Leitsatz (NV)
Verhängt das Finanzgericht ein Ordnungsgeld wegen Ungebühr gegen den Kläger, hat es das Geschehen, das als Ungebühr betrachtet wird, zu protokollieren. Es ist eine wertungsfreie, möglichst genaue Schilderung des Vorgangs erforderlich. Aus dem Sitzungsprotokoll muss im Einzelnen genau hervorgehen, auf Grund welcher Tatsachen und Umstände das Gericht das Ordnungsmittel verhängt hat.
Normenkette
GVG §§ 178, 182; FGO § 52 Abs. 1, § 55 Abs. 2
Verfahrensgang
FG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 08.11.2022; Aktenzeichen 13 K 13015/21) |
FG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 08.11.2022; Aktenzeichen 13 K 13324/19) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 08.11.2022 - 13 K 13324/19 und 13 K 13015/21 aufgehoben.
Die Entscheidung ergeht gebührenfrei.
Tatbestand
I.
Rz. 1
Mit dem angefochtenen Beschluss vom 08.11.2022 setzte die Einzelrichterin gegen die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) in der mündlichen Verhandlung über die Verfahren 13 K 13324/19 und 13 K 13015/21 ein Ordnungsgeld wegen Ungebühr in Höhe von 100 € fest. Im Protokoll über die mündliche Verhandlung ist hierzu Folgendes erfasst:
"[...] Die Klägerin weist das Gericht auf Dokumente und Schriftsätze aus dem Einspruchsverfahren hin mit der Aufforderung zu erklären und zu protokollieren, ob es diese Dokumente kenne und wie es diese im Hinblick auf eine Amtspflichtverletzung des Beklagten bewerte. Die Klägerin ignoriert die wiederholten Hinweise des Gerichts auf die Prozessordnung und verweigert eine Antragstellung ohne die zuvor erfolgten Protokollierungen. Das Gericht weist die Klägerin darauf hin, dass ihr Verhalten die Verhandlung erheblich stört und eine Missachtung des Gerichts darstellt und bei Fortsetzung ein Ordnungsgeld verhängt werden kann.
Da die Klägerin auch diesen Hinweis ignoriert, ergeht folgender Beschluss [...]"
Rz. 2
Die Klägerin legte am 22.03.2023 gegen den Ordnungsgeldbeschluss (Zustellung am 09.03.2023) Beschwerde ein. Die Einzelrichterin hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 3
1. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig. Sie ist insbesondere fristgerecht erhoben. Dies gilt unabhängig davon, ob die Beschwerdefrist nach § 52 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 181 Abs. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) eine oder nach § 129 Abs. 1 FGO zwei Wochen beträgt. Die Klägerin hat zwar nicht innerhalb von einer Woche nach Zustellung des Ordnungsgeldbeschlusses Beschwerde eingelegt. Allerdings wäre bei Annahme einer sich aus § 181 Abs. 1 GVG ergebenden einwöchigen Rechtsmittelfrist die Rechtsmittelbelehrung im Ordnungsgeldbeschluss unrichtig, da dieser eine zweiwöchige Frist enthält. Da die Klägerin die Beschwerde innerhalb einer Frist von zwei Wochen eingelegt hat, ist nicht streiterheblich, ob sich die Beschwerdefrist in dem Fall, in dem in der Rechtsmittelbelehrung statt der gesetzlich vorgeschriebenen Frist eine zu lange Frist angegeben wird, die fehlerhaft ausgewiesene Frist oder die Jahresfrist des § 55 Abs. 2 FGO gilt (offengelassen in Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 08.04.2004 - VII B 181/03, BFH/NV 2004, 1284, Rz 7).
Rz. 4
2. Die Beschwerde ist auch begründet. Der Ordnungsgeldbeschluss ist rechtswidrig, weil das Finanzgericht (FG) gegen die Protokollierungspflicht nach § 182 GVG verstoßen hat.
Rz. 5
a) Rechtsgrundlage des Ordnungsgeldbeschlusses ist § 52 Abs. 1 FGO i.V.m. §§ 176 ff. GVG. Gemäß § 178 Abs. 1 Satz 1 GVG kann unter anderem gegen Parteien, die sich in der Sitzung einer Ungebühr schuldig machen, vorbehaltlich der strafgerichtlichen Verfolgung ein Ordnungsgeld bis zu 1.000 € oder Ordnungshaft bis zu einer Woche festgesetzt und sofort vollstreckt werden. Über die Festsetzung von Ordnungsmitteln entscheidet gegenüber Personen, die bei der Verhandlung nicht beteiligt sind, der Vorsitzende, in den übrigen Fällen das Gericht (§ 178 Abs. 2 GVG). Wenn ein Ordnungsmittel wegen Ungebühr festgesetzt worden ist, so ist der Beschluss des Gerichts und dessen Veranlassung in das Protokoll aufzunehmen (§ 182 GVG).
