Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrechtliches Verhältnis zwischen vorläufiger und endgültiger Steuerbefreiung
Leitsatz (NV)
Vorläufige Steuerbefreiung gemäß § 1 Nr. 4 GrEStWoBauG NW und Nacherhebung der Steuer gemäß § 3 dieses Gesetzes sind verfahrensrechtlich voneinander unabhängige Vorgänge. Das FA kann daher die Steuer selbst dann nacherheben, wenn es die vorläufige Steuerbefreiung zu Unrecht gewährt hat.
Normenkette
GrEStWoBauG NW § 1 Nr. 4, § 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Durch notariell beurkundeten Vertrag vom 5. Januar 1970 kauften die Kläger je zur Hälfte ein Grundstück ,,nebst . . . aufstehenden, im Bau befindlichen teilfertigen Gebäuden". Weiter heißt es in dem Vertrag: ,,Zur Fertigstellung bedarf es noch Bauleistungen in Höhe von . . . Deutsche Mark. Die Käufer verpflichten sich, diese Bauleistungen selbst zu übernehmen und die Gebäude im eigenen Namen vollenden zu lassen. Hinsichtlich dieser Bauleistungen werden die Beteiligten noch besonders einen Werkvertrag abschließen." Der Kaufpreis für das Grundstück wurde mit . . . DM beziffert.
Den vorgenannten Werkvertrag schlossen die Kläger und die Grundstücksverkäuferin in notariell beurkundeter Form am selben Tag.
Die Kläger begehrten Grunderwerbsteuerbefreiung nach § 1 Nr. 4 des Gesetzes über die Grunderwerbsteuerbefreiung für den Wohnungsbau (GrEStWoBauG NW). Das beklagte Finanzamt (FA) antwortete am 6. April 1970 schriftlich, die Grunderwerbsteuer werde entsprechend der genannten Vorschrift nicht erhoben. Es werde gebeten, die Fertigstellung des Gebäudes mitzuteilen und anzuzeigen, wenn innerhalb der Fünfjahresfrist das Grundstück unbebaut oder mit einem nicht bezugsfertigen Gebäude veräußert oder wenn die Absicht, ein Gebäude im Sinne des Antrages zu errichten, aufgegeben werde. Weiter heißt es in dem Schreiben: ,,Ich weise darauf hin, daß die Steuer nacherhoben wird, falls die im o. a. Gesetz für die Befreiung geforderten Voraussetzungen nicht erfüllt werden."
Mit Schreiben vom 13. Oktober 1972 bat das FA die Kläger unter anderem um Vorlage des Werkvertrages und um Mitteilung über den Stand des Bauvorhabens bei Abschluß des Grundstückskaufvertrages am 5. Januar 1970. Nachdem die Kläger geantwortet und unter anderem eine Fotokopie des Werkvertrages übersandt hatten, setzte das FA mit zwei Bescheiden vom 24. Juli 1973 gegen jeden der Kläger . . . DM Grunderwerbsteuer fest. Es war der Auffassung, die Kläger hätten ein Grundstück mit schlüsselfertigem Gebäude erworben.
Nach erfolglosen Einsprüchen hob das Finanzgericht (FG) die Steuerbescheide nebst Einspruchsentscheidungen auf.
Mit seiner Revision beantragt das FA, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
1. Das angefochtene Urteil muß aufgehoben werden, weil das FG die Grundsätze von Treu und Glauben und § 222 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsabgabenordnung - AO - (jetzt § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung - AO 1977 -) nicht richtig angewendet hat.
Nach Ansicht des FG enthält das Schreiben des FA vom 6. April 1970 einen begünstigenden Verwaltungsakt. Dieser könne nach Treu und Glauben nur so verstanden werden, daß lediglich künftige, jetzt noch nicht überprüfbare Tatsachen zur Nacherhebung der Steuer berechtigen sollten. Der Werkvertrag sei keine solche Tatsache gewesen. Das FA habe von ihm schon durch den Grundstückskaufvertrag erfahren und ihn (den Werkvertrag) daher vor Absendung des Schreibens vom 6. April 1970 bei den Klägern anfordern und dann überprüfen können. Dieselbe Rechtsfolge ergebe sich aus § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO. Der Werkvertrag sei keine neue Tatsache gewesen, denn das FA habe von Anfang an von ihm gewußt.
Dieser Auffassung des FG schließt sich der Senat nicht an.
Nachdem das FA mit dem Schreiben vom 6. April 1970 gemäß § 1 Nr. 4 GrEStWoBauG NW vorläufig keine Grunderwerbsteuer erhoben und auf eine mögliche spätere Nacherhebung der Steuer hingewiesen hatte, enthalten die angefochtenen Steuerbescheide vom 24. Juli 1973 eine solche Nacherhebung gemäß § 3 GrEStWoBauG NW. Daß und aus welchen Gründen das FA keinen Zuschlag gemäß § 3 Abs. 5 GrEStWoBauG NW erhoben hat, ist dabei unerheblich.
Durch die materiell vorläufige Freistellung von der Steuer mit dem Schreiben des FA vom 6. April 1970 konnte weder nach Treu und Glauben noch gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO die Nacherhebung der Steuer gehindert werden, weil sie verfahrensmäßig gegenüber der vorläufigen Freistellung ein gesonderter Steuerfall ist. Diese Trennung ergibt sich aus dem verschiedenen Inhalt der beiden Entscheidungen des FA. Die vorläufige Steuerbefreiung wurde anhand vorläufiger Erkenntnisse gewährt; spätere Erkenntnisse konnten erst im Nacherhebungsverfahren zum Zuge kommen. Demnach konnte das FA bei der Entscheidung über die Nacherhebung der Steuer den Sachverhalt uneingeschränkt und ohne Rücksicht darauf überprüfen, ob die vorläufige Steuerbefreiung zu Recht gewährt worden war (Urteil des Bundesfinanzhofs vom 13. Februar 1985 II R 74/82, BFHE 143, 163, BStBl II 1985, 374).
2. Anhand des bisher festgestellten Sachverhaltes kann der Senat nicht überprüfen, ob die tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Steueranspruchs vorliegen. Die Sache wird daher zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts an das FG zurückverwiesen. Diesem wird auch die Entscheidung über die Kosten übertragen (§ 143 Abs. 2 FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 415017 |
BFH/NV 1988, 595 |