Entscheidungsstichwort (Thema)
Ermäßigung des Einheitswerts wegen Tieffluglärms
Leitsatz (NV)
Allein die Lage eines (Wohn-)Grundstücks in einem Tieffluggebiet reicht nicht aus, um von einer ungewöhnlich starken Lärmbeeinträchtigung i.S. des § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG ausgehen zu können. Vielmehr müssen besondere und außergewöhnliche Belastungsfaktoren vorliegen, die das streitbefangene Grundstück und dessen näheres Umfeld deutlich von den vom einschlägigen Mietspiegel erfaßten Grundstücken sowie von der Gesamtheit der im Tieffluggebiet gelegenen Bewertungsobjekte unterscheiden. Solche besonderen Umstände können etwa darin liegen, daß bestimmte räumlich eindeutig abgrenzbare Regionen innerhalb des Tieffluggebietes, z.B. wegen ihrer topographischen Besonderheiten oder wegen dort gelegener militärischer Einrichtungen oder Übungsplätze, nicht nur vorübergehend in erheblich stärkerem Maße als das übrige Tieffluggebiet durch militärische Düsenflugzeuge frequentiert werden und/oder die Belastung durch den Düsenfluglärm infolge des Hinzutretens weiterer militärischer Lärmquellen beträchtlich kumuliert wird. Dabei muß die Lärmbeeinträchtigung in ihrer Stärke, Häufigkeit und Dauer ein Ausmaß erreichen, das der Belastung in den Schutzzonen 1 und 2 von Militärflugplätzen vergleichbar ist.
Normenkette
BewG 1965 § 82 Abs. 1 S. 2 Nr. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Eigentümer eines Grundstücks in X, auf dem er ein Einfamilienhaus errichtete. Das Grundstück lag am Stichtag (1. Januar 1985) in der area 7, einem militärischen Tieffluggebiet, in welchem Tiefflüge bis 75m über dem Erdboden durchgeführt wurden. In ca. 500 m Entfernung zum Grundstück des Klägers befand sich ein größeres Munitionsdepot der Bundeswehr, das nach Angaben des Klägers häufig als Ziel für (simulierte) Tiefflugangriffe durch militärische Düsenflugzeuge diente.
Der Kläger hat mehrfach Lärmmessungen auf seinem Grundstück vorgenommen und dem Finanzgericht (FG) Meßprotokolle für die Zeit vom 11. September bis 25. September 1984 sowie vom 10. bis 12. Oktober 1984, 16. Oktober 1984 und vom 4. März 1985 vorgelegt. Diese Meßprotokolle weisen Lärmspitzen von 73 bis 109 Dezibel - dB(A) - aus.
Mit Bescheid vom 30. Januar 1985 stellte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) den Einheitswert für das streitbefangene Grundstück auf den 1. Januar 1985 im Ertragswertverfahren auf 20000 DM fest. Nach erfolglosem Einspruch begehrte der Kläger mit seiner Klage, den Einheitswert wegen der Beeinträchtigung des Grundstücks durch Tieffluglärm angemessen zu ermäßigen.
Das FG gab der Klage mit seinem in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1989, 500 veröffentlichten Urteil statt und ermäßigte den Einheitswert um einen Abschlag in Höhe von 8 v.H. des Grundstückswerts.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
1. Zutreffend gehen das FG und die Beteiligten davon aus, daß der Einheitswert des streitbefangenen Einfamilienhauses im Ertragswertverfahren (§§ 78 bis 82 des Bewertungsgesetzes - BewG -) zu ermitteln ist (vgl. § 76 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 3 Nr. 1 BewG).
