Leitsatz (amtlich)

Der endgültige Steuerbescheid unterbricht die Verjährung des Steueranspruchs in vollem Umfang. An der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs (vgl. Urteile IV A 361/28 vom 17. April 1929, StuW 1929 Nr. 484; IV A 125/34 vom 20. März 1935, RStBl 1935 S. 649; VI 162/41 vom 18. Juni 1941, RStBl 1941 S. 457), wonach der vorläufige Steuerbescheid die Verjährung des Steueranspruchs in voller Höhe, der endgültige Steuerbescheid dagegen nur in Höhe des durch den Bescheid angeforderten Steuerbetrages unterbricht, hält der Senat nicht mehr fest.

 

Normenkette

AO § 147 Abs. 1

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die auf Grund einer Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO nachgeforderte Einkommensteuer für 1949 bereits verjährt war.

Der Bg. wurde durch Einkommensteuerbescheid vom 13. November 1951 mit einem steuerpflichtigen Einkommen von 8067 DM zur Einkommensteuer für das Veranlagungsjahr 1949 veranlagt; der Bescheid wurde rechtskräftig. Im September 1956 fand eine Betriebsprüfung statt, die sich auf die Veranlagungszeiträume II/1948 bis 1954 erstreckte. Für das Veranlagungsjahr 1949 führte die Betriebsprüfung zur Verwerfung der Buchführung und zu einer damit verbundenen Höherschätzung des gewerblichen Gewinns, durch die sich das steuerpflichtige Einkommen auf 13 181 DM erhöhte. Der gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO berichtigte Einkommensteuerbescheid 1949 erging am 5. Juli 1957.

Der Bg. legte dagegen Einspruch und, da er damit nur teilweise Erfolg hatte, Berufung ein, und zwar mit der Begründung, der durch den ursprünglichen Einkommensteuerbescheid für 1949 vom 13. November 1951 nicht erfaßte Steueranspruch sei nach der bis jetzt geltenden Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs (vgl. Urteile IV A 361/28 vom 17. April 1929, Steuer und Wirtschaft 1929 Nr. 484; IV A 125/34 vom 20. März 1935, RStBl 1935 S. 649, und VI 162/41 vom 18. Juni 1941, RStBl 1941 S. 457) zum Zeitpunkt der Betriebsprüfung im September 1956 bereits verjährt gewesen. Die Verjährung sei nämlich hinsichtlich des gesamten Einkommensteueranspruchs für 1949 letztmals durch die Aufforderung zur Abgabe der Einkommensteuererklärung im Jahre 1950 unterbrochen worden. Der Einkommensteueranspruch für 1949 sei daher mit dem Ablauf des 31. Dezember 1955 verjährt, soweit nicht durch den Einkommensteuerbescheid vom 13. November 1951 eine neue Unterbrechung eingetreten sei; dies sei jedoch nur hinsichtlich des im Steuerbescheid festgesetzten Steuerbetrages der Fall. Eine Steuernachforderung im Wege der Berichtigungsveranlagung im Juli 1957 sei deshalb für die Einkommensteuer 1949 nicht mehr zulässig gewesen.

Das Finanzamt vertrat dagegen den Standpunkt, daß der Einkommensteuerbescheid 1949 vom 13. November 1951 die Verjährung des Einkommensteueranspruchs 1949 in vollem Umfang unterbrochen habe und deshalb der gesamte Einkommensteueranspruch 1949 im September 1956 noch nicht verjährt gewesen sei. Nach Meinung des Finanzamts bahne sich nämlich auf Grund des Urteils des Bundesfinanzhofs IV 46/59 U vom 12. November 1959 (BStBl 1960 III S. 29, Slg. Bd. 70 S. 75) offensichtlich eine Wandlung in der Auffassung über die verjährungsunterbrechende Wirkung von Steuerbescheiden an. Das angeführte Urteil habe ausgesprochen, daß ein endgültiger Gewinnfeststellungsbescheid die Verjährung des auf ihm beruhenden Steueranspruchs in vollem Umfang unterbreche, und weiter darauf hingewiesen, daß die Auffassung des Reichsfinanzhofs von der beschränkten Unterbrechungswirkung des Steuerbescheides im Schrifttum nicht als bedenkenfrei angesehen werde. Wenn aber schon der Gewinnfeststellungsbescheid, der keine Steueranforderung enthalte, die Verjährung des Steueranspruchs in vollem Umfang unterbreche, dann müsse das erst recht für den Einkommensteuerbescheid gelten, da dieser als eine Zusammenfassung von Gewinnfeststellung und Steueranforderung zu betrachten sei.

