Entscheidungsstichwort (Thema)

Aussetzung des Verfahrens wegen einer dem EuGH vorliegenden Rechtsfrage

 

Leitsatz (NV)

1. Es ist unschädlich, wenn die Aussetzung des Verfahrens in dem darüber gefaßten Beschluß als Ruhen des Verfahrens bezeichnet wird.

2. Ein finanzgerichtliches Verfahren, in dem Rechtsfragen zu beantworten sind, die dem EuGH zur Vorabentscheidung vorliegen, darf gemäß § 74 FGO ausgesetzt werden.

3. Die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens wegen einer Vorabentscheidung des EuGH ist ermessensfehlerhaft, wenn das FG die Aussetzung anordnet, obwohl es noch keine Tatsachen festgestellt hat, die erkennen lassen, daß die zu erwartende Entscheidung des EuGH für das Ergebnis im ausgesetzten Verfahren bindend sein könnte.

 

Normenkette

UStG 1980 § 2 Abs. 1; FGO § 74

 

Tatbestand

Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) vercharterte im Streitjahr (1992) ein viersitziges Sportflugzeug für ... Flugstunden und erklärte insoweit steuerpflichtige Umsätze von ... DM sowie Umsatzsteuer von ... DM. Das Finanzamt setzte dagegen in dem angefochtenen Umsatzsteuerbescheid 1992 die vom Kläger ausgewiesenen Umsatzsteuerbeträge von ... DM als Steuerschuld nach § 14 Abs. 3 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1991 mit der Begründung fest, der Kläger sei kein Unternehmer. Streitig ist, ob der Kläger sich insoweit als Unternehmer durch Flugzeugvercharterung betätigt hat. Weiter ist umstritten, ob und in welchem Umfang der Kläger, falls er Unternehmer ist, Kosten in die Bemessungsgrundlage für den Eigenverbrauch wegen privater Nutzung des Sportflugzeugs einbeziehen muß.

Im Anschluß an einen Erörterungstermin beschloß der Berichterstatter als Einzelrichter nach Anhörung der Beteiligten in dem mit der vorliegenden Beschwerde angefochtenen Beschluß vom 19. Dezember 1994: "Das Verfahren ruht bis zu der vom Europäischen Gerichtshof durch Beschluß des Bundesfinanzhofs vom 5. Mai 1994 (V R 23/93) erbetenen Vorabentscheidung betreffend die Auslegung der Vorschriften der Art. 4 Abs. 2 Satz 1, 4 Abs. 2 Satz 2, 11 Teil A Abs. 1 Buchstabe c, Art. 6 Abs. 2 der 6. EG-Richtlinie (77/388/EWG)."

Mit der Beschwerde begehrt der Kläger die Aufhebung des Beschlusses. Ein Ruhen des Verfahrens, so führt er sinngemäß aus, könne nichts zur Entscheidung im Streitfall beitragen, weil er, der Kläger, eine mehrjährige und planmäßige Unternehmertätigkeit durch Flugzeugvercharterung ausführe und das Flugzeug nicht privat benutzt habe. Der Streitfall sei mit dem vom Bundesfinanzhof (BFH) dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fall nicht vergleichbar.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

1. Der Beschluß des Finanzgerichts (FG) über das "Ruhen des Verfahrens" ist mit der Beschwerde (§ 128 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --) angreifbar. Der Ausschluß der Beschwerde nach § 128 Abs. 2 FGO gegen prozeßleitende Verfügungen und die weiteren bezeichneten Maßnahmen des FG zur Vorbereitung der abschließenden Entscheidung gilt nicht für die Anordnung einer Aussetzung des Verfahrens (§ 128 Abs. 2 zweiter Halbsatz FGO). Der Ausschluß der Beschwerde gilt auch nicht für einen Beschluß des FG über das Ruhen des Verfahrens (§ 155 FGO i. V. m. § 251 der Zivilprozeßordnung -- ZPO --). Zwar sind die Voraussetzungen für die Aussetzung und das Ruhen des Verfahrens unterschiedlich. Maßgebend ist jedoch, daß die Wirkungen beider Entscheidungen im wesentlichen gleich sind und daß der Eintritt oder Nichteintritt dieser Wirkungen nach der Wertung durch § 128 Abs. 2 zweiter Halbsatz FGO mittels einer Beschwerde (vgl. zur Beschwerde gegen die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens BFH-Beschluß vom 18. September 1992 III B 43/92, BFHE 169, 110, BStBl II 1993, 123) überprüfbar sein soll (vgl. zur Statthaftigkeit der Beschwerde gegen die Anordnung des Ruhens des Verfahrens: Tipke/Kruse, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 74 FGO Tz. 5).

Daß der Kläger seine Beschwerde erst nach Ablauf der Beschwerdefrist (§ 129 Abs. 1 FGO) begründet hat, steht ihrer Zulässigkeit nicht entgegen. Ebensowenig wie für eine nach § 128 Abs. 1 FGO statthafte Beschwerde ein Begründungszwang besteht (vgl. BFH-Beschluß vom 15. November 1988 II B 154/88, BFH/NV 1989, 735), darf eine Begründung nur innerhalb einer bestimmten Frist eingereicht werden (Tipke/Kruse, a.a.O., § 129 FGO Tz. 5).

