Leitsatz (amtlich)
Die Erinnerungsentscheidung des Vorsitzenden des Finanzgerichts nach § 323 Abs. 3 Satz 2 AO ist eine richterliche Entscheidung. Gegen sie ist nach § 323 Abs. 4 AO kein Rechtsmittel gegeben.
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4; AO § 323 Abs. 3 S. 2, Abs. 4; BFHG § 4 S. 1 Nr. 1
Tatbestand
Die Bgin. hatte in ihrer Aufsichtsratsteuersache gegen die Einspruchsentscheidung des Finanzamts bei diesem durch ihren Prozeßbevollmächtigten, einen Steuerberater, Berufung an das Niedersächsische Finanzgericht eingelegt und durch den Steuerberater eine Berufungsbegründungsschrift und eine weitere Begründung eingereicht. Das Finanzamt hatte sich durch die in den Schriftsätzen gegebene Begründung davon überzeugt, daß dem Rechtsmittelbegehren voll zu entsprechen sei; es hatte deshalb den angefochtenen (Haftungs-)Bescheid nach § 94 AO geändert und die dadurch in der Hauptsache erledigte Berufung dem Finanzgericht wegen der von ihm noch zu treffenden Kostenentscheidung vorgelegt. Der Vorsitzende der zuständigen Kammer des Finanzgerichts hatte durch Vorbescheid vom 29. Januar 1960 die Berufung für in der Hauptsache erledigt erklärt und die Kosten des finanzgerichtlichen Verfahrens dem Land auferlegt. Diese Entscheidung wurde rechtskräftig.
Die Bgin. beantragte bei der Geschäftsstelle des Finanzgerichts mit Gesuch vom 24. Februar 1960 Kostenerstattung; sie forderte je eine Prozeß-, Verhandlungs-, Beweis- und Erledigungsgebühr sowie Auslagen für Postgebühren. Die Geschäftsstelle des Finanzgerichts gab durch Beschluß vom 7. März 1960 dem Erstattungsantrag nur hinsichtlich der Prozeß- und der Verhandlungsgebühr sowie der Auslagen statt, eine Erstattung der Beweis- und der Erledigungsgebühr lehnte sie ab. Die Bgin. legte Erinnerung ein; über sie entschied zunächst der Vorsitzende der Kammer des Finanzgerichts durch "Vorbescheid" vom 28. Juni 1960, der in den "Entscheidungen der Finanzgerichte" (EFG) 1961 S. 129 Nr. 156 abgedruckt ist; es wurde auch die Erledigungsgebühr zugebilligt. Das Finanzamt beantragte die Entscheidung der Kammer. Das Finanzgericht entschied durch Beschluß vom 5. August 1960. Es erklärte die Erinnerung für zulässig und hob den angefochtenen Kostenfestsetzungsbeschluß der Geschäftsstelle des Finanzgerichts vom 7. März 1960 auf; es setzte die zu erstattenden Kosten unter Zubilligung der Erledigungsgebühr fest; der Beschluß erging kostenfrei. Das Finanzgericht führte zur Frage der Zulässigkeit der Erinnerung in der Begründung insbesondere folgendes aus: Diese Zulässigkeit ergebe sich aus § 323 AO und § 12 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über das Niedersächsische Finanzgericht vom 10. Dezember 1949 (Niedersächsisches GVBl 1949 S. 219) mit Änderungen. Die dem Vorsitzenden des Finanzgerichts obliegende Entscheidung über die Erinnerung sei kein Verwaltungsakt, sondern eine in richterlicher Unabhängigkeit zu treffende gerichtliche Entscheidung, gegen welche die Beteiligten die (kostenfreie) Entscheidung des Finanzgerichts beantragen könnten; hiergegen sei nach Maßgabe des § 286 AO die Rb. zulässig. "Demgemäß" sei kein Raum für den nur bei Verwaltungsakten gegebenen Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG). Diese das Verfahren "bei allen Vorbescheiden des Kammervorsitzenden" betreffende Rechtsauffassung vertrete das Finanzgericht ständig; sie werde jetzt auch vom Bundesfinanzhof, erstmalig in dem Urteil I 10/58 S vom 16. Februar 1960 (BStBl 1960 III S. 145, Slg. Bd. 70 S. 388) vertreten, das allerdings lediglich von der Erinnerung gegen die Streitwertfeststellung handle.
Der Vorsteher des Finanzamts hat gegen die Vorentscheidung Rb. eingelegt. Er macht geltend, das Finanzgericht habe der Bgin. zu Unrecht eine Verhandlungsgebühr und eine Erledigungsgebühr zuerkannt.
Auf Ersuchen des Vorsitzenden des erkennenden Senats ist der Bundesminister der Finanzen dem Verfahren beigetreten. Er hat u. a. ausgeführt: Es treffe zu, daß eine Entscheidung des Kammervorsitzenden nach § 323 Abs. 3 Satz 2 AO keine Entscheidung verwaltungsmäßiger Art, sondern eine in richterlicher Unabhängigkeit ergehende sei; dann bestünden jedoch erhebliche Bedenken, § 323 Abs. 4 AO in derartigen Fällen nicht anzuwenden; Art. 19 Abs. 4 GG komme hier nicht zum Zuge. Nicht unbedenklich sei es, daß die Vorinstanz die Anrufung der Kammer zugelassen habe.
Entscheidungsgründe
Die Rb. des Vorstehers des Finanzamts ist unzulässig.
