Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Wird dem Steuerpflichtigen vom Finanzamt im Einspruchsverfahren ein für die Entscheidung der Streitsache bedeutsames Gutachten übersandt und ist er nach den Umständen zur Annahme berechtigt, daß er zu diesem Gutachten in angemessener Frist Stellung nehmen soll, so darf er darauf vertrauen, daß vor Ablauf dieser Frist keine Einspruchsentscheidung ergeht, insbesondere keine "verbösernde" im Sinne des § 243 Abs. 3 AO.

 

Normenkette

AO § 243 Abs. 3, § 248/1; StAnpG § 1

 

Tatbestand

Der Beschwerdeführer (Bf.), der seine im eigenen Grundstück betriebene Metzgerei im April 1954 aufgab, ermittelte seinen Gewinn nach § 4 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Das zu 1/3 dem Betrieb dienende Grundstück wurde von ihm in der Vermögensübersicht zutreffend - darüber besteht auch zwischen den Beteiligten Einhelligkeit - mit dem anteiligen Einheitswert in Höhe von 28.700 DM ausgewiesen. Im Hinblick auf die Vorschrift des § 16 Abs. 3 EStG, nach der die Aufgabe des Gewerbebetriebs als Veräußerung gilt und bei Errechnung des Veräußerungsgewinns für die nichtveräußerten Wirtschaftsgüter deren gemeiner Wert im Zeitpunkt der Betriebsaufgabe anzusetzen ist, ergab sich die Frage nach dem gemeinen Wert des bis zur Betriebsaufgabe betrieblich genutzten und zum Betriebsvermögen des Bf. gehörigen Grundstücksanteils. Während der Bf. im Veranlagungsverfahren die Auffassung vertrat, daß die überführung des Grundstücksteils in sein Privatvermögen nicht zu einem Veräußerungsgewinn führen könne, errechnete das Finanzamt folgenden, der Veranlagung zugrunde gelegten Veräußerungsgewinn:

Bilanzansatz ----------------------- 28.700 DM Grund und Boden --------------------- 5.740 DM Buchwert des Gebäudeteils ---------------------- 22.960 DM gemeiner Wert ---------------------- 57.000 DM Grund und Boden --------------------- 5.740 DM gemeiner Wert des Gebäudeteils ----------------- 51.260 DM Veräußerungsgewinn ----------------------------- 28.300 DM. Im Einspruchsverfahren hielt der Bf. seinen bereits im Veranlagungsverfahren vertretenen Standpunkt aufrecht und begründete ihn durch Schriftsatz vom 2. Juni 1956 damit, daß sich ein Veräußerungsgewinn nur durch das "Verbot des Ansatzes des Zeitwerts in der DM-Eröffnungsbilanz" ergeben habe. Nach § 16 des D-Markbilanzgesetzes (DM BG) habe er keine andere Wahl gehabt und den anteiligen Einheitswert ansetzen müssen. Da dies im Hinblick auf die Bewertungsvorschriften des EStG "ein krasser Ausnahmefall" sei, müsse ihm auch in seinen Auswirkungen Rechnung getragen werden. Dem Ersuchen des Finanzamts, ein Sachverständigengutachten zur Höhe des Gebäudewerts im Zeitpunkt der Betriebsaufgabe beizubringen, kam er nicht nach. Nach einem nunmehr vom Finanzamt eingeholten Gutachten des Stadtbauamts ergab sich ein anteiliger Gebäudewert von 59.710 DM, so daß sich der Veräußerungsgewinn danach nicht - wie vom Finanzamt im Veranlagungsverfahren ermittelt - auf 28.300 DM, sondern auf 59.710 DM - 22.960 DM = 36.750 DM belief. Das zahlenmäßige Ergebnis des Gutachtens, das dem Finanzamt vom Stadtbauamt nur fernmündlich übermittelt worden war, wurde dem Vertreter des Bf. vom Finanzamt zunächst ebenfalls nur fernmündlich mit dem Hinweis bekanntgegeben, daß sich das Finanzamt dem Gutachten anschließen werde, worauf der Bf. dem Finanzamt mit Schreiben vom 9. Juli 1957 folgendes mitteilte:

"Nach Mitteilung des Finanzamtes liegt beim Finanzamt ein Gutachten vor, welches den Gebäudewert auf DM 179.462,00 und den Grundwert auf DM 38.400,00 festlegt. Ich kann leider auf dieser Grundlage eine Einigungsmöglichkeit nicht finden und verbleibe bei meinen Ausführungen im Schreiben vom 2. Juni 1956."