2. Die Beschwerde ist auch begründet.

a) Die Voraussetzungen für das Ruhen des Verfahrens (§ 155 FGO i. V. m. § 251 ZPO) liegen nicht vor. Die dafür notwendigen übereinstimmenden Anträge beider Beteiligten (§ 251 Abs. 1 ZPO) liegen nicht vor.

b) Die Auslegung des angefochtenen Beschlusses ergibt jedoch, daß der Berichterstatter die Aussetzung des Verfahrens beschlossen und dies unrichtig, aber unschädlich als Ruhen des Verfahrens bezeichnet hat. Er hat in der Begründung des Beschlusses nur die Anhörung der Beteiligten, aber nicht deren übereinstimmende Anträge erwähnt. Außerdem hat er sich auf die im Beschluß des FG Baden-Württemberg vom 18. April 1994 6 K 266/90 (Entscheidungen der Finanzgerichte -- EFG -- 1994, 1067) niedergelegten Gründe bezogen, in denen der Einzelrichter als Berichterstatter über die Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO entschieden hatte. Die Auslegung wird schließlich durch die Niederschrift über den Erörterungstermin vom 14. Dezember 1994 bestätigt, nach der der Berichterstatter den Beteiligten "Gelegenheit zur Stellungnahme betr. einer Verfahrensaussetzung" gegeben hat.

c) Der Berichterstatter als Einzelrichter (§ 6 FGO) war im vorbereitenden Verfahren (§ 79 a Abs. 1, § 79 a Abs. 4 FGO) befugt, die Aussetzung zu beschließen (vgl. dazu FG Baden-Württemberg in EFG 1994, 1067; Kühn/Hofmann, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, 17. Aufl., § 74 FGO Anm. 2).

d) Die Sachverhaltsvoraussetzungen, auf die das FG die Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO offenbar stützen wollte, sind jedoch nicht festgestellt, so daß für eine entsprechende Ermessensentscheidung des FG keine ausreichende Grundlage vorhanden ist.

Nach § 74 FGO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet, anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen ist.

aa) Es ist anerkannt, daß § 74 FGO über seinen Wortlaut hinaus zur Aussetzung eines Verfahrens berechtigt, wenn eine im ausgesetzten Verfahren streitige Rechtsfrage zur "Vorwegentscheidung" bei demjenigen Gericht anhängig ist, das darüber allein verbindlich erkennt (vgl. BFH-Beschluß vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/91 unter 2. b, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408). Der EuGH entscheidet im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 Abs. 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) über die Auslegung der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) verbindlich für die FG und Finanzbehörden der Mitgliedstaaten. Sofern berufbares Recht der Richtlinie 77/388/EWG im Widerspruch zu nationalem Recht steht, hat das Gemeinschaftsrecht Anwendungsvorrang (vgl. z. B. EuGH-Urteil vom 27. Juni 1989 Rs. 50/88, Slg. 1989, 1925; Umsatzsteuer- Rundschau 1989, 373). Die Aussetzung eines finanzgerichtlichen Verfahrens, in dem Rechtsfragen zu beantworten sind, die dem EuGH zur Vorabentscheidung vorliegen, dient der mit § 74 FGO bezweckten Verfahrensökonomie (vgl. dazu auch Tipke/Kruse, a.a.O., § 74 FGO Tz. 2). Sie vermeidet eine zusätzliche Vorlage der Rechtsfrage beim EuGH, wozu das FG nach Art. 177 Abs. 2 EWGV berechtigt ist.

bb) Die Ermessensentscheidung des FG, den Rechtsstreit wegen des bereits beim EuGH anhängigen Vorabentscheidungsverfahrens auszusetzen (§ 74 FGO), überschreitet den dem FG gesetzten Rahmen, wenn es die Aussetzung anordnet, obwohl noch keine Tatsachen festgestellt worden sind, die erkennen lassen, daß die zu erwartende Entscheidung des EuGH für das Ergebnis im ausgesetzten Verfahren bindend sein könnte.

In dem bezeichneten Vorlageverfahren des BFH entscheidet der EuGH über eine Vermietung eines Wohnmobils, das auch privat genutzt worden ist. Das FG hat bisher keine Feststellungen getroffen, nach denen das im Streitfall vermietete Flugzeug vom Kläger ebenfalls nichtunternehmerisch verwendet wurde. Solange von einem ausschließlich gegen Entgelt durch Vermietung genutzten Flugzeug auszugehen ist, kann die Vorabentscheidung des EuGH die Entscheidung im Streitfall nicht fördern. Der Aussetzungsbeschluß ist mithin rechtsfehlerhaft und wird aufgehoben.

Der Senat hält es für angemessen (§§ 132, 155 FGO i. V. m. § 575 ZPO), daß das FG die Sachverhaltsfeststellungen für eine etwaige erneute Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens wegen der beim EuGH anhängigen Vorlage vornimmt (vgl. zur Aufhebung und Zurückverweisung im Beschwerdeverfahren: BFH-Beschluß vom 26. März 1980 I B 11/80, BFHE 130, 17, BStBl II 1980, 334; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 132 Rz. 10).

 

Fundstellen

Haufe-Index 420718

BFH/NV 1996

BFH/NV 1996, 48

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