Leitsatz (amtlich)
1. Es stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, wenn die Gründe des Urteils hinsichtlich eines wesentlichen Streitpunkts dadurch ersetzt werden, daß auf eine in einem anderen Rechtsstreit zwischen denselben Beteiligten ergangene, diesen jedoch erst erhebliche Zeit nach Beginn der Revisionsfrist zugestellte Entscheidung verwiesen wird.
2. Tatrichterliche Feststellungen, die sich in einem solchen Falle nicht aus dem angefochtenen Urteil selbst, sondern lediglich aus dem Inhalt der in Bezug genommenen Entscheidung ergeben, kann das Revisionsgericht nicht berücksichtigen.
Normenkette
FGO § 116 Abs. 1 Nr. 5, § 118 Abs. 2, § 119 Nr. 6, § 120 Abs. 1
Tatbestand
Die Klägerin, welche die Bewilligung zur Verteilung von steuerbegünstigtem Heizöl besitzt, hatte in der Zeit vom 27. August 1964 bis 17. März 1965 insgesamt 58 335 kg solchen Heizöls an die Firma ... geliefert. Diese Firma hatte früher einen zum Bezug von steuerbegünstigtem Mineralöl berechtigenden Erlaubnisschein besessen, der jedoch am 1. August 1964 eingezogen wurde. Die Klägerin erfuhr erst am 13. Juli 1965 von dem Widerruf der erteilten Bewilligung.
Das Hauptzollamt (HZA) forderte von ihr wegen dieses Sachverhalts durch Steuerbescheid vom 3. August 1965 19 979,70 DM Mineralölsteuer und 1 585 DM Säumniszuschlag. Die von der Steuerpflichtigen hiergegen nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage wurde abgewiesen. Gegen das Urteil des FG legte die Klägerin Revision ein, welche beim BFH anhängig ist.
Einen von der Klägerin gleichzeitig mit dem Einspruch gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung lehnte das HZA ab. Mit ihrer dagegen erhobenen Beschwerde machte die Klägerin geltend, daß ihre Inanspruchnahme für die Mineralölsteuer gegen Treu und Glauben verstoße.
Nachdem die OFD die Beschwerde zurückgewiesen hatte, erhob die Steuerpflichtige auch gegen die Ablehnung der Vollziehungsaussetzung Klage. Diese wurde durch Urteil des FG vom 29. März 1968 ebenfalls abgewiesen.
Im Tatbestand dieser Entscheidung führte die Vorinstanz aus, daß die Steuerpflichtige zur Begründung ihrer Klage ebenso wie das HZA im wesentlichen dasselbe vorgetragen hätte wie in der Klagesache wegen Mineralölsteuer. Insoweit werde auf das Urteil des FG II 922/66 Z verwiesen.
In den Entscheidungsgründen wurde zunächst der wesentliche Inhalt der für die Entscheidung der Verwaltungsbehörde über die Aussetzung der Vollziehung maßgebenden Vorschriften des § 242 AO a. F. und des § 69 Abs. 1 und 2 FGO wiedergegeben. Sodann führte die Vorinstanz wörtlich aus: "Im vorliegenden Falle bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide. Zur Begründung wird auf die Entscheidungsgründe im Urteil wegen der Hauptsache vom 29. März 1968 II 922/66 Z verwiesen." Im Anschluß daran befaßte sich das Urteil des FG mit der Frage, ob die Ablehnung der Aussetzung für die Klägerin eine unbillige Härte bedeute, was es ebenfalls verneinte.
Das auf die Klage gegen die Ablehnung der Vollziehungsaussetzung ergangene Urteil wurde der Klägerin am 24. April 1968, das am gleichen Tage erlassene Urteil in der Mineralölsteuersache selbst wurde ihr erst am 13. Mai 1968 zugestellt.
Mit ihrer gegen das erstgenannte Urteil erhobenen Revision beanstandet die Klägerin, daß das FG § 22 Abs. 2 der Verordnung zur Durchführung des Mineralölsteuergesetzes (MinöStDV) zu ihrem Nachteil ausgelegt habe. Bei einer richtigen Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben müsse die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide des HZA verneint werden.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG aufzuheben.