Etwa eine Woche später ging dem Vertreter des Bf. das Gutachten mit einem keinerlei sonstige Hinweise enthaltenden übersendungsschreiben vom 15. Juli 1957 zu. Am gleichen Tage hatte der Steuerausschuß bereits die änderung des Steuerbescheids zum Nachteil des Bf. im Sinne des Gutachtens beschlossen. Die Unterzeichnung der Einspruchsentscheidung durch den zuständigen Sachgebietsleiter erfolgte am 23. Juli 1957. Mit Schreiben vom 22. Juli 1957, das den Eingangsstempel des Finanzamts vom 23. Juli 1957 trägt, nahm der Vertreter des Bf. in dessen Auftrag den Einspruch zurück. Das Rücknahmeschreiben vom 22. Juli 1957 wurde nach der Darstellung des Finanzamts vom einer Angestellten des Vertreters am 23. Juli 1957 im Finanzamt etwa 1 3/4 Stunden nach der Unterzeichnung der Einspruchsentscheidung und damit nach § 253 Satz 1 der Reichsabgabenordnung (AO) verspätet überreicht.

Mit der Berufung machte der Bf. geltend, daß die Einspruchsrücknahme noch vor der Unterzeichnung der Einspruchsentscheidung erfolgt sei, so daß die Entscheidung ersatzlos aufzuheben sei. Außerdem sei die gemäß § 243 Abs. 3 AO zu seinem Nachteil erfolgte änderung des Steuerbescheids unzulässig gewesen, da das Finanzamt ihn nicht rechtzeitig vorher dazu gehört, mithin den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt habe.

Das Finanzgericht hat mündlich verhandelt und in dieser Verhandlung eingehend Beweis über den Zeitpunkt der Einspruchsrücknahme erhoben. Durch die Beweisaufnahme ist einwandfrei klargestelt, daß das die Einspruchsrücknahme enthaltende Schreiben vom 22. Juli 1957 im Finanzamt am 23. Juli 1957 von der Angestellten des Vertreters des Bf. erst nach der Unterzeichnung der Einspruchsentscheidung übergeben worden ist. Dieser Punkt ist auch nicht mehr Gegenstand der Erörterung zwischen den Beteiligten. Das Finanzgericht hat weiter zu dem Einwand des Bf. Stellung genommen, daß das Finanzamt in seiner Einspruchsentscheidung den Steuerbescheid in verfahrensrechtlich unzulässiger Weise zum Nachteil des Bf. geändert habe. Es hat in dieser Hinsicht entscheidenden Wert auf das Schreiben des Bf. vom 9. Juli 1957 gelegt und ausgeführt, das Finanzamt habe aus diesem Schreiben entnehmen dürfen, daß der Bf. auch weiterhin den Veräußerungsgewinn nicht nur der Höhe, sondern auch dem Grunde nach bestreiten wolle und daß deshalb eine Einspruchsrücknahme für ihn nicht in Betracht komme, weil er es erforderlichenfalls auf eine Entscheidung durch das Finanzgericht ankommen lassen wolle. Es hat daher keinen Anlaß gesehen, die Sache gemäß § 284 Abs. 1 AO an das Finanzamt zur nochmaligen Entscheidung zurückzuverweisen, und in der Sache selbst entschieden. Da der Bf. und seine Ehefrau Zusammenveranlagung beantragt haben, gegen die Steuerfestsetzung als solche vom Bf. keine Einwendungen erhoben worden sind und Bedenken gegen sie auch sonst für das Finanzgericht nicht ersichtlich waren, hat es die Berufung als unbegründet zurückgewiesen.

 

Entscheidungsgründe

Die Rechtsbeschwerde ist begründet.

