Entscheidungsstichwort (Thema)
Beginn der Zweiwochenfrist für Wiedereinsetzung
Leitsatz (NV)
Hat ein Rechtsanwalt das Kanzleipersonal angewiesen, ihm oder seinem Vertreter für den Fall, daß der unterbliebene Eingang eines fristwahrenden Schriftsatzes telefonisch mitgeteilt wird, den Vorgang unverzüglich vorzulegen, ist dem Rechtsanwalt das Übergehen dieser Anweisung im Einzelfall nicht zuzurechnen, wenn das Personal sorgfältig ausgewählt und überwacht wurde.
Normenkette
FGO § 56 Abs. 2 S. 1
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurden als Ehegatten zum Streitjahr 1988 wie beantragt zur Einkommensteuer zusammen veranlagt. Auf entsprechende Mitteilung, daß den Klägern im Wege der Lohnumwandlung vom Arbeitgeber Zinszuschüsse in Höhe von jeweils 2 000 DM gemäß § 3 Nr. 68 des Einkommensteuergesetzes (EStG) a. F. steuerfrei zugewendet worden seien, erließ der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) einen Änderungsbescheid mit einem um 4 000 DM erhöhten Einkommen.
Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg.
Mit Beschluß vom 13. April 1993, der den Bevollmächtigten der Kläger, den Rechtsanwälten A und B C, am 27. Mai 1993 zugestellt worden ist, wurde die Revision vom Bundesfinanzhof (BFH) gegen das angefochtene Urteil zugelassen. Im Zulassungsbeschluß hat der Senat auf sein Urteil vom 12. März 1993 VI R 20/92 (BFHE 171, 62, BStBl II 1993, 881) hingewiesen, in welchem die zwischen den Beteiligten hier streitige Frage entschieden wurde, ob Zinszuschüsse auch im Falle der Barlohnumwandlung gemäß § 3 Nr. 68 EStG a. F. steuerfrei sind.
Wie die Kläger unbestritten vorgetragen haben und von der Angestellten der Bevollmächtigten, D, unter Versicherung an Eides Statt bestätigt wurde, ist die Revisionsschrift nebst Begründung am 7. Juni 1993 zur Post gegeben worden. Sie ist aber nicht beim Finanzgericht (FG) eingegangen. Mit Schreiben vom 9. Juli 1993 wurde das FG um Überprüfung gebeten, da man keine Eingangsbestätigung erhalten habe.
Mit Schriftsatz vom 3. August 1993, beim FG eingegangen am 5. August 1993, wurde -- bei gleichzeitiger Nachholung der Revision und ihrer Begründung -- wegen Versäumung der Revisionsfrist mit der Begründung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt, die Revisionsschrift sei auf dem Postweg verlorengegangen. Des weiteren wurde ausgeführt, die Angestellte D habe am 29. Juli 1993 in einem Telefonat mit der Geschäftsstellenbeamtin E erfahren, daß die Revisionsschrift nicht beim FG eingegangen sei. Frau D hat an Eides Statt bestätigt, ihr sei am 29. Juli 1993 von Frau E telefonisch mitgeteilt worden, daß man im FG die Revisionsschrift nicht auffinden könne. Dies habe sie Rechtsanwalt B C nach dessen Rückkehr aus dem Urlaub am 2. August 1993 mitgeteilt.
