Entscheidungsstichwort (Thema)
Mehrfach eingelegte Revision; Zulässigkeit der Revision bei fehlender Beschwer; nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts
Leitsatz (NV)
1. Wird eine zulassungsfreie Revision und nach Zulassung eine weitere Revision eingelegt, ist über beide Revisionen einheitlich zu entscheiden.
2. Ist mangels Beschwer eine Klage unzulässig, schließt dies die Zulässigkeit der Revision nicht aus.
3. Die Besetzungsrüge kann nur bei Vorliegen von Willkür durchgreifen.
4. Eine objektive Klagehäufung liegt nur vor, wenn mehrere Klagebegehren in einer einzigen Klageschrift zusammengefaßt werden.
Normenkette
GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; FGO §§ 4, 5 Abs. 3, §§ 14-27, 40 Abs. 2, §§ 43, 119 Nr. 1, § 120; GVG § 21e bis 21g
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) setzte mit zusammengefaßtem Bescheid vom 14. Februar 1986 gegen die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine GmbH, aufgrund der Ergebnisse einer Außenprüfung für 1980 negative Umsatzsteuer in Höhe von ... DM und für 1981 Umsatzsteuer in Höhe von ... DM fest. Das FA sah in dem Einspruch der Klägerin, mit dem sie sich gegen die Nichtberücksichtigung von Vorsteuerbeträgen in Höhe von ... DM für 1981 wandte, Einsprüche gegen die Umsatzsteuerbescheide für 1980 und 1981 und wies diese mit Einspruchsentscheidung vom 8. April 1987 als unbegründet zurück.
Die Klägerin erhob hiergegen mit Schriftsatz vom 8. Mai 1987 Klage. Mit weiteren Schriftsätzen gleichen Datums klagte sie gegen Körperschaftsteuerbescheide für 1980 und 1981 sowie gegen Feststellungsbescheide für 1980 bis 1982. Da sie die Klagen zunächst nicht begründet hatte, setzte ihr der Vorsitzende des - mit den Klagen befaßten - VI. Senats des Finanzgerichts (FG) durch Verfügung vom 17. Oktober 1990 gemäß Art. 3 § 3 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG) eine Frist bis zum 30. November 1990 für die Angabe der Tatsachen, die nach Auffassung der Klägerin bei den Entscheidungen berücksichtigt werden müßten.
Mit der Klagebegründung vom 6. März 1991 beantragte die Klägerin u. a. die ersatzlose Aufhebung der Umsatzsteuerbescheide für 1980 und 1981 vom 14. Februar 1986 und des Einspruchsbescheids vom 8. April 1987. Sie brachte vor, sie sei finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Einzelunternehmen ,,Grundstücksverpachtung..." eingegliedert.
Das FG wies die Klage mit der Begründung ab, der Klägerin stehe kein Vorsteuerabzug zu. Das Vorbringen im Schriftsatz vom 6. März 1991 werde nach Art. 3 § 3 VGFG-EntlG als verspätet zurückgewiesen.
Die Klägerin hat gegen dieses Urteil, mit dem die Revision nicht zugelassen worden war, unmittelbar Revision eingelegt (Schriftsatz vom 31. Oktober 1991). Sie rügt Verletzung des § 119 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Zur Begründung führt sie unter Vorlage des Geschäftsverteilungsplans des FG für 1987 näher aus, daß der VI. Senat für die Entscheidung nicht zuständig gewesen sei. Dadurch sei ihr der gesetzliche Richter entzogen worden.
Die Klägerin beantragt mit dieser Revision, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ließ das FG die Revision zu. Mit der daraufhin - nochmals - eingelegten Revision (Schriftsatz vom 20. Januar 1992) rügt die Klägerin Verletzung von § 119 Nr. 1 FGO, Art. 3 § 3 VGFGEntlG und § 2 Abs. 2 Nr. 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1980. Sie wiederholt ihr Vorbringen, daß der VI. Senatdes FG für die Entscheidung nicht zuständig gewesen sei, macht geltend, das FG habe das Vorbringen im Schriftsatz vom 6. März 1991 nicht zurückweisen dürfen, und beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Umsatzsteuerbescheide für 1980 und 1981 vom 14. Februar 1986 und die Einspruchsentscheidung vom 8. April 1987 ersatzlos aufzuheben.
Ferner bittet die Klägerin, die unter dem Datum vom 31. Oktober 1991 eingelegte Revision in das am 20. Januar 1992 eingeleitete Revisionsverfahren ,,hineinwachsen" zu lassen, so daß dadurch eine einheitliche Entscheidung ergehen könne.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
1. Über die mehrfach eingelegte Revision ist einheitlich zu entscheiden (Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 19. Juli 1984 IX R 16/81, BFHE 141, 467, BStBl II 1984, 833; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 120 Rz. 16 m. w. N.).
2. Die Revision ist nicht insoweit unzulässig, als sie das Streitjahr 1980 betrifft. Zwar würde sich für diesen Besteuerungszeitraum die Lage der Klägerin durch einen Erfolg ihres bisherigen Klageantrags, den Umsatzsteuerbescheid für 1980 aufzuheben, verschlechtern, weil für dieses Jahr negative Umsatzsteuer festgesetzt wurde. Ist mangels Beschwer (§ 40 Abs. 2 FGO) eine Klage unzulässig, schließt dies die Zulässigkeit der Revision aber nicht aus (Senatsurteil vom 21. November 1991 V R 20/87, BFHE 166, 506, BStBl II 1992, 446).