Die Berufung hatte Erfolg. Das Finanzgericht stimmte dem Finanzamt darin zu, daß sich in dem angeführten Urteil des Bundesfinanzhofs IV 46/59 U vom 12. November 1959 eine Überprüfung der Rechtsauffassung des Reichsfinanzhofs durch den IV. Senat des Bundesfinanzhofs ankündige. Es wies auch darauf hin, daß der Reichsfinanzhof seine Rechtsauffassung in den einschlägigen Urteilen nirgends näher begründet habe. Trotzdem sei in der Feststellung der Besteuerungsgrundlage im Steuerbescheid selbst nicht zwingend eine Handlung zur Feststellung des Anspruchs im Sinne des § 147 Abs. 1 AO zu sehen. Denn mit dem Steuerbescheid treffe das Finanzamt nach Abschluß der Ermittlungen über Grund und Höhe der Steuerforderung eine echte Entscheidung, die mit der Bekanntgabe an den Steuerpflichtigen für das Finanzamt bindend sei und den Steuerfall grundsätzlich abschließe. Dem abschließenden Charakter des endgültigen Steuerbescheides entspräche es aber schlecht, wenn der Bescheid eine neue Verjährungsfrist auch bezüglich eines Anspruchs auslösen sollte, über den er nichts enthalte. Es erscheine gesucht, zu sagen, ein Freistellungsbescheid sei eine Handlung zur Feststellung des dennoch bestehenden Steueranspruchs. Ferner sei zu berücksichtigen, daß die Verjährung das einzige Gegengewicht gegen die zuungunsten des Steuerpflichtigen besonders weitgehende Durchbrechung der Rechtskraft durch § 222 AO sei. Es erscheine daher unter diesen Umständen nicht vertretbar, die Verjährung als die einzige absolute Schranke für die Durchbrechung der Rechtskraft noch weiter als bisher hinauszuschieben.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. des Vorstehers des Finanzamts ist begründet.

Der Senat vertritt in Abweichung von der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs (vgl. Urteile IV A 361/28 vom 17. April 1929, a. a. O.; IV A 125/34 vom 20. März 1935, a. a. O., und VI 162/41 vom 18. Juni 1941, a. a. O.) die Auffassung, daß durch den endgültigen Einkommensteuerbescheid der Einkommensteueranspruch des betreffenden Jahres in vollem Umfang unterbrochen wird, und zwar aus folgenden Gründen:

Gemäß § 147 Abs. 1 AO wird die Verjährung unter anderem durch jede Handlung unterbrochen, die das zuständige Finanzamt zur Feststellung des Steueranspruchs vornimmt. Das Einkommensteuerveranlagungsverfahren, dessen abschließenden Akt der Erlaß des Einkommensteuerbescheides darstellt, muß als die wichtigste Handlung des Finanzamts gelten, die auf Ermittlung und Feststellung des Einkommensteueranspruchs des betreffenden Jahres in seinem vollen Umfang, nicht nur in Höhe der festgesetzten Steuer, gerichtet ist. Denn der Einkommensteuerbescheid enthält nicht nur die auf einen bestimmten Steuerbetrag lautende Zahlungsaufforderung, sondern die gesamte Berechnung des Einkommens und der Einkommensteuer bis zur Steuerfestsetzung mit allen wichtigen Feststellungen, die während des Veranlagungsverfahrens getroffen worden sind. Alle diese einzelnen Feststellungen zur Berechnung der Besteuerungsgrundlage werden im Einkommensteuerbescheid dem Steuerpflichtigen mitgeteilt, damit er sie nachprüfen und gegebenenfalls im Wege der Anfechtung des Bescheides ihre Berichtigung herbeiführen kann. Sie dienen also unmittelbar dem Ziele des Veranlagungsverfahrens, den ganzen Steueranspruch in seiner richtigen Höhe zu erfassen. So auch Vangerow in Steuer und Wirtschaft 1960 Nr. 5 Spalten 369 ff., der zutreffend auch darauf hinweist, es sei kein Grund ersichtlich, weshalb der ohne Rückfrage veranlagte Steuerpflichtige verjährungsrechtlich bessergestellt sein solle als derjenige, bei dem das Finanzamt vor der Veranlagung wegen eines noch so geringfügigen Punktes Rückfrage gehalten hat.