Ausweislich eines Aktenvermerks vom 12. Juli 1993 hat eine Geschäftsstellenbeamtin des FG an diesem Tag mit Frau D telefoniert. Nachdem die Bevollmächtigten unter Beifügen einer Fotokopie dieses Aktenvermerks auf eine mögliche Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist des § 56 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hingewiesen worden sind, bestätigten sie, daß der besagte Anruf vom 12. Juli 1993 stattgefunden habe. Die Auskunftsperson habe aber nicht nur mitgeteilt, daß sie die Revisionsschrift gegenwärtig nicht finden könne, sondern weiterhin, daß sie die Sache nicht abschließend beurteilen könne, da sie dort nur Urlaubsvertretung mache. Sie wolle sich deshalb noch einmal mit dem Berichterstatter in Verbindung setzen. Man sei so verblieben, daß sich die Geschäftsstelle des FG noch einmal melden solle. Der fehlende Eingang sei dann im Anruf vom 29. Juli 1993 erfahren worden. Dies hat Frau D an Eides Statt versichert. Ungeachtet dessen komme es hinsichtlich der Frist des § 56 Abs. 2 FGO nicht auf das Erkennen oder Erkennenmüssen der Fristversäumung durch eine Angestellte, sondern das des Bevollmächtigten oder der Partei an (Urteil des Bundesgerichtshofs -- BGH -- vom 21. März 1980 V ZR 128/79, Versicherungsrecht -- VersR -- 1980, 678, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung -- HFR -- 1981, 37). Rechtsanwalt B C habe erst nach der Rückkehr aus dem Urlaub am 2. August 1993 die Fristversäumnis feststellen können. Rechtsanwalt A C sei nur noch im Notariat tätig.
Zum Gegenstand der Telefonate vom 12. und 29. Juli 1993 haben Frau Regierungsamtfrau F und Frau Regierungshauptsekretärin E dienstliche Äußerungen abgegeben, wegen deren Inhalt auf die diesbezügliche Niederschrift verwiesen wird.
Im Hinblick auf organisatorische Vorkehrungen wurde vorgetragen, es bestehe für den Fall, daß sich der unterbliebene Eingang eines fristwahrenden Schriftsatzes herausstelle, die Anweisung, den Vorgang mit Akte unverzüglich dem bearbeitenden Rechtsanwalt oder dessen Vertreter vorzulegen. Auf die Einhaltung dieser Anweisung würden alle Angestellten regelmäßig hingewiesen. Die Richtigkeit dieser Tatsachen werde anwaltlich versichert.
Im Streitfall sei Rechtsanwalt C jun. während seines Urlaubs von seinem Vater, Rechts anwalt C sen., vertreten worden. Es habe die Anweisung bestanden, ihm Fristsachen unverzüglich vorzulegen. Von dem Telefonat vom 12. Juli 1993 habe ihn Frau D nicht informiert, weil dies aus ihrer Sicht nicht erforderlich gewesen sei.
In der Sache rügen die Kläger unter Berufung auf die Entscheidung in BFHE 171, 62, BStBl II 1993, 881 die Verletzung von § 3 Nr. 68 EStG.
Die Kläger beantragen, unter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand den angefochtenen Einkommensteuerbescheid 1988 in der Weise zu ändern, daß die Einkommensteuer nach einem um 4 000 DM ermäßigten Einkommen festgesetzt wird.
Das FA hat sich nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
Auf die Revision wird das angefochtene Urteil aufgehoben und der Klage stattgegeben.
Den Klägern war wegen Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Revision Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil sie ohne Verschulden gehindert waren, die Frist einzuhalten (§ 56 Abs. 1 FGO).
Wie unstreitig ist, wurde der die Revision und ihre Begründung enthaltende Schriftsatz rechtzeitig zur Post gegeben. Daß er verlorengegangen ist, kann den Klägern nicht angelastet werden. Sie haben die versäumte Rechtshandlung auch innerhalb von zwei Wochen (§ 56 Abs. 2 Satz 1 FGO) nach Wegfall des Hindernisses, nämlich der Unkenntnis über den nichterfolgten Eingang der Revisionsschrift beim FG, nachgeholt. Für den Beginn der Zweiwochenfrist kommt es in Fällen wie dem vorliegenden darauf an, ob der Prozeßbevollmächtigte selbst -- und nicht dessen Personal -- erkannt hat oder bei Anwendung der von ihm verständigerweise zu erwartenden Sorgfalt hätte erkennen müssen, daß die einzuhaltende Rechtsmittelfrist versäumt war (BGH in HFR 1981, 37, sowie BGH-Beschluß vom 12. Oktober 1989 I ZB 3/89, NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht -- NJW-RR -- 1990, 379). Ob der Bevollmächtigte die Versäumung der Rechtsmittelfrist hätte erkennen müssen, beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalles. Dabei ist zu berücksichtigen, daß bei rechtzeitiger Aufgabe eines Schriftstücks zur Post nicht eine zusätzliche Erkundigungspflicht hinsichtlich des rechtzeitigen Eingangs bei Gericht besteht (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG -- vom 28. März 1994 2 BvR 814/93, HFR 1995, 39), sofern nicht ein erhöhtes Risiko verspäteter Beförderung besteht (vgl. BVerfG-Beschluß vom 29. Dezember 1994 2 BvR 106/93, NJW 1995, 1210).