2. Nach § 82 Abs. 1 BewG ist der durch die Anwendung des Vervielfältigers auf die Jahresrohmiete sich ergebende Grundstückswert zu ermäßigen, wenn wertmindernde Umstände vorliegen, die weder in der Höhe der Jahresrohmiete noch in der Höhe des Vervielfältigers berücksichtigt worden sind. Als solche wertmindernden Umstände kommen gemäß § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG u.a. ungewöhnlich starke Beeinträchtigungen durch Lärm in Betracht.
a) Ein Abschlag vom Grundstückswert nach § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG ist nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats nur dann gerechtfertigt, wenn die bestimmungsgemäße ortsübliche Nutzung in erheblichem Maße beeinträchtigt wird. Bei einem Wohngrundstück ist das der Fall, wenn die Bewohner gezwungen sind, ihre Lebensgewohnheiten bezüglich der Nutzung des Grundstücks in einer Weise einzuschränken, die bei einer üblichen Benutzung des Grundstücks in seiner konkreten Beschaffenheit nicht mehr hingenommen würde (Senatsurteile vom 12. Dezember 1990 II R 97/87, BFHE 163, 229, BStBl II 1991, 196, 197, unter 1., betreffend die von einer Mülldeponie ausgehenden Schadstoffemissionen, und vom 18. Dezember 1991 II R 6/89, BFHE 166, 382, BStBl II 1992, 279, betreffend Straßenverkehrslärm).
Der gewöhnliche, übliche, wenn auch mitunter starke Lärm vermag dagegen einen Abschlag nicht zu rechtfertigen.
Die Frage, welche (möglicherweise starke) Lärmbeeinträchtigung sich noch im Rahmen des Gewöhnlichen (Üblichen) hält und welche Geräuschimmissionen diese Grenze überschreiten und eine ungewöhnlich starke Beeinträchtigung darstellen, kann nur unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles entschieden werden, wobei insbesondere auch die konkrete Nutzungsart des Grundstücks (z.B. Wohngrundstück, Bürogebäude, gewerblich genutzte Räume), die bauplanungsrechtliche Lage (z.B. Wohngebiet, Mischgebiet, Gewerbegebiet) und die sonstigen regionalen Verhältnisse (z.B. Lage des Grundstücks in einer Großstadt oder im ländlichen Raum) eine Rolle spielen.
Dementsprechend hat der Bundesfinanzhof die Einwirkungen des Straßenverkehrslärms auf ein in einer Großstadt gelegenes Grundstück, die sich innerhalb der üblichen Schwankungsbreite des Straßenverkehrslärms in Großstädten bewegt, nicht als ungewöhnlich starke Lärmbeeinträchtigung i.S. des § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG angesehen. In dem ebenfalls zur Frage der Ermäßigung des Grundstückswerts wegen Straßenverkehrslärm ergangenen Urteil in BFHE 166, 382, BStBl II 1992, 279 hat der erkennende Senat den Umstand hervorgehoben, daß die stetig zunehmende Motorisierung besonders in Großstädten und Ballungsräumen bereits am Hauptfeststellungszeitpunkt (1. Januar 1964) zu einer erheblichen Zunahme des Straßenverkehrslärms geführt habe und dieser Lärm - abgesehen von bestimmten Extrembelastungen - von der Bevölkerung weitgehend für gewöhnlich und üblich gehalten werde.
Eine ähnliche Entwicklung hat sich beim Fluglärm vollzogen. Dies galt - aus der Sicht des streitigen Stichtages - sowohl für die vom zivilen Luftverkehr als auch für die von militärischen Luftfahrzeugen ausgehenden Emmissionen. Anders als beim Straßenverkehr, dessen beträchtlich gestiegene Lärmbeeinträchtigungen sich vor allem auf die Ballungszentren konzentrieren, betraf die im besonderen von Militärflugzeugen ausgehende Lärmbelastung nahezu die gesamte Fläche des (alten) Bundesgebietes. So waren Tiefflüge mit militärischen Strahlflugzeugen in einer Höhe zwischen 450 m und 150 m über dem gesamten Bundesgebiet erlaubt, ausgenommen über Großstädten, in Gefahrengebieten, in Gebieten mit genereller Flugbeschränkung, in der Flugüberwachungszone parallel zur ehemaligen DDR-Grenze sowie in bestimmten anderen Grenzgebieten. In den sieben besonderen Tieffluggebieten (areas) waren darüber hinaus Tiefstflüge bis zu einer Mindesthöhe von 75 m gestattet.