Der Wille des Finanzamts geht bei der Einkommensteuerveranlagung immer dahin, den Steueranspruch in seiner richtigen Höhe zu erfassen, auch wenn die Steuer im Einkommensteuerbescheid auf Grund unrichtiger Unterlagen zunächst zu niedrig festgestellt worden sein sollte. Auch der endgültige Einkommensteuerbescheid ergeht daher stets unter dem unausgesprochenen Vorbehalt etwaiger Änderungsbedürftigkeit und Änderungsmöglichkeit im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen.

Der IV. Senat hat bereits in den Urteilen IV 36/59 U vom 22. Oktober 1959 (BStBl 1960 III S. 24, Slg. Bd. 70 S. 61) und IV 46/59 U vom 12. November 1959 (a. a. O.) für den einheitlichen Gewinnfeststellungsbescheid ausgesprochen, daß er ohne Rücksicht auf seine Vorläufigkeit oder Endgültigkeit die Verjährung des in Betracht kommenden Steueranspruchs in vollem Umfang unterbricht. Auf die Entscheidungsgründe dieser Urteile kann hier Bezug genommen werden, da nach Ansicht des Senats für den Steuerbescheid hinsichtlich seiner Unterbrechungswirkung die gleichen Argumente gelten müssen wie für den einheitlichen Gewinnfeststellungsbescheid. Der Einkommensteuerbescheid enthält neben anderen Feststellungen auch die Feststellung des Gewinns für den Einzelsteuerpflichtigen, die der einheitliche Gewinnfeststellungsbescheid für mehrere Steuerpflichtige gemeinsam trifft. Beide Bescheide werden zum Zwecke der richtigen Besteuerung erlassen und sind gleichsam Stufen auf dem Wege zu diesem Ziel. Wenn der Steuerbescheid zusätzlich die Festsetzung der Steuer und die Zahlungsaufforderung enthält, so kann das nicht dazu führen, daß diese unter Außerachtlassung aller anderen Feststellungen als das allein Entscheidende angesehen werden und daraus die Begrenzung der Unterbrechungswirkung auf den festgesetzten Betrag abgeleitet wird. In dieser Weise verfährt aber der Reichsfinanzhof in den angeführten Urteilen. Ohne seinen Standpunkt weiter zu begründen, erblickt er nur in der im endgültigen Steuerbescheid enthaltenen Zahlungsaufforderung eine Unterbrechungshandlung. Diese Rechtsprechung, die auf das angeführte Urteil IV A 361/28 vom 17. April 1929, das einen Verbrauchsteuerfall betrifft, zurückgeht, hat er in seinem letzten veröffentlichten Urteil zu dieser Frage -- VI 162/41 vom 18. Juni 1941 (a. a. O.) -- auch für den Einkommensteuerbescheid aufrechterhalten, obwohl der zuständige Oberfinanzpräsident als Bg. dieser Rechtsauffassung mit gewichtigen Argumenten entgegengetreten war.

Da demnach nach Auffassung des Senats die Verjährung des Einkommensteueranspruchs für 1949 durch den ursprünglichen Einkommensteuerbescheid 1949 vom 13. November 1951 in vollem Umfang unterbrochen wurde, hat gemäß § 147 Abs. 3 AO mit dem 1. Januar 1952 eine neue Verjährung begonnen, die im Jahre 1956 noch nicht abgelaufen war. Spätestens durch die Betriebsprüfung im September 1956 wurde die Verjährung des Steueranspruchs für 1949 von neuem unterbrochen, so daß mit dem 1. Januar 1957 eine neue Verjährungsfrist zu laufen begann. Der Erlaß eines berichtigten Einkommensteuerbescheides im Juli 1957 gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO war daher zulässig.

Die Vorentscheidung war infolgedessen aufzuheben und die Berufung gegen die Einspruchsentscheidung des Finanzamts als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 409782

BStBl III 1960, 430

BFHE 1961, 485

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