Entscheidungsstichwort (Thema)

Aussetzung der Vollziehung in der Revisionsinstanz

 

Leitsatz (NV)

Wird während des Revisionsverfahrens die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungssakts beantragt, so können die für eine Vollziehungsaussetzung vorausgesetzten ,,ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts" nur anerkannt werden, wenn unter Berücksichtigung der besonderen Voraussetzungen des revisionsgerichtlichen Verfahrens ernstlich mit der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Verwaltungsakts zu rechnen ist.

 

Normenkette

FGO § 69 Abs. 3

 

Tatbestand

Das Finanzgericht (FG) hat mit Urteil vom 26. Februar 1985 XI K 218/84 die Klage betreffend die Gewinnfeststellungsbescheide 1977 bis 1980, die Festsetzung von Gewerbesteuermeßbeträgen 1977 bis 1980 sowie betreffend den Einheitswert des Betriebsvermögens zum 1. Januar 1978, 1. Januar 1979 und 1. Januar 1980 als unzulässig abgewiesen. Hiergegen hat die Klägerin und Antragstellerin (Klägerin) Revision eingelegt. Mit der Einreichung der Revisionsbegründung hat sie zugleich beantragt, die Vollziehung nachfolgend aufgeführter Bescheide auszusetzen:

1. der geänderten Gewinnfeststellungsbescheide 1977 bis 1980 vom 29. September 1983,

2. der Gewerbesteuer-Meßbescheide 1977 bis 1980 vom 20. Oktober 1983 und 2. November 1983, sowie

3. der Einheitswertbescheide vom 29. September 1983 mit Feststellung zum 1. Januar 1978, 1. Januar 1979 und 1. Januar 1980,

jeweils in der Fassung der Einspruchsentscheidungen des Beklagten und Antragsgegners (Finanzamt - FA -) vom 14. Juni 1984, für den Zeitraum ab Erlaß der Einspruchsentscheidungen vom 14. Juni 1984 bis zum Ablauf eines Monats nach Ergehen der Entscheidung über die eingelegte Revision bzw. für den Fall der Zurückverweisung an das FG bis zu dessen Entscheidung über die Klage vom 6. September 1984, und zwar in folgendem Umfang:

Gewinnanteile Gewerbesteuer- Einheitswert

meßbeträge des Betriebsvermögens

1977 38 578 DM 1 925 DM

1978 22 527 DM 1 125 DM 37 000 DM

1979 47 678 DM 2 380 DM 23 000 DM

1980 487 415 DM 24 370 DM 5 000 DM

Die Begründung dieses Antrages entspricht im wesentlichen dem Revisionsvorbringen.

Das FA beantragt, den Aussetzungsantrag als unbegründet zurückzuweisen. Unter Bezugnahme auf das klagabweisende Urteil des FG führt es aus, nach eingetretener Unanfechtbarkeit der Bescheide sei für eine Aussetzung der Vollziehung kein Raum mehr.

 

Entscheidungsgründe

Der Antrag der Klägerin ist zulässig, da das FA unter Aufrechterhaltung seines schon während des Klageverfahrens eingenommenen Standpunktes einen nach Ergehen des klagabweisenden Urteils erneut gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung mit Bescheid vom 24. April 1985 abschlägig beschieden hat (Art. 3 § 7 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit - VGFGEntlG -). Der Antrag der Klägerin ist jedoch nicht begründet.

