Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsätzliche Bedeutung; Einwendungen gegen Tatbestand des FG-Urteils
Leitsatz (NV)
1. Es ist geklärt, dass ein bestandskräftiger Bescheid, mit welchem die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld für das abgelaufene Kalenderjahr wegen Überschreitens des Grenzbetrages nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG abgelehnt hat, nicht aufgrund einer späteren Entscheidung des BVerfG aufzuheben ist, nach der im Wege verfassungskonformer Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG die Einkünfte des Kindes um die von ihm gezahlten Arbeitnehmerbeiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung zu mindern sind. Gleiches gilt für Bescheide, mit welchen die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für ein abgelaufenes Kalenderjahr rückwirkend aufgehoben hat.
2. Ob ein Zulassungsgrund nach § 115 Abs. 2 FGO vorliegt, richtet sich nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde.
3. Einwendungen gegen die Richtigkeit oder Vollständigkeit des im Urteil des FG festgestellten Tatbestandes sind kein Verfahrensmangel, sondern müssen gegebenenfalls zum Gegenstand eines Antrags auf Tatbestandsberichtigung gemacht werden. Ein Verfahrensmangel kommt nur dann in Betracht, wenn der Tatbestand ganz fehlt oder als Grundlage für die rechtlichen Schlussfolgerungen des FG völlig unzureichend ist, weil er den zum Verständnis des Inhalts des Urteils erforderlichen Sach- und Streitstand nicht hinreichend wiedergibt.
Normenkette
EStG § 32 Abs. 4 S. 2; FGO § 105 Abs. 2-3, § 115 Abs. 2 Nrn. 1, 3
Verfahrensgang
FG Nürnberg (Urteil vom 24.04.2006; Aktenzeichen VI 6/2006) |
Tatbestand
I. Mit Bescheid vom 7. April 2005 hob die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung für den Sohn des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) ab Januar 2004 auf, weil der Sohn Einkünfte und Bezüge von mehr als 7 680 € im Kalenderjahr 2004 habe (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der für das Jahr 2004 geltenden Fassung --EStG--). Der Bescheid wurde nicht angefochten.
Mit Schreiben vom 21. Juli 2005 beantragte der Kläger unter Hinweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260), nach dem die Einkünfte und Bezüge des Kindes bei der Prüfung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG im Wege verfassungskonformer Auslegung um die Beiträge zur Sozialversicherung zu mindern sind, erneut Kindergeld für das Jahr 2004. Einen "Widerspruch" habe er bislang nicht eingelegt, weil ihm von der zuständigen Sachbearbeiterin der Familienkasse versichert worden sei, man werde ihn verständigen, wenn man Näheres wisse. Nach einer Gesprächsnotiz der Sachbearbeiterin hatte sich der Kläger am 24. Mai 2005 bei ihr telefonisch erkundigt, was er tun müsse, um den Kindergeldanspruch geltend zu machen.
Die Familienkasse lehnte den Antrag mit Bescheid vom 19. August 2005 ab, weil der rückwirkenden Festsetzung von Kindergeld die Bestandskraft des Bescheids vom 7. April 2005 entgegen stehe und keine Korrekturvorschrift einschlägig sei. Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg.
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde beruft sich der Kläger auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) und rügt Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Der Kläger wirft sinngemäß die Rechtsfrage auf, ob ein bestandskräftiger Bescheid, mit welchem die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung nach Ablauf des Kalenderjahres aufgehoben habe, aufgrund des Beschlusses des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 korrigiert werden könne.
Weiter sei der Tatbestand des Urteils des Finanzgerichts (FG) unvollständig und unzutreffend. Er habe in der mündlichen Verhandlung am 24. April 2006 vorgetragen, er sei seit Beginn seiner Tätigkeit beim Polizeipräsidium … auf telefonische Auskünfte der Familienkasse angewiesen gewesen und habe die ihm erteilten Auskünfte immer als zutreffend und bindend betrachtet. Er habe bei der zuständigen Sachbearbeiterin am 2. Mai 2005 telefonisch nachgefragt, was er im Hinblick auf den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 machen solle. Die Sachbearbeiterin habe ihm geantwortet, am nächsten Tag werde im Amt eine Besprechung wegen dieses Beschlusses stattfinden. Sobald sie Bescheid wisse, wolle sie den Kläger zurückrufen. Nachdem die Sachbearbeiterin den Kläger nicht zurückgerufen habe, habe er sich wieder am 24. Mai 2005 bei ihr gemeldet. Das FG habe zudem seinen, des Klägers, Vortrag unterschlagen, der Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 sei der Familienkasse bei Bekanntgabe des Bescheids vom 7. April 2005 bereits bekannt gewesen. Die rechtliche Würdigung des berichtigten und klargestellten Sachverhalts hätte zur Stattgabe der Klage führen müssen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet und wird zurückgewiesen (§ 132 FGO).
1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen.
Die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage ist durch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) geklärt. Nach dem Urteil des Senats vom 28. Juni 2006 III R 13/06 (BFH/NV 2006, 2204) kann ein bestandskräftiger Bescheid, mit welchem die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld für das abgelaufene Kalenderjahr wegen Überschreitens des Grenzbetrages nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG abgelehnt hat, nicht aufgrund der Entscheidung des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 aufgehoben oder geändert werden. Gleiches gilt für Bescheide, mit welchen die Familienkasse --wie im Streitfall-- die Kindergeldfestsetzung für ein abgelaufenes Kalenderjahr rückwirkend aufgehoben hat (vgl. Senatsurteil vom 19. Oktober 2006 III R 41/06, juris; Senatsbeschluss vom 30. Oktober 2006 III B 54/06, BFH/NV 2007, 236).