Rz. 6
b) § 182 GVG bestimmt den Mindestinhalt des Protokolls bei Ordnungsmitteln. Sinn der Vorschrift ist es, den gesamten Geschehensablauf, der zu dem Beschluss geführt hat, unter dem unmittelbaren frischen Eindruck des Geschehens von dem Protokollierenden --so konkret wie möglich-- schriftlich niederlegen zu lassen, um dem Beschwerdegericht ein möglichst objektives, von Erinnerungsfehlern freies und so umfassendes Bild des Vorgangs zu geben, dass es Grund und Höhe der Festsetzung des Ordnungsmittels regelmäßig ohne weitere Ermittlungen nachprüfen kann (Kissel/Mayer, Gerichtsverfassungsgesetz, § 182 Rz 2; Zöller/Lückemann, ZPO, 35. Aufl., § 182 GVG Rz 2; Sächsisches Landessozialgericht --LSG--, Beschluss vom 20.12.2016 - L 3 AS 1111/14 B, juris, Rz 17). Aus § 182 GVG folgt, dass sowohl der Ordnungsmittelbeschluss als auch dessen Veranlassung in das Protokoll aufzunehmen sind (vgl. hierzu BFH-Beschluss vom 12.02.1959 - IV 73/58 U, BFHE 68, 422, BStBl III 1959, 161, unter 2. [Rz 11]). Das Geschehen, das als Ungebühr betrachtet wird, ist zu protokollieren. Es ist eine wertungsfreie, möglichst genaue Schilderung des Vorgangs erforderlich. Aus dem Sitzungsprotokoll muss im Einzelnen genau hervorgehen, auf Grund welcher Tatsachen und Umstände das Gericht das Ordnungsmittel ergriffen hat. Eine nachträgliche Ergänzung des Protokollierten ist nicht zulässig (vgl. Sächsisches LSG, Beschluss vom 20.12.2016 - L 3 AS 1111/14 B, juris, Rz 20, m.w.N.).
Rz. 7
c) Nach den aufgeführten Grundsätzen ist der Sachverhalt, der zur Verhängung des Ordnungsgeldes geführt hat, nicht ausreichend protokolliert worden. Im Sitzungsprotokoll ist insbesondere zu den Äußerungen der Klägerin nach der Androhung eines Ordnungsgeldes durch das Gericht lediglich protokolliert, dass die Klägerin diesen Hinweis ignoriert habe. Die erforderliche Beschreibung eines konkreten Verhaltens liegt hierin nicht. Auch für den Zeitraum zuvor ist aus dem Sitzungsprotokoll nicht ersichtlich, wie sich die Klägerin im Einzelnen geäußert haben soll. Dass es im Verlauf der mündlichen Verhandlung über einen längeren Zeitraum zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen der Einzelrichterin und der Klägerin gekommen war, legen sowohl der Inhalt der dienstlichen Stellungnahme der Einzelrichterin zum Ablehnungsantrag der Klägerin als auch die Einlassungen der Klägerin zum Fortgang der mündlichen Verhandlung dar. Damit sind die Vorkommnisse, die Auslöser für den Erlass des Ordnungsgeldbeschlusses waren, im Sitzungsprotokoll nicht hinreichend wiedergegeben.
Rz. 8
d) Ob ein weiterer Protokollierungsmangel darin liegt, dass die Begründung des Ordnungsgeldbeschlusses nicht nach den Maßgaben von § 182 GVG in das Sitzungsprotokoll aufgenommen wurde (vgl. hierzu Kissel/Mayer, Gerichtsverfassungsgesetz, § 182 Rz 9; Zöller/Lückemann, ZPO, 35. Aufl., § 182 GVG Rz 3, m.w.N.), kann dahingestellt bleiben. Dies gilt auch für die Rüge der Klägerin, ihr sei kein rechtliches Gehör vor Verkündung des Ordnungsgeldbeschlusses gewährt worden.
Rz. 9
e) Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben, da seine Rechtmäßigkeit mangels hinreichender Protokollierung des Anlasses nicht überprüft werden kann. Die Aufhebung des Ordnungsgeldbeschlusses unter gleichzeitiger Zurückverweisung der Sache an das FG scheidet aus, weil die sitzungspolizeiliche Gewalt mit dem Schluss der Sitzung endet (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 02.06.2010 - 1 BvR 448/06, Neue Zeitschrift für Sozialrecht 2011, 133, Rz 30).
Rz. 10
3. Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen.
Fundstellen
Haufe-Index 16576539 |
BFH/NV 2024, 1360 |
DStR 2024, 10 |