Der Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
Das Urteil des FG enthält eine zu seiner Aufhebung nötigende Verletzung des materiellen Rechts, nämlich des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO.
Nach dieser Vorschrift ist das auf die Verpflichtung des HZA zur Aussetzung der Vollziehung seines Mineralölsteuerbescheids vom 3. August 1965 gerichtete Klagebegehren zu beurteilen. Es ist deshalb zutreffend, wenn die Vorinstanz bei ihrer Entscheidung darauf abgestellt hat, ob an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes ernstliche Zweifel bestehen oder ob die Vollziehung für die Klägerin eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
Unzulässig war es jedoch, daß das FG das Ergebnis dieser Prüfung hinsichtlich des wesentlichsten Streitpunktes, nämlich der Verneinung ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Mineralölsteuerbescheids, lediglich mit der Verweisung auf die Entscheidungsgründe in seinem Urteil wegen der Hauptsache II 922/66 Z vom 29. März 1968 begründete.
Es ist dem Gericht zwar nicht schlechthin untersagt, im Tatbestand oder in den Entscheidungsgründen eines Urteils auf andere Schriftstücke Bezug zu nehmen. Eine derartige Verweisung kommt insbesondere hinsichtlich des Inhalts von Schriftsätzen der Beteiligten, Verhandlungs- und Vernehmungsprotokollen, von in einem vorangegangenen Verfahrensabschnitt ergangenen Entscheidungen sowie von sonstigen bei den Akten des Gerichts befindlichen Urkunden in Betracht. Ebenso wird man eine Bezugnahme auf veröffentlichte Urteile als unbedenklich ansehen müssen, und es erscheint darüber hinaus auch nicht grundsätzlich ausgeschlossen, auf eine sonstige in einem anderen Rechtsstreit zwischen den gleichen Beteiligten ergangene gerichtliche Entscheidung zu verweisen.
Die Besonderheit des Streitfalles liegt jedoch darin, daß das angefochtene Urteil den Beteiligten am 24. April 1968, die darin in Bezug genommene, in einem anderen Rechtsstreit ergangene Entscheidung des FG ihnen aber erst am 13. Mai 1968, also 19 Tage später zugestellt wurde. Das bedeutet, daß in der Vorentscheidung auf eine Urkunde verwiesen wurde, deren Inhalt der Klägerin bei Beginn der Revisionsfrist weder bekannt noch zugänglich war, und das hält der erkennende Senat für unstatthaft.
Die Befugnis des Gerichts, einzelne Teile der Urteilsgründe durch die Bezugnahme auf andere Schriftstücke zu ersetzen, findet nämlich dort ihre Grenze, wo diese Handhabung einen Beteiligten in der Wahrnehmung seiner prozessualen Rechte beeinträchtigen würde. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO den Beginn der Revisionsfrist an die Zustellung des vollständigen Urteils der Vorinstanz knüpft. Den Sinn dieser Regelung erblickt der Senat darin, daß der durch das Urteil Beschwerte mindestens einen Monat zur Verfügung haben soll, sich unter Berücksichtigung der schriftlichen Urteilsgründe darüber schlüssig zu werden, ob er das Urteil anfechten will (vgl. Urteil des BGH IV ZR 268/55 vom 10. März 1956, NJW 1956, 831). Er soll nicht in die Zwangslage versetzt werden, seine Überlegung und Entschließung über die Einlegung der Revision treffen zu müssen, ohne die Urteilsgründe in allen vom Gericht für wesentlich erachteten Punkten zu kennen. Infolgedessen würde es eine Beschneidung der den Beteiligten hinsichtlich der Einlegung der Revision vom Gesetz eingeräumten Überlegungsfrist und damit eine Beeinträchtigung ihres Rechtsschutzes bedeuten, wenn man es zuließe, daß wesentliche Teile der Urteilsgründe durch die Verweisung auf eine Urkunde ersetzt werden, welche den Beteiligten bei Beginn der Revisionsfrist weder bekannt noch zugänglich sind. Der Senat ist deshalb der Auffassung, daß der Inhalt einer solchen Urkunde durch eine derartige unzulässige Bezugnahme nicht zu einem Bestandteil der Urteilsgründe gemacht werden kann.
