Entscheidungsstichwort (Thema)
NZB: Divergenz, Kindergeld
Leitsatz (NV)
1. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert keine Entscheidung des BFH, wenn die vom FG entschiedene Rechtsfrage nur noch für sehr wenige Fälle von Bedeutung ist, weil sie ausgelaufenes Recht betrifft.
2. § 70 Abs. 4 EStG regelt abschließend die Fälle, in denen sich die Prognoseentscheidung der Familienkasse hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge des Kindes nach Ablauf des Jahres als unzutreffend erweist.
Normenkette
EStG § 70 Abs. 4; FGO § 115 Abs. 2
Verfahrensgang
Hessisches FG (Urteil vom 20.11.2006; Aktenzeichen 9 K 413/05) |
Tatbestand
I. Die Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) hat einen im Jahr 1980 geborenen Sohn, der im August 1997 eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker begann.
Die Beklagte und Beschwerdeführerin (Familienkasse) zahlte der Klägerin aufgrund der in den Ausbildungsbescheinigungen enthaltenen Angaben zur Höhe der Ausbildungsvergütung bis einschließlich November 1999 Kindergeld für ihren Sohn. Mit Schreiben vom 8. März 1999 forderte die Familienkasse die Klägerin auf, eine Erklärung zu den Einkünften und Bezügen des Sohnes vorzulegen und mitzuteilen, ob der Sohn --wie sein älterer Bruder-- eine Halbwaisenrente beziehe. Die Klägerin gab in der Erklärung zu den Einkünften und Bezügen daraufhin an, dass der Sohn eine Halbwaisenrente in Höhe von monatlich 380 DM erhalte. Der Familienkasse war bereits in einer den älteren Bruder betreffenden Erklärung über dessen Einkünfte und Bezüge vom 30. März 1996 mitgeteilt worden, dass dieser eine Halbwaisenrente beziehe.
Mit Bescheid vom 19. Januar 2000 hob die Familienkasse unter Berufung auf § 175 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) die Festsetzung des Kindergeldes für den Sohn ab März 1998 auf und forderte das gezahlte Kindergeld zurück, da die Einkünfte und Bezüge des Sohnes in den Jahren 1998 und 1999 den jeweils maßgebenden Grenzbetrag (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes --EStG--) überschritten.
Während des finanzgerichtlichen Verfahrens beschränkte die Familienkasse durch Änderungsbescheid vom 15. August 2006 die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung auf den Zeitraum ab Januar 1999. Das Finanzgericht (FG) hob den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid in der Fassung des Änderungsbescheids auf. Es war der Auffassung, es hätten weder die Voraussetzungen des § 175 AO noch einer anderen Korrekturnorm für eine rückwirkende Aufhebung der Kindergeldfestsetzung vorgelegen.
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde beruft sich die Familienkasse auf die Erforderlichkeit einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das Urteil des FG weiche vom Urteil des BFH vom 30. November 2004 VIII R 6/03 (BFH/NV 2005, 890) ab. Der BFH habe dort entschieden, eine Kindergeldfestsetzung sei rückwirkend aufzuheben, wenn bekannt werde, dass die Einkünfte des Kindes den Grenzbetrag überschritten hätten. Die Familienkasse sei hierzu auch dann befugt, wenn die Kindergeldfestsetzung ursprünglich hätte unterbleiben müssen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet und wird zurückgewiesen (§ 132 FGO).
Die Revision ist nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO) zuzulassen.
Es kann offen bleiben, ob das Urteil des FG vom Urteil des BFH in BFH/NV 2005, 890 abweicht. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert jedenfalls keine Entscheidung des BFH, da die vom FG entschiedene Rechtsfrage nur noch für sehr wenige Fälle von Bedeutung ist, weil sie ausgelaufenes Recht betrifft (BFH-Beschluss vom 19. Juni 2006 I B 142/05, BFH/NV 2006, 1692, m.w.N.).
Ob die rückwirkende Aufhebung der Kindergeldfestsetzung wegen des Überschreitens der maßgeblichen Grenzbeträge im Streitfall zulässig ist, beurteilt sich nach der Rechtslage vor der Einführung des § 70 Abs. 4 EStG, der zum 1. Januar 2002 in Kraft getreten ist (vgl. Art. 1 Nr. 21 i.V.m. Art. 8 Abs. 1 des Zweiten Gesetzes zur Familienförderung vom 16. August 2001, BGBl I 2001, 2074, BStBl I 2001, 533). Nach § 70 Abs. 4 EStG ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten. § 70 Abs. 4 EStG regelt damit abschließend die Fälle, in denen sich die Prognoseentscheidung der Familienkasse hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge des Kindes nach Ablauf des Jahres als unzutreffend erweist (Senatsurteil vom 15. März 2007 III R 57/06, juris; so auch Helmke in Helmke/ Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 70 Rz 18.1).
Nach der Rechtslage vor Inkrafttreten des § 70 Abs. 4 EStG war die Familienkasse nach der Rechtsprechung des BFH befugt, eine Kindergeldfestsetzung, die vor oder während des Kalenderjahres erlassen worden ist, rückwirkend wieder aufzuheben, wenn abzusehen war oder bekannt wurde, dass die Einkünfte des Kindes den Grenzbetrag überschreiten würden oder überschritten hätten. Dabei ließ der BFH offen, ob die Änderung in diesen Fällen auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO allein oder i.V.m. § 175 Abs. 2 AO oder auf § 70 Abs. 2 EStG zu stützen war (BFH-Urteile vom 26. Juli 2001 VI R 83/98, BFHE 196, 265, BStBl II 2002, 85; VI R 55/00, BFHE 196, 270, BStBl II 2002, 86). Dies galt selbst dann, wenn die Kindergeldfestsetzung ursprünglich hätte unterbleiben müssen (BFH-Urteil in BFH/NV 2005, 890).
Ob das Urteil des FG von dieser Rechtsprechung abweicht, bedarf im Hinblick auf die seit 2002 geltende gesetzliche Neuregelung keiner höchstrichterlichen Entscheidung mehr, da diese nur noch für sehr wenige Fälle von Bedeutung wäre.
Fundstellen
Haufe-Index 1779183 |
BFH/NV 2007, 1866 |