Eine ungewöhnliche starke Lärmbeeinträchtigung i.S. von § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG kommt dann nicht in Betracht, wenn sie weite Teile des Bewertungsgebietes oder größere Teilregionen in mehr oder minder gleicher Weise betrifft und belastet. Diese Allgemeinbetroffenheit ändert zwar nichts daran, daß bestimmte Lärmquellen erhebliche, unter Umständen gesundheitsgefährdende Belästigungen und Beeinträchtigungen hervorrufen können, wie dies insbesondere beim großstädtischen Verkehrslärm und auch bei dem hier in Rede stehenden Tieffluglärm der Fall sein kann. Gleichwohl fehlt diesen Belastungen im Hinblick auf ihre Häufigkeit und Ortsüblichkeit der Charakter des Un- und Außergewöhnlichen. Demgemäß hat der erkennende Senat in seinem zum Straßenverkehrslärm ergangenen Urteil in BFHE 166, 382, BStBl II 1992, 279 betont, § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG verlange, daß die auf das betroffene Grundstück einwirkenden Immissionen den gegendüblichen (Straßenverkehrs-)Lärm in erheblichem Umfang überträfen. Als Gegend in diesem Sinne sei der örtliche Bereich zu verstehen, den das FA in seinem, den jeweiligen Streitfall betreffenden Mietspiegel zusammengefaßt hat. Ein Abschlag wegen ungewöhnlich starker (Verkehrs-)Lärmbeeinträchtigung werde im allgemeinen nur bei einzelnen, besonders intensiven Lärmbelastungen ausgesetzten Grundstücken bzw. einer kleinen - überschaubaren - Gruppe extrem belasteter Grundstücke in Betracht kommen. Würden demgegenüber ganze Stadt- oder Ortsteile mit annähernd gleicher Intensität in Mitleidenschaft gezogen, so spreche dies für die Gegendüblichkeit der Lärmimmissionen.
b) Bei Anwendung dieser Grundsätze, an denen der erkennende Senat festhält, muß die Vorentscheidung aufgehoben werden. Denn die vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen lassen eine abschließende Beurteilung des Streitfalles nicht zu.
aa) Dem FG ist zwar darin zu folgen, daß entgegen der Auffassung des FA ein Abschlag wegen ungewöhnlich starker Fluglärmbeeinträchtigung nicht ausschließlich für solche Grundstücke in Betracht kommt, die innerhalb der für die Umgebung von Verkehrsflughäfen und militärischen Flugplätzen nach den §§ 2 und 4 des Gesetzes zum Schutz gegen Fluglärm - FlugLG - (BGBl I 1971, 282) festgesetzten Schutzzonen 1 und 2 liegen. Denn auch außerhalb dieser Schutzzonen kann die Fluglärmbelastung - namentlich durch den hier in Rede stehenden Tieffluglärm - in besonderen Ausnahmefällen ein Ausmaß erreichen, das einen Abschlag vom Grundstückswert nach § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG gebietet. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, hängt jedoch - wie dargelegt - von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab, wobei allein die Lage eines Grundstücks in einem Tieffluggebiet nicht ausreicht, um von einer ungewöhnlich starken Lärmbeeinträchtigung i.S. des § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG ausgehen zu können. Soweit das FG daher gemeint hat, die ungewöhnlich starke Beeinträchtigung des klägerischen Grundstücks entfalle nicht dadurch, daß mit gewissen Abweichungen im Einzelfall sämtliche Grundstücke im Bereich des Tieffluggebiets 7 im wesentlichen den gleichen Lärmeinwirkungen ausgesetzt (seien), vermag ihm der erkennende Senat nicht zu folgen. Diese vom FG vertretene Ansicht beruht auf der rechtsirrigen These, daß die Frage der ungewöhnlich starken Lärmbeeinträchtigung anhand eines Vergleichs der auf das Grundstück des Klägers einwirkenden Immissionen mit den (durchschnittlichen) Belastungen aller Grundstücke im Geltungsbereich des BewG beantwortet werden müsse. Wie dargelegt, kommt es indessen auf einen Vergleich der Betroffenheit des klägerischen Grundstücks mit dem gegendüblichen Lärm an. Allein die Lage eines Grundstücks in einem Tieffluggebiet reicht daher nicht aus, um von einer ungewöhnlich starken Lärmbeeinträchtigung i.S. des § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG ausgehen zu können, wobei die Schwere der Lärmbeeinträchtigungen und der dadurch verursachte Verlust an Lebensqualität für die Betroffenen vom Senat nicht verkannt werden.
