Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufnahme eines Sozius in eine Einzelpraxis (Anfragebeschluß)
Leitsatz (NV)
Der XI. Senat beabsichtigt, von den Urteilen vom 26. 2. 1981 IV R 98/79, BFHE 133, 186, BStBl II 1981, 568, und vom 5. 4. 1984 IV R 88/80, BFHE 141, 27, BStBl II 1984, 518, abzuweichen.
Normenkette
EStG § 18 Abs. 3
Tatbestand
Sachverhalt und Vorentscheidung
Die Kläger, Revisionsbeklagten und Anschlußrevisionskläger (Kläger) sind miteinander verheiratet und werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger führte bis zum 31. März 1989 eine Einzelpraxis als Arzt. Zum 1. April 1989 gründete er zusammen mit Herrn Dr. W eine Gemeinschaftspraxis. Der Kläger brachte die ihm gehörenden Gegenstände der Einzelpraxis in die Gemeinschaftspraxis ein. W zahlte dem Kläger entsprechend der Vereinbarung lt. §8 Nr. 4 des Gesellschaftsvertrags 150 000 DM als Gegenleistung für die eingebrachten Gegenstände und die Hälfte des ideellen Praxiswerts. In dem Feststellungsbescheid vom 1. Juni 1993 rechnete der Beklagte, Revisionskläger und Anschlußrevisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) dem Kläger einen Gewinnanteil von 168 934 DM zu. Die Feststellungen des Feststellungsbescheides vom 1. Juni 1993 wurden im Einkommensteuerbescheid vom 16. Juni 1993 berücksichtigt. Auf Einspruch wurde der Feststellungsbescheid durch den Feststellungsbescheid vom 9. Juni 1994 geändert; es wurde dem Kläger nur noch ein Gewinnanteil von 18 934 DM zugerechnet. Unter dem 23. Juni 1994 erging ein nach §175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und §174 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderter Einkommensteuerbescheid. Der Anteil am laufenden Gewinn der Gemeinschaftspraxis wurde mit 18 934 DM angesetzt. Die Ausgleichszahlung von 150 000 DM wurde als laufender Gewinn der Einzelpraxis behandelt.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage teilweise statt; das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1997, 342 veröffentlicht. Der Einkommensteuerbescheid habe gemäß §174 Abs. 3 AO 1977 geändert werden dürfen. Jedoch -- so das FG unter Berufung auf Reiß in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, §16 Rdnr. B 71--73, C 66--68, und auf Schmidt/Seeger, Einkommensteuergesetz, (jetzt) 16. Aufl., 1997, §18 Rz. 230, 231 -- müsse der Gewinn in Höhe von 150 000 DM aus der hälftigen Übertragung der Einzelpraxis gemäß §18 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i. V. m. §34 Abs. 2 Nr. 1 EStG ermäßigt besteuert werden.
Gegen die Entscheidung hat das FA Revision eingelegt. Die Kläger haben sich der Revision angeschlossen.
Das FA rügt Verletzung materiellen Rechts. Die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes scheitere daran, daß bei der Übertragung des Anteils nicht alle stillen Reserven aufgedeckt worden seien, denn §24 Abs. 3 Satz 2 des Umwandlungssteuergesetzes (UmwStG), der auch auf die Einbringung von freiberuflich betriebenen Praxen anzuwenden sei, verlange die Aufdeckung aller stiller Reserven (Urteil des FG Düsseldorf vom 26. September 1995 14 K 1772/92 E, EFG 1996, 180). Im Streitfall sei weder das gesamte Betriebsvermögen mit seinem Teilwert in die Gemeinschaftspraxis eingebracht noch der Einbringungsgewinn auf der Grundlage einer Einbringungs- oder einer Eröffnungsbilanz ermittelt worden. Diese Voraussetzung sei auch für den Fall der Einbringung einer freiberuflichen Praxis in eine Personengesellschaft unabdingbar (Urteile des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 13. Dezember 1979 IV R 69/74, BFHE 129, 380, BStBl II 1980, 239; vom 5. April 1984 IV R 88/80, BFHE 141, 27, BStBl II 1984, 518). Für eine analoge Anwendung des §16 Abs. 1 Nr. 2 EStG sei angesichts der Regelung des §24 Abs. 3 Satz 2 UmwStG kein Raum.
