Entscheidungsstichwort (Thema)
Zum Merkmal "aufgrund gesetzlicher Vorschrift" in § 367 Abs. 3 Satz 1 AO 1977; grundsätzliche Bedeutung; Rechtsfortbildung; Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung; Verletzungen des rechtlichen Gehörs durch Übergehen eines Sachantrags
Leitsatz (NV)
1. Eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs zur Fortbildung des Rechts ist insbesondere in Fällen erforderlich, in denen über bisher ungeklärte Rechtsfragen zu entscheiden ist, so beispielsweise, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Grundsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder des Verfahrensrechts aufzustellen oder Gesetzeslücken rechtsschöpferisch auszufüllen. Erforderlich ist eine Entscheidung des BFH nur dann, wenn die Rechtsfortbildung über den Einzelfall hinaus im allgemeinen Interesse liegt und wenn die Frage nach dem "ob" und gegebenenfalls "wie" der Rechtsfortbildung klärungsbedürftig ist.
2. Es gelten insoweit die zur Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO höchstrichterlich entwickelten strengen Darlegungsanforderungen. Es ist auf die Bedeutung der Klärung einer konkreten Rechtsfrage für die Allgemeinheit einzugehen. Vor allem bedarf es der Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung sowie mit dem einschlägigen Fachschrifttum. Es reicht weder- für sich allein - aus, dass die Rechtsfrage bislang noch nicht höchstrichterlich entschieden worden ist, noch genügt die Behauptung, das Finanzgericht habe sachlich unrichtig entschieden.
3. Wird die Abweichung von einer Entscheidung eines anderen Senats desselben Finanzgerichts geltend gemacht, so erfordert die schlüssige Divergenzrüge auch die Darlegung der Rechtserheblichkeit der vermeintlichen Abweichung.
4. Das Übergehen eines Sachantrags ist grundsätzlich nicht mit der Verfahrensrüge, sondern nur mit einem Antrag auf Ergänzung des Urteils nach §§ 109, 113 Abs. 1 FGO zu korrigieren.
5. Eines Antrags auf Berichtigung des Tatbestands nach § 108 FGO bedarf es bei Urteilen, die ohne mündliche Verhandlung ergangen sind, nicht. Die unzutreffende Darstellung des Sach- und Streitstandes im Tatbestand eines ohne mündliche Verhandlung ergangenen Urteils ist als Verfahrensrüge im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde oder bei zugelassener Revision im Revisionsverfahren geltend zu machen.
6. Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird verletzt, wen sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalles ergibt, dass das Gericht das Vorbringen eines Beteiligten nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat.
7. Bei einer nur partiellen Verletzung des rechtlichen Gehörs bedarf es zusätzlich eines Vortrags, inwieweit das angefochtene Urteil auf diesem Verfahrensmangel beruhen kann.
Normenkette
AO 1977 § 195 S. 2, § 367 Abs. 3 S. 1; FGO § 44 Abs. 1, § 63 Abs. 3, § 100 Abs. 1 S. 4, §§ 108-109, 113 Abs. 1, § 115 Abs. 2 Nrn. 1-3, § 116 Abs. 3 S. 3; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Gründe
Der Senat sieht von der Darstellung des Tatbestandes ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Die Beschwerde ist unzulässig und durch Beschluss zu verwerfen (§ 132 FGO).
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) hat die geltend gemachten Zulassungsgründe nach § 115 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 FGO nicht entsprechend den gesetzlichen Anforderungen dargetan (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO).
1. Die Klägerin hält es für klärungsbedürftig, ob auch die im Ermessen der zuständigen Behörde liegende Beauftragung einer anderen Behörde, wie im Falle des § 195 Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977), unter das Merkmal "aufgrund gesetzlicher Vorschrift" in § 367 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 fällt mit der Folge, dass nur die zuständige Behörde über den Einspruch entscheiden darf.
a) Eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Fortbildung des Rechts ist insbesondere in Fällen erforderlich, in denen über bisher ungeklärte Rechtsfragen zu entscheiden ist, so beispielsweise, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Grundsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder des Verfahrensrechts aufzustellen oder Gesetzeslücken rechtschöpferisch auszufüllen. Erforderlich ist eine Entscheidung des BFH nur dann, wenn die Rechtsfortbildung über den Einzelfall hinaus im allgemeinen Interesse liegt und wenn die Frage nach dem "ob" und ggf. "wie" der Rechtsfortbildung klärungsbedürftig ist. Es gelten insoweit die zur Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO höchstrichterlich entwickelten strengen Darlegungsanforderungen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17. Oktober 2001 III B 65/01, BFH/NV 2002, 217; vom 16. Dezember 2005 VIII B 123/05, juris).
Darüber hinaus ist auf die Bedeutung der Klärung der konkreten Rechtsfrage für die Allgemeinheit einzugehen. Es reicht weder --für sich allein-- aus, dass die Rechtsfrage bislang noch nicht höchstrichterlich entschieden worden ist (vgl. BFH-Beschluss vom 21. Dezember 2004 II B 13/04, BFH/NV 2005, 897), noch genügt die Behauptung, das Finanzgericht (FG) habe sachlich unrichtig entschieden (BFH-Beschluss vom 4. Juli 2002 IX B 169/01, BFH/NV 2002, 1476).
b) Im Streitfall fehlt bereits jegliche Auseinandersetzung mit dem vom FG im angefochtenen Urteil sogar teilweise zitierten Fachschrifttum.
2. Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
Zutreffend hat die Klägerin auf die gegensätzlichen Rechtsauffassungen zweier Senate desselben FG zur Auslegung und Anwendung des § 367 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 in den Fällen des § 195 Satz 2 AO 1977 hingewiesen. Indes muss auch die Rechtserheblichkeit der Divergenz dargetan werden.
Im Streitfall hat das FG seine Entscheidung zum einen darauf gestützt, dass es nach Aufhebung der Einspruchsentscheidung durch die beklagte Finanzbehörde während des finanzgerichtlichen Verfahrens an einem erfolglos durchgeführten Vorverfahren i.S. von § 44 Abs. 1 FGO, und damit an einer Sachentscheidungsvoraussetzung, fehle. Zum anderen hat das FG die Möglichkeit ausgeschlossen, dass die Klage noch in die Zulässigkeit hineinwachse, weil die Klage nach § 63 Abs. 3 FGO in jedem Falle gegen die falsche Behörde gerichtet sei.
Selbst wenn die zweite Rechtsfrage im Sinne der Rechtsauffassung der Klägerin zu entscheiden wäre, so fehlte es an einem zulässigen und begründeten Zulassungsgrund hinsichtlich des ersten Abweisungsgrundes (vgl. auch BFH-Beschluss vom 13. Juni 2003 V B 28/03, BFH/NV 2003, 1288).
3. Grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache
Dem angefochtenen Urteil des FG lässt sich schon nicht die von der Klägerin aufgeworfene, in einem künftigen Revisionsverfahren zu klärende Rechtsfrage entnehmen. Das Merkmal "aufgrund gesetzlicher Vorschrift" i.S. von § 367 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 ist auslegungsbedürftig. Es kann sowohl in vertretbarer Weise im Sinne des angefochtenen Urteils als auch der Gegenmeinung verstanden werden, ohne dass damit zwangsläufig eine --zumindest inzidente-- Gleichsetzung von Verwaltungsakt und Gesetz verbunden wäre.
Im Übrigen fehlt es auch hinsichtlich dieses Zulassungsgrundes an der erforderlichen Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung und dem Schrifttum.
4. Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
a) Das Übergehen eines Sachantrags ist grundsätzlich nicht mit der Verfahrensrüge nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, sondern nur mit einem Antrag auf Ergänzung des Urteils nach §§ 109, 113 Abs. 1 FGO zu korrigieren. § 109 FGO gilt aber nur, wenn ein nach dem Tatbestand von einem Beteiligten gestellter Antrag bei der Entscheidung übergangen worden ist. Im Tatbestand des angefochtenen Urteils ist indes gerade der Hilfsantrag der Klägerin nicht wiedergegeben worden.
Zur Zulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde bedurfte es auch nicht eines Antrags auf Berichtigung des Tatbestandes nach § 108 FGO. § 108 FGO ist auf Urteile, die --wie im Streitfall-- ohne mündliche Verhandlung ergangen sind, nicht anwendbar. Die unzutreffende Darstellung des Sach- und Streitstandes im Tatbestand eines ohne mündliche Verhandlung ergangenen Urteils ist vielmehr als Verfahrensrüge im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde oder bei zugelassener Revision im Revisionsverfahren geltend zu machen (BFH-Beschluss vom 29. August 2003 III B 105/02, BFH/NV 2004, 178).
b) Der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) wird verletzt, wenn sich aus den Umständen des Einzelfalls ergibt, dass das Gericht das Vorbringen eines Beteiligten nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat (BFH-Beschluss vom 29. April 2004 III B 73/03, juris).
c) Es trifft zu, dass die Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 11. Oktober 2004 (S. 8), einen auf eine Sachentscheidung gerichteten Hilfsantrag formuliert hat.
Selbst wenn das FG erkennbar diesen Hilfsantrag nicht als solchen verstanden und deshalb auch nicht in Erwägung gezogen hat, so fehlt indes der bei einer nur partiellen Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht entbehrliche Vortrag, inwiefern das angefochtene Urteil auf diesem Verfahrensmangel beruhen kann.
Insbesondere kann die Aufhebung der Prüfungsanordnung im Rahmen eines vom FG als unzulässig beurteilten und deshalb durch Prozessurteil beendeten Klageverfahrens keinesfalls in Betracht kommen. Zum anderen war ein lediglich hinsichtlich der Kostenentscheidung hilfsweise gestellter Fortsetzungsfeststellungsantrag mangels Darlegung eines berechtigten Interesses gemäß § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO von vornherein offensichtlich ebenfalls unzulässig (vgl. dazu BFH-Beschluss vom 1. Dezember 1993 X R 99/91, BFHE 173, 9, BStBl II 1994, 305).
Fundstellen
Haufe-Index 1503748 |
BFH/NV 2006, 1256 |