Vielmehr müssen - entsprechend den unter 2. a) niedergelegten Grundsätzen - besondere und außergewöhnliche Belastungsfaktoren vorliegen, die das streitbefangene Grundstück und dessen näheres Umfeld deutlich von den vom einschlägigen Mietspiegel erfaßten Grundstücken sowie von der Gesamtheit der im Tieffluggebiet gelegenen Bewertungsobjekte unterscheiden. Solche besonderen Umstände können etwa darin liegen, daß bestimmte räumlich eindeutig abgrenzbare Regionen innerhalb des Tieffluggebietes, z.B. wegen ihrer topographischen Besonderheiten oder wegen dort gelegener militärischer Einrichtungen oder Übungsplätze, nicht nur vorübergehend in erheblich stärkerem Maße als das übrige Tieffluggebiet durch militärische Düsenflugzeuge frequentiert werden und/oder die Belastung durch den Düsenfluglärm infolge des Hinzutretens weiterer militärischer Lärmquellen beträchtlich kumuliert wird. Dabei muß die Lärmbeeinträchtigung in ihrer Stärke, Häufigkeit und Dauer ein Ausmaß erreichen, das der Belastung in den Schutzzonen 1 und 2 von Militärflugplätzen vergleichbar ist.
bb) Auf das Vorliegen solcher besonderen Umstände deuten im Streitfall die Behauptungen des Klägers hin, daß gerade sein Grundstück wegen eines in der Nähe (ca. 500 m Luftlinie entfernt) gelegenen und als simuliertes Angriffsziel dienenden Munitionsdepots in außergewöhnlichem Maße durch den Tieffluglärm sowie darüber hinaus durch die Geräusche von Hubschraubern und Panzern beeinträchtigt worden sei. Indessen durfte das FG diese - vom FA bestrittene - Darstellung des Klägers nicht ungeprüft als zutreffend unterstellen.
Im zweiten Rechtsgang wird das FG deshalb Ermittlungen darüber anstellen müssen, ob das Munitionsdepot nach den maßgeblichen Verhältnissen am Stichtag tatsächlich und über einen längeren Zeitraum als häufiges Ziel für Scheinangriffe von militärischen Strahlflugzeugen und sonstigen Flugobjekten diente sowie ob und inwieweit diese Übungsflüge das Grundstück des Klägers und dessen nähere Umgebung - im Vergleich zur gegendüblichen Fluglärmbelastung - in ungewöhnlich starkem Maße belasteten. Des weiteren wird das FG auch den Umstand aufzuklären haben, ob und inwieweit der auf das streitbefangene Grundstück einwirkende Fluglärm durch passierende Panzerkolonnen verstärkt wurde. Das FA hat in diesem Zusammenhang behauptet, daß das klägerische Grundstück nicht an bzw. in der Nähe einer regelmäßig von Panzern befahrenen Straße gelegen habe.
Ergänzend bemerkt der Senat, daß das Vorhandensein einer nachhaltigen ungewöhnlich starken (Flug-)Lärmbeeinträchtigung nicht allein anhand der vom Kläger vorgelegten, jeweils nur kurze Zeiträume betreffenden Meßprotokolle beurteilt werden kann. Um ein möglichst zuverlässiges Bild über die nachhaltigen (Durchschnitts-) Belastungen zu gewinnen und Extremsituationen (z.B. während eines Großmanövers oder während einer längeren Flugpause) zu relativieren, muß sich die Ermittlung der Lärmbelästigung auf einen zusammenhängenden längeren Zeitraum (von mindestens sechs Monaten) beziehen.
Fundstellen
Haufe-Index 419311 |
BFH/NV 1994, 78 |