Der von der Verwaltung mit Recht betonten Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen entspricht sein Recht auf Mitwirkung im Veranlagungsverfahren und im Rechtsmittelverfahren. Er hat das Recht, in angemessener Frist zur Sache gehört zu werden, und er darf darauf vertrauen, daß er vorher nicht mit einer für ihn nachteiligen Entscheidung überrascht wird. Das Recht des Steuerpflichtigen, sich zur Sache zu äußern und an der Sachaufklärung mitzuwirken, kann noch im Verfahren vor dem Finanzgericht als Tatsacheninstanz verwirklicht werden. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die Einspruchsinstanz berechtigt daher für sich allein das Finanzgericht grundsätzlich nicht, die Sache unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung an das Finanzamt zurückzuverweisen. Anders verhält es sich mit der Möglichkeit der Einspruchsrücknahme. Der in dieser Hinsicht entstandene Nachteil könnte nur durch Zurückverweisung behoben werden. Es fragt sich, ob insoweit ein "besonderer Grund" im Sinne des § 284 Abs. 1 AO für eine Zurückverweisung an das Finanzamt anzuerkennen ist. Die Frage ist im Schrifttum und in der Rechtsprechung umstritten. Das Finanzgericht hat sie auf sich beruhen lassen. Es ist der Auffassung, daß sie deshalb dahingestellt bleiben könne, weil der Bf. in seinem Schreiben vom 9. Juli 1957 - insbesondere durch die darin enthaltene Bezugnahme auf seine Einspruchsbegründung vom 2. Juni 1956 - eindeutig zum Ausdruck gebracht habe, daß er die Entstehung eines Veräußerungsgewinns durch überführung des Gebäudeteils in sein Privatvermögen auch weiterhin verneine und daher eine Zurücknahme des Einspruchs für ihn nicht in Betracht komme. Es ist keineswegs unzweifelhaft, ob nach dem Schreiben des Bf. vom 9. Juli 1957 - er hatte bei seiner Absendung das Gutachten des Stadtbauamts noch nicht in Händen - eine Folgerung von so weittragender Bedeutung gerechtfertigt ist. Für die Auffassung des Finanzgerichts könnte allerdings der Umstand sprechen, daß der Bf. in seinem Schreiben vom 9. Juli 1957 auf seine Einspruchsbegründung vom 2. Juni 1956 Bezug genommen hat, in der er mit eingehenden Darlegungen die Entstehung eines Veräußerungsgewinns überhaupt verneint hat. Aber auch das kann auf sich beruhen. Es kommt darauf nicht an. Das Finanzgericht hat übersehen, daß durch die übersendung des Gutachtens eine neue Sachlage entstanden war. Der Bf. durfte nach Erhalt des Gutachtens davon ausgehen, daß ihm damit vom Finanzamt die Möglichkeit zur äußerung innerhalb angemessener Frist gegeben werden sollte, und er durfte darauf vertrauen, daß er vor Ablauf eines angemessenen Zeitraums nicht mit einer - insbesondere für ihn nachteiligen - Entscheidung zu rechnen habe. Da das Finanzamt keine Frist gesetzt hatte, konnte er bei der Art des Gutachtens jedenfalls eine Frist von zwei Wochen als angemessen annehmen. Keinesfalls konnte er im übrigen auf den Gedanken kommen, daß es sich - wie es das Finanzamt ausdrückt - bei der übersendung des Gutachtens lediglich um "reinen Formalismus" handle. Auch die Tatsache, daß das Finanzamt den Vertreter des Bf. noch am Vormittag des 22. Juli 1957 - also einen Tag vor der Unterzeichnung der Einspruchsentscheidung - fernmündlich davon verständigte, daß der Steuerausschuß bereits im Sinne des Gutachtens entschieden habe oder daß - die Darstellung der Beteiligten geht in dieser Hinsicht auseinander - eine solche Entscheidung bevorstehe, vermag an der rechtlichen Beurteilung nichts zu ändern. Durch diesen fernmündlichen Hinweis sollte der Bf. offenbar in unangemessener - weil überhasteter - Weise vor die Entscheidung einer etwaigen Einspruchsrücknahme gestellt werden. Ein derartiges Verfahren kann nicht gebilligt werden. Es ist mit den Grundsätzen des Rechtsstaates unvereinbar. Die Sache geht an das Finanzamt zurück. Der Bf. hat nunmehr die Möglichkeit, innerhalb angemessener Frist die Erklärungen abzugeben, die er im Hinblick auf das Gutachten des Stadtbauamts abzugeben beabsichtigt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 409393

BStBl III 1959, 310

BFHE 1960, 127

BFHE 69, 127

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