3. Die Voraussetzungen des absoluten Revisionsgrundes i. S. von § 119 Nr. 1 FGO sind erfüllt. Der VI. Senat des FG war für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht zuständig.
a) Eine nicht vorschriftsmäßige Besetzung i. S. des § 119 Nr. 1 FGO liegt vor, wenn bei der Zusammensetzung des Gerichts § 5 Abs. 3, §§ 14 bis 27 FGO nicht beachtet wurden oder wenn gegen die Vorschriften des § 4 FGO i. V. m. §§ 21e bis 21g des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) oder gegen den Geschäftsverteilungsplan des Gerichts verstoßen wurde (Beschluß des BFH vom 9. November 1990 X R 67/89, BFH/ NV 1991, 546). Nicht jeder dem Gericht hierbei unterlaufende Fehler begründet jedoch bereits eine vorschriftswidrige Besetzung. Die Besetzungsrüge kann nur bei Vorliegen von Willkür durchgreifen (BFH-Urteil vom 14. Juli 1987 VII R 17/87, BFH/NV 1988, 307; BFH-Beschlüsse vom 19. Februar 1987 IV R 190/84, BFH/NV 1988, 238; vom 6. Oktober 1988 IV R 11/87, BFH/NV 1989, 442; vom 21. November 1988 VIII R 5/88, BFH/NV 1989, 517; Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 2. Juli 1987 9 CB 7/87, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1988, 1339). Bei der Prüfung, ob Willkür vorliegt und damit der gesetzliche Richter entzogen ist (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes - GG -), kommt es nicht auf die Bewertung durch die Vorinstanz, sondern darauf an, ob objektiv ein entsprechender Verstoß vorliegt (BFH-Urteil in BFH/NV 1988, 307; Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 8. April 1987 2 BvR 687/85. BVerfGE 75, 223, 234, 245).
b) Die Prüfung, ob der zuständige Senat entschieden hat, ist anhand des für das Jahr der angefochtenen Entscheidung geltenden Geschäftsverteilungsplans des Gerichts vorzunehmen. Im Streitfall ist das der vom Präsidium des FG für den Zeitraum von 1. Januar bis 31. Dezember 1991 beschlossene Geschäftsverteilungsplan.
Nach diesem waren den Senaten jeweils ein allgemeines und ein besonderes Arbeitsgebiet zugewiesen (Abschn. 1 a). Das allgemeine Arbeitsgebiet des VI. Senats erstreckte sich nicht auf das beklagte FA. Als besonderes Arbeitsgebiet war diesem Senat die Bearbeitung von Rechtsstreitigkeiten mit folgenden Gegenständen übertragen: ,,Körperschaft- und Nebensteuern nebst Gewerbesteuer sowie Umsatzsteuer, soweit nicht der V. Senat zuständig ist, Kapitalertrag- und Aufsichtsratsteuer". Der V. Senat war, von hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen, zuständig (besonderes Arbeitsgebiet) für Umsatzsteuersachen.
Eine Zuständigkeit der Senate in besonderen Fällen sah Abschn. 1 b des Geschäftsverteilungsplans vor. Darunter fiel u. a. (Absch. 1 b bb) die objektive Klagehäufung. Die entsprechende Regelung lautete: ,,Im Fall der objektiven Klagehäufung (§ 43 FGO) ist, wenn auch Einkommen-, Gewerbe- oder Umsatzsteuer im Streit ist, zunächst der Senat zuständig, der zuständig wäre, wenn nur die Einkommen-, Gewerbe- oder Umsatzsteuer streitig wäre. In den übrigen Fällen des § 43 FGO richtet sich diese vorläufige Zuständigkeit nach der Abgabenart mit dem höchsten Streitwert. Der hiernach zuständige Senat entscheidet auch über die Trennung nach § 73 Abs. 1 FGO. ..." Abschn. 1 b cc) und dd) enthält Regelungen für die Fälle eines Wechsels des Beklagten sowie eines Wechsels der Zuständigkeit innerhalb des Gerichts.
c) Nach diesen Regelungen des Geschäftsverteilungsplans bestand unter keinem denkbaren Gesichtspunkt eine Zuständigkeit des VI. Senats für die Entscheidung der Streitsache.
Die Streitsache gehörte weder zum allgemeinen Arbeitsgebiet des VI. Senats (vgl. oben b) noch zu seinem besonderen Arbeitsgebiet; denn eine Ausnahme von der Zuständigkeit des V. Senats für Umsatzsteuersachen war nicht begründet. Eine objektive Klagehäufung (§ 43 FGO) lag nicht vor. Eine solche Klagehäufung ist nur gegeben, wenn mehrere Klagebegehren in einer einzigen Klageschrift zusammengefaßt werden (BFH-Beschluß vom 24. Oktober 1973 VII B 47/72, BFHE 110, 465, BStBl II 1974, 137).
Eine Zuständigkeit des VI. Senats folgt ebenfalls nicht aus den Regelungen zum Wechsel des Beklagten oder zum Wechsel der Zuständigkeit innerhalb des Gerichts.
4. Der Senat ist nicht in der Lage durchzuerkennen (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Auch wenn das FG verpflichtet gewesen sein sollte, das Vorbringen der Klägerin im Schriftsatz vom 6. März 1991 zu berücksichtigen und aufgrund dieses Vorbringens nach Klageantrag zu entscheiden, würde dies den Senat nicht berechtigen, seinerseits die unterlassenen Tatsachenfeststellungen nachzuholen (§ 118 Abs. 2 FGO, vgl. z. B. BFH-Urteil vom 6. Oktober 1976 I R 238/74, BFHE 120, 540, BStBl II 1977, 217, unter I.).
Fundstellen