Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Die Finanzverwaltung in Hamburg handelte nicht dadurch ermessensfehlerhaft, daß sie in der Regel in der Heranziehung der Versicherungsgeneralagenten mit gemischter Tätigkeit zur Gewerbesteuer mit den aus ihrer verwaltenden Tätigkeit erwirtschafteten Erträgen für die vor der Veröffentlichung des Urteils des Bundesfinanzhofs I 200/59 S vom 3. Oktober 1961 (BStBl 1961 III S. 567) liegende Zeit keine sachliche Härte sah und deshalb die Gewerbesteuer nicht allgemein aus Billigkeitsgründen erließ, obwohl der Bund von der Erhebung der Umsatzsteuer und eine Anzahl von Gemeinden von der Erhebung der Gewerbesteuer insoweit absahen.
Normenkette
AO § 131
Tatbestand
Zu entscheiden ist, ob die Ablehnung der Oberfinanzdirektion, dem Bf. die Gewerbesteuer-Abschlußzahlung 1961 in Höhe von 8.725 DM zu erlassen (ß 131 AO), ermessensfehlerhaft war.
Der Bf. war in Hamburg als Generalagent für eine Versicherungsgesellschaft (Versicherer) tätig. Das Finanzamt sah den Bf. bis zum Erhebungszeitraum 1960 nach der auf der damaligen Rechtsprechung beruhenden Regelung in Abschn. 11 Abs. 3 GewStR 1958 als Generalagenten mit gemischter Tätigkeit an und zog ihn nur mit dem aus seiner werbenden Tätigkeit erwirtschafteten Ertrag zur Gewerbesteuer heran. Ab 1961 unterwarf es ihn, gestützt auf die Urteile des Bundesfinanzhofs I 200/59 S vom 3. Oktober 1961 (BStBl 1961 III S. 567, Slg. Bd. 73 S. 827) und V 133/59 U vom 12. April 1962 (BStBl 1962 III S. 259, Slg. Bd. 74 S. 699), auch mit den aus seiner verwaltenden Tätigkeit herrührenden Erträgen der Gewerbesteuer. Dagegen legte der Bf. Einspruch ein. Die Entscheidung über den Einspruch setzte das Finanzamt auf Antrag des Bf. im Hinblick auf zwei beim Bundesfinanzhof schwebende Musterprozesse von Generalagenten des Versicherers aus.
Der Bf. beantragte unter Hinweis auf die für die Generalagenten mit gemischter Tätigkeit bei der Umsatzsteuer und auf die von einer Anzahl großstädtischer Gemeinden bei der Gewerbesteuer getroffenen Billigkeitsregelungen, die Gewerbesteuer 1961 in Höhe von 8.725 DM zu erlassen. Das Finanzamt lehnte diesen Antrag ab.
Die Beschwerde und die Berufung des Bf. hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht führte zur Begründung seiner Entscheidung aus, die Gerichte seien nur berechtigt nachzuprüfen, ob die Finanzverwaltung sich bei der Anwendung des § 131 Abs. 1 Satz 1 AO in dem der Ausübung ihres Ermessens gesetzlich gezogenen Rahmen gehalten habe. Das habe die Oberfinanzdirektion getan. Es sei nicht ungerecht oder unbillig, daß ein Steuerpflichtiger nach dem Gesetz veranlagt werde. ändere das oberste Steuergericht die Rechtsprechung, sei die Finanzverwaltung gehalten, alle Steuerpflichtigen nach der neuen Rechtsprechung zu veranlagen. Unbillig sei es nur, eine solche Rechtsansicht rückwirkend anzuwenden. Das sei hier nicht der Fall, weil dem Bf. oder seinem Berater seit Veröffentlichung der Urteile des Bundesfinanzhofs IV 340/56 U vom 19. Februar 1959 (BStBl 1959 III S. 425, Slg. Bd. 69 S. 438) und V 88/57 U vom 10. September 1959 (BStBl 1959 III S. 437, Slg. Bd. 69 S. 474) bekannt gewesen sei, daß der Bundesfinanzhof die bisherige gewerbe- und umsatzsteuerrechtliche Behandlung der Generalagenten nicht mehr für richtig halte.
Entscheidungsgründe
Die Rb. des Bf. ist nicht begründet.
Der Bundesfinanzhof ist nach § 1 des Gesetzes über den Bundesfinanzhof (BFHG) vom 29. Juni 1950 für die Entscheidung über die Rb. des Bf. zuständig, weil die Gewerbesteuer in Hamburg von den Finanzverwaltungsbehörden verwaltet wird (vgl. Urteil des Senats IV 11/54 U vom 28. Februar 1957, BStBl 1957 III S. 421, Slg. Bd. 65 S. 489).
Die Ablehnung des Erlaßantrages des Bf. durch die Oberfinanzdirektion war nicht ermessensfehlerhaft. Nur das haben die Steuergerichte zu prüfen, wenn es sich um die Anwendung des § 131 AO durch die Finanzverwaltung handelt (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs VII 51/61 S vom 8. Mai 1962, BStBl 1962 III S. 290, Slg. Bd. 75 S. 59).