Im Hinblick auf die Anschlußrevision der Kläger ist das FA der Auffassung, daß der Bescheid bereits gemäß §175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 habe geändert werden können (BFH-Urteil vom 30. Oktober 1986 IV R 175/84, BFHE 148, 119, BStBl II 1987, 89), so daß eine Anwendung des §174 Abs. 3 AO 1977 dahinstehen könne.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Anschlußrevision der Kläger zurückzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision des FA zurückzuweisen und im Wege der Anschlußrevision das angefochtene Urteil aufzuheben und unter Änderung des Einkommensteuerbescheides vom 23. Juni 1994 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15. September 1995 die Einkommensteuer auf 74 870 DM herabzusetzen.
1. In bezug auf den Veräußerungsgewinn sei der Auffassung des FG zu folgen.
2. Das FA sei nicht berechtigt gewesen, den Änderungsbescheid auf §174 Abs. 3 AO 1977 zu stützen. §174 Abs. 3 AO 1977 setze voraus, daß ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar nicht berücksichtigt worden sei, weil er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei. Der Sachverhalt sei jedoch im Streitfall nicht seitens des FA unberücksichtigt gelassen, sondern entgegen der Rechtslage falsch gewürdigt worden; §174 Abs. 3 AO 1977 könne daher keine Anwendung finden. Auch eine Anwendung des §175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 komme insoweit nicht in Betracht.
Entscheidungsgründe
Rechtliche Würdigung durch den XI. Senat
A. Revision des FA
Die Revision des FA ist unbegründet (§126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Das FG hat zutreffend entschieden, daß gemäß §§18 Abs. 3, 34 Abs. 2 Nr. 1 EStG auf den entstandenen Veräußerungsgewinn der ermäßigte Steuersatz anzuwenden ist.
1. Gemäß §18 Abs. 3 EStG gehört zu den Einkünften aus selbständiger Arbeit auch der Gewinn, der bei der Veräußerung des Vermögens oder eines selbständigen Teils des Vermögens oder eines Anteils am Vermögen erzielt wird, das der selbständigen Arbeit dient. Vergleichbar gehören gemäß §16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb auch Gewinne, die erzielt werden bei der Veräußerung des ganzen Gewerbebetriebs oder eines Teilbetriebs (Nr. 1) oder des Anteils eines Gesellschafters, der als Unternehmer (Mitunternehmer) des Betriebs anzusehen ist (Nr. 2).
Im Streitfall ist W gegen Zuzahlung in die Praxis des Klägers eingetreten. Zivilrechtlich bedeutet dieser Vorgang die Gründung einer Personengesellschaft, bei der der bisherige Praxisinhaber seinen Betrieb als Einlage in die Gesellschaft einbringt und zugleich einen Teil des Betriebs veräußert; die Einbringung auf Rechnung eines Dritten ist ein Veräußerungsvorgang (vgl. BFH-Urteil vom 8. Dezember 1994 IV R 82/92, BFHE 176, 392, BStBl II 1995, 599).
2. Der Wortlaut der genannten Regelungen erfaßt nicht die Veräußerung eines Teils des Vermögens des ganzen Betriebs. Jedoch ist auf diesen Veräußerungsfall §18 Abs. 3 EStG im Wege analoger Rechtsanwendung entsprechend anzuwenden (vgl. Seeger in Schmidt, a. a. O., §18 Rz. 231; Reiß in Kirchhof/Söhn, a. a. O., §16 Rz. C 68; a. A. Urteil des FG Hamburg vom 11. Oktober 1996 V 59/95, EFG 1997, 542, Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst 1997, 154, Rev IV R 89/96).