Unerheblich ist, dass das Senatsurteil in BFH/NV 2006, 2204 erst nach Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ergangen ist. Ob ein Zulassungsgrund nach § 115 Abs. 2 FGO vorliegt, richtet sich nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde (BFH-Beschluss vom 18. März 1994 III B 543/90, BFHE 173, 506, 509, BStBl II 1994, 473, 474).
2. Es liegt auch kein Verfahrensfehler vor, auf welchem die Entscheidung des FG beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
Einwendungen gegen die Richtigkeit bzw. Vollständigkeit des im Urteil des FG festgestellten Tatbestandes sind nicht als Verfahrensmangel im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde zu rügen, sondern müssen gegebenenfalls zum Gegenstand eines Antrags auf Tatbestandsberichtigung (§ 108 FGO) gemacht werden (BFH-Beschluss vom 7. Mai 1999 IX B 20/99, BFH/NV 1999, 1369). Ein Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO in Form eines Verstoßes gegen § 105 Abs. 2 Nr. 4 und Abs. 3 FGO kommt nur in Betracht, wenn der Tatbestand ganz fehlt oder als Grundlage für die rechtlichen Schlussfolgerungen des Tatsachengerichts völlig unzureichend ist, weil er den zum Verständnis des Inhalts des Urteils erforderlichen Sach- und Streitstand nicht hinreichend wiedergibt (BFH-Beschluss vom 5. Juli 2004 VII B 350/03, BFH/NV 2004, 1543, m.w.N.). Im Streitfall sind die Entscheidungsgründe des Urteils des FG auf der Grundlage seiner Darstellung des Sach- und Streitstandes jedoch aus sich heraus verständlich und nachvollziehbar.
Das FG hat den Vortrag des Klägers hinsichtlich seines --angeblichen-- Telefonats mit der zuständigen Sachbearbeiterin am 2. Mai 2005 im Tatbestand seiner Entscheidung dargestellt. Hierzu hat das FG in seinen Entscheidungsgründen ausgeführt, dass --selbst wenn man diesen Vortrag des Klägers als zutreffend unterstellte-- in dem Verhalten der Sachbearbeiterin ein die Wiedereinsetzung rechtfertigendes Fehlverhalten nicht gesehen werden könne. Der Kläger habe selbst angegeben, er sei sich nicht im Klaren gewesen, ob er sofort Einspruch einlegen oder zuwarten solle. Damit sei ihm bewusst gewesen, dass die Einspruchsfrist vor dem Ablauf stand. Trotzdem habe er sich erst deutlich nach deren Ablauf am 24. Mai 2005 wieder bei der Sachbearbeiterin gemeldet. Gleichfalls hat das FG den Vortrag des Klägers in den Tatbestand seines Urteils aufgenommen, der Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 sei der Familienkasse bei Bekanntgabe des Bescheids vom 7. April 2005 bereits bekannt gewesen. Soweit der Kläger die Auslassung rügt, er sei seit Beginn seiner Tätigkeit beim Polizeipräsidium … auf telefonische Auskünfte der Familienkasse angewiesen gewesen und habe die ihm erteilten Auskünfte immer als zutreffend und bindend betrachtet, war dies für die Entscheidung des FG nicht erheblich und brauchte daher nicht in den Tatbestand des Urteils aufgenommen zu werden.
Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass der vom 11. Januar 2005 datierte Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 der Familienkasse weder bei Aufhebung der Kindergeldfestsetzung am 7. April 2005 noch zum Zeitpunkt des --angeblichen-- Telefonats mit der Sachbearbeiterin am 2. Mai 2005 bekannt gewesen sein konnte.
Nach § 30 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) entscheidet das BVerfG in geheimer Beratung. Anschließend wird die Entscheidung schriftlich abgefasst, begründet und von den Richtern, die an ihr mitgewirkt haben, unterzeichnet. Hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, ist die Entscheidung sodann öffentlich zu verkünden. Hat --wie bei dem Verfahren in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260-- keine mündliche Verhandlung stattgefunden, wird die Entscheidung den Beteiligten bekanntgegeben (§ 30 Abs. 3 BVerfGG). Bei öffentlichem Interesse an der Entscheidung ergehen Presseverlautbarungen, die vom Vorsitzenden und Berichterstatter gebilligt werden müssen und erst veröffentlicht werden dürfen, wenn anzunehmen ist, dass die Entscheidung den Beteiligten zugegangen ist (§ 32 der Geschäftsordnung des BVerfG). In der Regel gibt die zuständige Geschäftsstelle die Pressemitteilungen einen Tag nach Veranlassung der Bekanntgabe hinaus (Schraft-Huber in Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, Mitarbeiterkommentar, 2. Aufl., § 17a Rz 54). Da die Pressemitteilung vom 13. Mai 2005 datiert --auf welche der Kläger im Übrigen selbst in seinem Schreiben vom 21. Juli 2005 Bezug genommen hat--, konnte auch die Familienkasse frühestens am 13. Mai 2005 von der Entscheidung des BVerfG Kenntnis erlangt haben.
Fundstellen
Haufe-Index 1722469 |
BFH/NV 2007, 1136 |