Wie glaubhaft versichert worden ist, war das Kanzleipersonal angewiesen, den Vorgang unverzüglich dem Bevollmächtigten oder dessen Vertreter vorzulegen, wenn sich der unterbliebene Eingang eines fristwahrenden Schriftsatzes herausstellt. Diese Anweisung begründete eine Vorlagepflicht nicht nur bei sicherer Kenntnis des Nichteingangs, wie z. B. bei einer diesbezüglichen schriftlichen Mitteilung seitens des Gerichts (vgl. zum verspäteten Eingang Beschluß des Bundesarbeitsgerichts vom 14. Juli 1994 4 AZN 332/94, Der Betrieb -- DB -- 1995, 152), sondern auch in Fällen, in denen der Nichteingang wahrscheinlich ist. Angesichts der Tatsache, daß Erkun digungspflichten über die Fristwahrung grundsätzlich nicht bestehen, können weitergehende organisatorische Vorkehrungen, die eine eigenverantwortliche Überprüfung durch den Bevollmächtigten schon bei vagen Zweifeln über die Fristwahrung vorsehen, nicht verlangt werden.
Im Streitfall konnte bei Würdigung der Äußerungen der an dem Telefongespräch vom 12. Juli 1993 Beteiligten für die Angestellte D bei Befolgung der oben wiedergegebenen Anweisung Anlaß bestanden haben, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen, sondern die Akte Rechtsanwalt C sen. als weiterem Bevollmächtigten vorzulegen. Daß sie ihrer diesbezüglichen Verpflichtung nicht nachgekommen ist, beruht aber nicht auf mangelnden organisatorischen Vorkehrungen, sondern auf einem, dem Bevollmächtigten selbst nicht zurechenbaren Fehlverhalten, zumal Frau D, wie ebenfalls glaubhaft versichert worden ist, im übrigen eine immer sorgfältige Rechtsanwalts- und Notargehilfin gewesen ist.
Hinreichende Anhaltspunkte, aufgrund derer einer der Bevollmächtigten selbst den Nichteingang der Revisionsschrift vor der positiven Kenntnis am 2. August 1993 hätte erkennen müssen, bestanden im Streitfall nicht.
Zur Rechtsfrage in der Sache selbst hat der Senat mit Urteil in BFHE 171, 62, BStBl II 1993, 881 entschieden, daß der Steuerbefreiung des § 3 Nr. 68 EStG a. F. nicht entgegenstand, daß der Zinszuschuß auf einer Lohnumwandlungsabrede beruhte. Das gilt nach dem BFH-Urteil vom 21. Oktober 1994 VI R 12/94 (BFHE 176, 107, BStBl II 1995, 511) für das Streitjahr ungeachtet der zwischenzeitlich geänderten Gesetzesfassung durch § 52 Abs. 2 Buchst. j EStG (vgl. auch Finanzministerium Niedersachsen, Erlaß vom 8. Juni 1995 S 2332-112-35 1, Deutsches Steuerrecht 1995, 1062). Wegen der Begründung im einzelnen wird auf die genannten Entscheidungen Bezug genommen. Damit war der Klage auch im Streitfall stattzugeben.
Fundstellen
Haufe-Index 421615 |
BFH/NV 1997, 43 |