Die Vorschriften der AO für das Berufungsverfahren mit Rechtszug bis zum Bundesfinanzhof sind auf Fälle der vorliegenden Art nicht anwendbar. Vielmehr hat die AO durch die besondere Vorschrift des § 323 Abs. 3 Satz 2 für Erinnerungen gegen einen Bescheid, den die Geschäftsstelle eines Finanzgerichts erlassen hat, bestimmt, daß über die Erinnerung der Vorsitzende des Finanzgerichts entscheidet. Nach § 323 Abs. 4 AO ist gegen die Entscheidung, die über die Erinnerung u. a. seitens des Vorsitzenden des Finanzgerichts ergeht, ein Rechtsmittel nicht gegeben. Die Vorschrift des Abs. 4 a. a. O. ist für diejenigen Fälle, in denen die Erinnerungsentscheidung durch den Vorsitzenden des Finanzgerichts ergangen ist (Abs. 3 Satz 2 a. a. O.), nicht überholt. Insbesondere steht ihr nicht die Vorschrift des Art. 19 Abs. 4 GG entgegen. Es handelt sich in den Fällen, in denen der Vorsitzende des Finanzgerichts nach § 323 Abs. 3 Satz 2 AO entscheidet, wie das Finanzgericht in der Vorentscheidung und der Bundesminister der Finanzen in seiner Stellungnahme zutreffend annehmen, um eine gerichtliche, und zwar um eine richterliche Entscheidung, die in richterlicher Unabhängigkeit getroffen wird. An der zunächst von dem früher zuständigen II. Senat des Bundesfinanzhofs im Urteil II 218/53 S vom 17. Februar 1954 (BStBl 1954 III S. 117, Slg. Bd. 58 S. 540) vertretenen gegenteiligen Auffassung, es handle sich um eine Entscheidung verwaltungsmäßiger Art, hält der erkennende Senat, auf den die Zuständigkeit zur Entscheidung in diesen Sachen inzwischen übergegangen ist, nicht fest. Liegt aber in der Erinnerungsentscheidung eine richterliche Entscheidung des Vorsitzenden des Finanzgerichts, so greift auch die Vorschrift des Art. 19 Abs. 4 GG nicht ein Letztere will den Bürger gegen Verletzungen in seinen Rechten durch die öffentliche Gewalt schützen. Er bietet ihm Schutz durch den Richter, nicht aber Schutz gegen den Richter (vgl. Maunz-Dürig, Grundgesetz, Randziffer 17 -- III 1c -- zu Art. 19 Abs. 4 GG mit weiteren Nachweisen). Auch das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach ausgesprochen (vgl. u. a. Bundesverfassungsgericht in den Entscheidungen vom 21. Oktober 1954 1 BvL 9/51, 2/53, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfGE -- Bd. 4 S. 74, 94/95, und vom 8. Oktober 1956 1 BvR 205/56, BVerfGE Bd. 6 S. 7, 12), daß kein Verfassungsgrundsatz besteht, daß in gerichtlichen Verfahren schlechthin ein Instanzenzug erforderlich sei. Schutz gegen richterliche Entscheidungen wird nach Maßgabe der einzelnen Prozeßordnungen gewährt. Die Regelung des § 323 Abs. 4 AO widerspricht sonach für diejenigen Fälle, in denen der Vorsitzende des Finanzgerichts über die Erinnerung entscheidet, nicht dem GG. Auch aus dem Urteil des I. Senats des Bundesfinanzhofs I 10/58 S vom 16. Februar 1960 (a. a. O.), das ausspricht, Streitwertfeststellungen der Finanzgerichte können in den Grenzen des § 286 Abs. 1 AO mit der Rb. selbständig angefochten werden, ist für die einschlägigen Fälle nichts Gegenteiliges zu entnehmen. Die in dem Urteil des I. Senats zur Entscheidung stehenden Streitfragen betrafen andere Fälle, in denen nicht eine Vorschrift wie die des § 323 Abs. 4 AO hinsichtlich gerichtlicher Entscheidungen entgegenstand. Auch aus § 237 Abs. 1 AO sowie aus einzelnen Sonderregelungen der AO wie derjenigen des § 271 Abs. 3, die anders liegende Fälle betreffen, kann nichts Gegenteiliges entnommen werden. Für die den Gegenstand dieses Rechtsstreits bildenden Fälle hat die AO die Sonderregelung des § 323 Abs. 4 getroffen, die einer sinngemäßen Anwendung von Bestimmungen wie § 271 Abs. 3 AO entgegensteht. Auch die Regelung des § 4 Satz 1 Nr. 1 des Gesetzes über den Bundesfinanzhof findet im Streitfall keine Anwendung; denn es handelte sich bei der Entscheidung des Vorsitzenden des Finanzgerichts wie bei der Entscheidung der Kammer des Finanzgerichts nicht um Entscheidungen "im Beschwerdeverfahren", sondern um eine Erinnerungsentscheidung des Vorsitzenden des Finanzgerichts und um eine Anrufung der Kammer gegen die Entscheidung des Vorsitzenden.
Da die Rb. des Vorstehers des Finanzamts somit unzulässig ist, bedarf es im Streitfall keiner Prüfung der Frage, ob der vom Finanzgericht in der Vorentscheidung angezogene § 12 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über das Niedersächsische Finanzgericht (der inzwischen aufgehoben worden ist) rechtswirksam war; ferner sind die materiellen Fragen, ob der Bgin. eine Verhandlungsgebühr und eine Erledigungsgebühr mit Recht zugebilligt worden sind, nicht zu prüfen.
Fundstellen
Haufe-Index 411650 |
BStBl III 1965, 369 |
BFHE 1965, 340 |