Für den Streitfall bedeutet dies, daß die Vorentscheidung keine tatsächlichen und rechtlichen Ausführungen zu der darin verneinten Frage enthält, ob an der Rechtmäßigkeit des von der Klägerin angefochtenen Steuerbescheids ernstliche Zweifel bestehen. Das Urteil ist deshalb hinsichtlich eines wesentlichen Streitpunkts nicht mit Gründen versehen.
Darin liegt zunächst ein wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne des § 119 Nr. 6 FGO (Urteil des BGH II ZR 22/59 vom 25. Januar 1960, BGHZ 32, 19 [24]; vgl. auch Urteil des BFH I R 27/68 vom 11. Juni 1969, BFH 95, 529, BStBl II 1969, 492), der indessen vom Revisionsgericht mangels Rüge nicht zu beachten ist.
Jedoch ergibt die unzureichende Begründung der Vorentscheidung darüber hinaus auch eine Verletzung des materiellen Rechts. Sie hat nämlich zur Folge, daß für die in dem Urteil des FG ausgesprochene Klageabweisung keine ausreichende tatsächliche Grundlage vorhanden ist. Zwar sind im Tatbestand der Vorentscheidung diejenigen Tatsachen festgestellt, aus denen sich ergibt, daß die vom HZA angeforderte Mineralölsteuerschuld in der Person der Klägerin unbedingt geworden ist. Der Eintritt dieser Rechtsfolge ist zwischen den Beteiligten auch gar nicht streitig; vielmehr hat sich die Klägerin in dem bisherigen Verfahren darauf berufen, daß die Erhebung der Mineralölsteuer im Streitfall wegen des vorangegangenen Verhaltens der Zollbehörde gegen Treu und Glauben verstoße. Welches Gewicht diesem Einwand bei einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage zukommt, ist deshalb in erster Linie für die nach § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO zu berücksichtigenden Erfolgsaussichten der gegen den Mineralölsteuerbescheid des HZA erhobenen Klage maßgebend. In seinem zur Hauptsache ergangenen Urteil II 922/66 hat sich die Vorinstanz auch im wesentlichen mit der Frage eines solchen Verstoßes gegen Treu und Glauben auseinandergesetzt. Allein den Gründen jener Entscheidung, nicht dagegen dem Inhalt des in dem vorliegenden Verfahren angefochtenen Urteils kann aber auch der Sachverhalt entnommen werden, den das FG der rechtlichen Beurteilung dieses Streitpunktes zugrunde gelegt hat.
Nun kann der BFH bei der Prüfung, ob die Vorentscheidung das materielle Recht verletzt, nur diejenigen tatrichterlichen Feststellungen berücksichtigen, die sich aus dem angefochtenen Urteil ergeben (§ 118 Abs. 2 FGO). D. h., daß diese Feststellungen entweder unmittelbar in den Urteilsgründen oder aber in Urkunden enthalten sein müssen, welche durch eine zulässige Bezugnahme Bestandteil der Urteilsgründe geworden sind. Diese letztere Voraussetzung ist, wie bereits dargelegt, hinsichtlich der vom FG in der Hauptsache ergangenen Entscheidung nicht erfüllt. Infolgedessen reichen die in der Vorentscheidung getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht aus, um die daran geknüpfte Rechtsfolge, nämlich, daß an der Rechtmäßigkeit des vom HZA erlassenen Mineralölsteuerbescheids keine ernstlichen Zweifel bestünden, zu decken. Dies bedeutet einen Fehler in der rechtlichen Subsumtion des Sachverhalts unter den Tatbestand des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO und damit eine Verletzung materiellen Rechts (vgl. Urteil des BFH II R 36/67 vom 5. März 1968, BFH 92, 417, BStBl II 1968, 610).
Das angefochtene Urteil mußte deshalb aufgehoben und die nicht spruchreife Sache an das FG zurückverwiesen werden (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 69009 |
BStBl II 1970, 494 |
BFHE 1970, 525 |
NJW 1971, 584 |