Das Gericht der Hauptsache kann auf Antrag die Vollziehung der angefochtenen Verwaltungsakte ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verwaltungsakte bestehen oder wenn - wofür im Streitfall nichts vorgetragen ist - die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen dann, wenn gewichtige Umstände Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen bewirken (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 4. Mai 1977 I R 162-163/76, BFHE 123, 3, BStBl II 1977, 765). Bei einem in der Hauptsache schon im Revisionsverfahren schwebenden Rechtsstreit können ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit nur anerkannt werden, wenn unter Berücksichtigung der besonderen Voraussetzungen des revisionsgerichtlichen Verfahrens ernstlich mit der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Verwaltungsaktes gerechnet werden kann (Beschluß des BFH vom 24. Juni 1981 I S 3/81, BFHE 133, 564, BStBl II 1981, 748). Das bedeutet, daß bei einem vermutlichen Durcherkennen des BFH die Erfolgsaussichten des Revisionsverfahrens zu prüfen sind, bei vermutlicher Zurückverweisung die Erfolgsaussichten des dann fortgesetzten Klageverfahrens (vgl. BFH-Beschlüsse vom 21. November 1973 I S 8/73, BFHE 110, 498, BStBl II 1974, 114, und vom 22. Oktober 1971 II S 8/71, BFHE 103, 312, 314). Der Senat kommt bei der im Aussetzungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung zu dem Ergebnis, daß im Hinblick auf das am heutigen Tage in der Hauptsache IV R 72/85 ergangene Urteil des erkennenden Senats (BFHE 146, 206, BStBl II 1986, 547) ernstlich mit einer Aufhebung oder Änderung der angefochtenen Steuerbescheide nicht gerechnet werden kann.

Wie in Abschn. 4 der Entscheidungsgründe des Urteils IV R 72/85 (BFHE 146, 206, BStBl II 1986, 547) ausgeführt ist, beruht der Wiedereinsetzungsantrag der Klägerin im Kern auf dem Vorbringen, daß die Einspruchsentscheidungen bei Eingang in die Kanzlei infolge Büroversehens - mit anderen Vorgängen der Klägerin verhakt - in einen der vier Leitzordner (Vorgänge, die Klägerin betreffend) gelegt worden seien und dieses Büroversehen erst am 24. August 1984 durch den zuständigen Bearbeiter, den Rechtsanwalt D, aufgedeckt worden sei. Demgegenüber hat der Steuerberater K vor dem FG ausgesagt, daß er sich am 22. August 1984 telefonisch in der Kanzlei der Prozeßbevollmächtigten nach dem Eingang der Einspruchsentscheidungen erkundigt habe. Die Kanzleiangestellte Fräulein R, die nicht einmal die zuständige Sachbearbeiterin war, hat die Einspruchsentscheidungen bereits ,,nach kurzer Zeit" gefunden und dem Steuerberater K auf seine Bitte Fotokopien übersandt. Wie die Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 11. Februar 1985 ausführt, hat diese Übersendung tatsächlich stattgefunden, und zwar, wie sie korrigierend zur Aussage des Steuerberaters K bemerkt, durch die Versendungsart ,,per Eilboten".

Damit ist aus derzeitiger Sicht zu einem Zeitpunkt, der jedenfalls vor dem im Wiedereinsetzungsantrag angegebenen maßgeblichen Datum vom 24. August 1984 lag, ein schneller Zugriff auf die Einspruchsentscheidungen möglich gewesen, was den Schluß zuließe, daß die Unterlagen zu diesem Zeitpunkt geordnet, also nicht verlegt aufbewahrt worden sind. Einer glaubhaften Darlegung eines Hinderungsgrundes steht jedenfalls die aus derzeitiger Sicht nicht widerlegbar erscheinende Vermutung entgegen, daß die Einspruchsentscheidungen nicht schon beim Posteingang, sondern erst nach dem Telefongespräch zwischen Fräulein R und Steuerberater K verlegt sein könnten, wenn sie Rechtsanwalt D am 24. August 1984 in ,,verhaktem Zustand" aufgefunden haben will. Denn vor diesem Zeitpunkt haben sie dem Fräulein R vorgelegen und sind - wie die Klägerin selbst bekräftigt - für Steuerberater K fotokopiert worden.

Es bleibt der Klägerin unbenommen, einen erneuten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung beim FG zu stellen und zwar unter Berücksichtigung derjenigen Tatsachen und Umstände, die gegebenenfalls in Ergänzung des bisherigen Vorbringens zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorgetragen werden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 414432

BFH/NV 1987, 779

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