a) Die gesetzliche Regelung ist lückenhaft. Wenn §18 Abs. 3 EStG den Gewinn, der bei der Veräußerung des (ganzen) Vermögens oder eines selbständigen Teils des Vermögens oder eines Anteils am Vermögen erfaßt, dann muß zwangsläufig auch der zwischen diesen Fällen liegende Fall, nämlich die Veräußerung eines "Teils des ganzen Vermögens" erfaßt werden. Die Veräußerung eines Anteils am Vermögen und die Veräußerung eines Teils des Vermögens unterscheiden sich nur dadurch, daß im ersten Fall bereits mehrere Personen am Vermögen beteiligt sind. Der Gegenstand der Veräußerung ist derselbe; es handelt sich um einen Teil bzw. Anteil, nicht um einzelne Wirtschaftsgüter.
Während §16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausdrücklich vom Anteil eines Gesellschafters spricht, ist in §18 Abs. 3 EStG nur die Rede vom Anteil am Vermögen. Wäre nicht §18 Abs. 3 EStG als sprachlich verkürzte Fassung des §16 Abs. 1 Nr. 1 und 2 EStG zu verstehen (vgl. BFH-Urteil vom 14. September 1994 I R 12/94, BFHE 176, 520, BStBl II 1995, 407), könnte man bereits im Wege der Auslegung zu dem Ergebnis gelangen, daß der "Anteil am Vermögen" auch einen Teil des ganzen Vermögens umfaßt.
Daß die gesetzliche Regelung lückenhaft ist, folgt ferner aus der Entwicklung des §16 EStG. So galten nach §30 Abs. 1 Nr. 1 des Reichseinkommensteuergesetzes 1925 vom 10. August 1925 (RGBl I, 189) als Einkommen aus Gewerbebetrieb auch Gewinne, die bei der Veräußerung des Gewerbebetriebs als ganzen oder eines Teiles des Gewerbebetriebs erzielt werden; von dieser Regelung ausgeschlossen sein sollte lediglich die Veräußerung von Einzelwirtschaftsgütern (vgl. auch RTDrucks III/795 vom 27. April 1925 S. 55 f.). Erst im EStG 1934 wurde aus dem Teil des Betriebes der Teilbetrieb, ohne daß eine sachliche Änderung beabsichtigt war (vgl. Begründung zum EStG 1934, RStBl 1935, 33, 42; Reiß in Kirchhof/Söhn, a. a. O., §16 Rz. C 68).
Die Lückenhaftigkeit wird schließlich auch daraus ersichtlich, daß sowohl der I. Senat in dem Urteil in BFHE 176, 520, BStBl II 1995, 407, als auch der IV. Senat in dem Urteil in BFHE 176, 392, BStBl II 1995, 599 den Anteil eines Anteils als Veräußerungsgegenstand anerkannt haben. Wenn aber der Anteil an einem Anteil die Voraussetzungen des §18 Abs. 3 EStG erfüllt, dann muß dies zwangsläufig auch für den einem Anteil am Vermögen entsprechenden Teil des Vermögens gelten.
b) Die Lücke ist dem Zweck der gesetzlichen Regelung entsprechend zu schließen. Das bedeutet, daß auch die Veräußerung eines Teils des gesamten Vermögens, der einem Anteil am gesamten Vermögen entspricht, zu den Einkünften aus selbständiger Arbeit gemäß §18 Abs. 3 EStG zu rechnen ist.
Diese Lösung macht das sog. Zweistufenmodell entbehrlich. Danach soll der bisherige Einzelunternehmer in einem ersten Schritt dem neuen Gesellschafter nur eine Minimalbeteiligung gegen geringe Ausgleichszahlung einräumen und dann in einem zweiten Schritt einen Bruchteil seines durch den ersten Schritt entstandenen Mitunternehmeranteils tarifbegünstigt an den neuen Gesellschafter veräußern (vgl. Schmidt in Schmidt, a. a. O., §16 Rz. 565, m. w. N.; Stuhrmann in Kirchhof/Söhn, a. a. O., §18 Rz. D 27).
