wohl nur theoretischer Fall --, wäre nach §45 Abs. 1 zweiter Halbsatz ZPO der BFH als das im Rechtszug "zunächst höhere Gericht" zur Entscheidung über das Ablehnungsgesuch berufen (vgl. BFH-Beschluß vom 24. Mai 1993 V B 120/92, BFH/NV 1994, 379; Stöcker in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, §51 FGO Rz. 66).
Wird, wie im Streitfall, der Einzelrichter, dem gemäß §6 FGO der Rechtsstreit zur Entscheidung übertragen worden ist, als befangen abgelehnt, so ist, sofern nicht in Fällen offenbarer Unzulässigkeit oder rechtsmißbräuchlicher Ablehnung der Einzelrichter selbst über das Ablehnungsgesuch befinden darf (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, §51 Rz. 55), nach ständiger Rechtsprechung nicht etwa der geschäftsplanmäßige Vertreter des abgelehnten Einzelrichters (gleichfalls als Einzelrichter), sondern wiederum derjenige Senat als Kollegialgericht, dem der abgelehnte Richter angehört, für die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch zuständig (BFH-Beschluß vom 26. Juli 1996 VI B 15/96, BFH/NV 1997, 130). Dies wird damit begründet, daß die Übertragung des Rechtsstreits zur Entscheidung an den Einzelrichter nichts an der Mitgliedschaft dieses Richters im zuständigen Senat ändert (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 55. Aufl. 1997, §45 Rz. 3, und Zöller, Zivilprozeßordnung, 20. Aufl. 1997, §45 Rz. 2, jeweils m. w. N. für den dem §6 FGO entsprechenden Fall des §348 ZPO).
Der beschließende Senat folgt im Ergebnis dieser Auffassung. Sie steht seines Erachtens nicht in Widerspruch zu §6 Abs. 1 FGO, wonach sich die Übertragung des Rechtsstreits zur Entscheidung an ein Mitglied des Senats als Einzelrichter zwar auch auf alle Neben- und Folgeentscheidungen sowie unselbständige Nebenverfahren erstreckt, nicht jedoch auch auf solche selbständigen Nebenverfahren (z. B. Aussetzung der Vollziehung, oder einstweilige Anordnung) oder solche selbständigen Zwischenverfahren wie eine Richterablehnung (vgl. dazu BFH-Beschluß vom 30. November 1981 GrS 1/80, BFHE 134, 525, BStBl II 1982, 217, 220, 221), die im Regelfall im Zeitpunkt der Entscheidung über die Zuweisung der Sache an den Einzelrichter nicht vorhersehbar oder absehbar sind (vgl. Gräber/Koch, a. a. O., §6 Rz. 16). Darüber hinaus gebietet es die überragende Bedeutung des prozessualen Grundrechts der Gewährleistung des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes -- GG --) i. V. m. der Sicherung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Richters (Art. 97 Abs. 1 GG), daß eher das Kollegialgericht in seiner Gesamtheit statt eines einzelnen Mitglieds aus seiner Mitte über die Ablehnung eines dem Kollegium angehörigen Richters entscheidet.
Da im Streitfall nicht der FG-Senat, sondern der dem Senat angehörige Richter B als Einzelrichter -- wohl als geschäftsplanmäßiger Vertreter des abgelehnten Richters E -- über das Richterablehnungsgesuch der Klägerin entschieden hat, ist die Entscheidung nicht durch den in §45 Abs. 1 ZPO bestimmten gesetzlichen Richter getroffen worden. Da die Klägerin mithin ihrem gesetzlichen Richter entzogen worden ist (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), ist die Vorentscheidung wegen wesentlichem Verfahrensmangel aufzuheben. Dies ist auch ohne entsprechende Rüge der Klägerin möglich, da der BFH als Beschwerdegericht nicht den Beschränkungen des Revisionsrechts unterliegt (vgl. Senatsbeschluß vom 21. August 1990 VII B 34/90, BFH/NV 1991, 466).
Der Senat sieht davon ab, in der Sache selbst zu entscheiden, sondern verweist sie vielmehr zur erneuten Entscheidung an das FG -- durch den zuständigen Senat -- zurück. Zwar wäre eine Entscheidung in der Sache durch den BFH möglich, weil der BFH als zur Ermittlung des Sachverhalts und dessen Würdigung befugtes Beschwerdegericht grundsätzlich auch dann in der Sache selbst entscheiden darf, wenn die Vorentscheidung an einem wesentlichen Verfahrensmangel i. S. des §119 FGO -- hier die nicht ordnungsgemäße Besetzung des FG bei der Entscheidung über das Befangenheitsgesuch -- leidet (vgl. BFH-Beschluß vom 14. Dezember 1992 X B 69/92, BFH/NV 1994, 34, m. w. N.). Eine Entscheidung in der Sache selbst hat der Senat insbesondere in den Fällen getroffen, in denen bei der Vorentscheidung ein abgelehnter und damit kraft Gesetzes ausgeschlossener Richter unzulässigerweise mitgewirkt hat (vgl. z. B. Senatsbeschluß vom 15. Oktober 1996 VII B 272/95, BFH/NV 1997, 357). Im Streitfall liegt die Sache insofern anders und ist der Verfahrensverstoß insofern schwerwiegender, als hier nicht einmal der gesetzlich vorgeschriebene Spruchkörper als Kollegium, sondern, was nach dem Gesetz überhaupt nicht vorgesehen ist, ein einzelner Richter dieses Kollegiums über die Ablehnung entschieden hat. Bei dieser Sachlage erscheint es angemessen, zuvörderst die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch durch den zuständigen erstinstanzlichen gesetzlichen Richter herbeizuführen.
Für die zu treffende Entscheidung weist der Senat -- ohne Bindungswirkung -- darauf hin, daß auch der Inhalt der dienstlichen Äußerung des abgelehnten Richters für die Beurteilung der Frage, ob bei objektiver und vernünftiger Betrachtung der Beteiligte von seinem Standpunkt davon ausgehen durfte, daß der betreffende Richter unsachlich oder willkürlich entscheiden werde, -- in positiver wie auch negativer Hinsicht -- Berücksichtigung finden kann (vgl. etwa BFH-Beschluß vom 22. Mai 1991 IV B 48/90, BFH/NV 1992, 395).
Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren hat das FG zu treffen, denn erwiese sich die Beschwerde letztlich als erfolgreich, gehörten die entsprechenden Kosten der erfolgreichen Beschwerde im Richterablehnungsverfahren zu den Kosten der Hauptsache (Senatsbeschluß vom 8. Dezember 1994 VII B 172/93, BFH/NV 1995, 634, 636, m. w. N.).
Fundstellen
Haufe-Index 66667 |
BFH/NV 1998, 463 |