3. Ist §18 Abs. 3 EStG auf die Veräußerung eines Teils des gesamten Vermögens entsprechend anzuwenden, sind auch die weiteren Folgerungen, die sich aus der Anwendung des §18 Abs. 3 EStG ergeben, zu ziehen. Das bedeutet, daß der Gewinn, der sich aus der Veräußerung eines Teils des gesamten Vermögens ergibt, von §34 Abs. 2 EStG erfaßt wird, so daß die sich aus der Veräußerung ergebenden Einkünfte als außerordentliche Einkünfte i. S. des §34 Abs. 1 EStG zu beurteilen sind.
4. Entgegen der Auffassung des FA steht der Anwendung der §§18 Abs. 3, 34 Abs. 2 EStG nicht entgegen, daß das gesamte Betriebsvermögen nicht mit dem Teilwert in die Gemeinschaftspraxis eingebracht wurde und daß keine Einbringungs- oder Eröffnungsbilanz erstellt wurde. Diese Voraussetzungen sind nur in den Fällen des §24 UmwStG 1977/1995 von Bedeutung (vgl. BFH-Urteil vom 26. Januar 1994 III R 39/91, BFHE 173, 338, BStBl II 1994, 458; Schmidt in Schmidt, a. a. O., §16 Rz. 566, m. w. N.), nicht aber bezüglich des Veräußerungsvorgangs (BFH-Urteil in BFHE 176, 392, BStBl II 1995, 599).
B. Anschlußrevision der Kläger
Die Anschlußrevision der Kläger ist gemäß §126 Abs. 3 Nr. 2 FGO begründet.
1. Zwar war das FA gemäß §174 Abs. 3 AO 1977 berechtigt, den Einkommensteuerbescheid vom 23. Juni 1994 zu erlassen. Der Veräußerungsgewinn ist in dem Einkommensteuerbescheid zunächst erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt worden, daß er in dem Feststellungsbescheid, der ein "anderer Steuerbescheid" i. S. des §174 Abs. 3 AO 1977 ist (vgl. BFH-Urteil vom 13. November 1996 XI R 61/96, BFHE 181, 408, BStBl II 1997, 170 zum Fall des §174 Abs. 2 AO 1977), zu berücksichtigen sei. Diese Annahme hat sich als unrichtig herausgestellt, so daß der Einkommensteuerbescheid vom 16. Juni 1993 auch insoweit geändert werden durfte. Die Feststellungsfrist war zum Zeitpunkt des Ergehens des Einkommensteuerbescheides vom 23. Juni 1994 gemäß §§169 Abs. 2 Nr. 2, 170 Abs. 2 Nr. 1, 181 Abs. 1 AO 1977 noch nicht abgelaufen.
2. Jedoch hat das FG den Veräußerungsgewinn nicht zutreffend berechnet und allein den Bruttobetrag der Zuzahlung der Besteuerung zugrunde gelegt. Gemäß §18 Abs. 3 Satz 2 EStG i. V. m. §16 Abs. 2 EStG ist aber der Veräußerungserlös nach Abzug der Veräußerungskosten um den Wert des (veräußerten) Anteils am Betriebsvermögen zu mindern (vgl. BFH-Urteil in BFHE 176, 392, BStBl II 1995, 599). Dieser Beurteilung kann nicht das BFH-Urteil in BFHE 141, 27, BStBl II 1984, 518 entgegengehalten werden, da in dieser Entscheidung ein Veräußerungstatbestand i. S. des §18 Abs. 3 EStG gerade verneint wurde.
Abweichung
Der IV. Senat vertritt in den Urteilen in BFHE 133, 186, BStBl II 1981, 568, und in BFHE 141, 27, BStBl II 1984, 518 die Auffassung, daß bei einer Praxiseinbringung mit Ausgleichszahlung diese Zahlung nicht gemäß §18 Abs. 3 i. V. m. §34 Abs. 1 EStG begünstigt ist. Dieser Auffassung des IV. Senats folgt der XI. Senat aus den unter A. dargestellten Gründen nicht.
Fundstellen
Haufe-Index 55296 |
BFH/NV 1998, 444 |
DB 1998, 805 |
HFR 1998, 373 |