Es braucht nicht entschieden zu werden, ob der Bf. sich, wie das Finanzgericht meint, schon auf Grund der Urteile des Bundesfinanzhofs IV 340/56 U und V 88/57 U aus dem Jahre 1959 darauf einrichten mußte, auch mit dem aus seiner verwaltenden Tätigkeit erwirtschafteten Ertrag zur Gewerbesteuer herangezogen zu werden. Denn selbst wenn die Rechtsprechung erst durch das Urteil des Bundesfinanzhofs I 200/59 S für alle Beteiligten erkennbar geändert wurde, handelten die Finanzverwaltungsbehörden mit der Ablehnung des Erlaßantrages des Bf. nicht ermessensfehlerhaft. Steuerpflichtige haben grundsätzlich keinen Anspruch auf Erlaß von Steuerbeträgen, die auf der Anwendung einer zu ihren Ungunsten geänderten Rechtsprechung für vergangene Veranlagungszeiträume beruhen. Nach den gesamten Umständen kann im Einzelfall eine Abweichung von diesem Grundsatz gerechtfertigt sein. Das gilt in der Regel z. B. dann, wenn eine für die Steuerpflichtigen günstige Rechtsnorm für ungültig erklärt wird (vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 8 S. 51 (71), und Urteil des Senats IV 11/64 S vom 5. November 1964, BStBl 1964 III S. 602 (609), Slg. Bd. 80 S. 356), weil die Steuerpflichtigen im besonderen Maße darauf vertrauen durften, daß für die Vergangenheit die für sie vorteilhafte Rechtsnorm anwendbar bleibe. Inwieweit ein Gewerbetreibender Anspruch auf Erlaß von Betriebsteuern für die Vorjahre hat, wenn die für ihn ungünstige änderung der Rechtsprechung wesentliche Grundlagen seiner Kalkulation zunichte macht, kann dahingestellt bleiben, weil diese Voraussetzung beim Bf. nicht gegeben ist. Diese Abgrenzung des Ermessensspielraums der Verwaltung beruht wesentlich auf der Erwägung, daß Steuerpflichtige in der Regel mit der Möglichkeit rechnen müssen, daß der Bundesfinanzhof auf Grund der änderung der Verhältnisse oder besserer Erkenntnis Grundsätze der Rechtsprechung zu ihren Ungunsten ändert und sich diese änderung auf die Steuerschuld solange auswirken kann, als das Gesetz änderungen der Veranlagungen ermöglicht. Denn die Steuerpflichtigen haben nur Anspruch darauf, daß sie zur Zahlung der sich bei richtiger Auslegung der Gesetze ergebenden Steuer herangezogen werden. Diesem auf der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung beruhenden Grundsatz kann man nicht durch die allgemeine Verpflichtung der Verwaltung, durch eine Billigkeitsregelung in den bezeichneten Fällen die weitere "unrichtige" Anwendung des Gesetzes für die Vergangenheit anzuordnen, seine Auswirkung nehmen. Das könnte nur der Gesetzgeber.
Daß das Bundesministerium der Finanzen mit Erlaß vom 5. April 1963 (Deutsche Steuer-Zeitung Ausgabe B 1963 S. 189) für die Umsatzsteuer und eine Anzahl von Gemeinden für die Gewerbesteuer einen Steuererlaß gewährten, wie ihn der Bf. beantragte, verpflichtete die Finanzverwaltung in Hamburg nicht, ebenso zu verfahren. Denn über den Erlaß einer Steuer haben die Behörden zu entscheiden, die die Steuer für den jeweiligen Steuergläubiger verwalten (vgl. Urteil des Senats IV 133/63 S vom 5. März 1964, BStBl 1964 III S. 311, Slg. Bd. 79, S. 218). Das sind bei der Umsatzsteuer die Finanzverwaltungsbehörden des Bundes und deren Hilfsstellen (Art. 108 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG - in Verbindung mit § 9 des Gesetzes über die Finanzverwaltung) und bei der Gewerbesteuer in der Regel die Behörden der Gemeinden (Art. 108 Abs. 3 Satz 4 GG) oder, was für Hamburg zutrifft (vgl. Art. 106 Abs. 6 GG), die Finanzverwaltungsbehörden des Landes.
Daß über die Anträge auf Steuererlaß bei der Umsatzsteuer und bei der Gewerbesteuer nicht einheitlich entschieden wurde, folgt aus dem Charakter des § 131 AO als einer Ermessensvorschrift und daraus, daß das GG zahlreichen Gebietskörperschaften die Steuerhoheit gewährt. Darin, daß die beteiligten Behörden der verschiedenen Steuergläubiger untereinander nicht einheitlich verfuhren, ist kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG zu erblicken. Ein solcher Verstoß könnte nur dann gegeben sein, wenn die Behörden bei ihrer Tätigkeit für denselben Steuergläubiger ohne sachlichen Grund unterschiedlich verfahren wären. Das ist nicht der Fall.
Die Ablehnung, den vom Bf. beantragten Erlaß der Gewerbesteuer zu gewähren, ist auch nicht deshalb ermessensfehlerhaft, weil sie von der Finanzverwaltung in Hamburg ausgesprochen wurde, die die Umsatzsteuer erließ. Denn der Erlaß der Umsatzsteuer ging auf eine Anweisung des Bundesministeriums der Finanzen, der obersten Finanzverwaltungsbehörde des Bundes, zurück, so daß die Behörden in Hamburg insoweit kein eigenes Ermessen ausübten.
Schließlich kann sich der Bf. auch nicht mit Erfolg darauf berufen, daß durch das Sechzehnte Gesetz zur änderung des Umsatzsteuergesetzes (BStBl 1965 I S. 107) die Generalagenten mit gemischter Tätigkeit mit den Entgelten aus ihrer verwaltenden Tätigkeit von der Umsatzsteuer freigestellt wurden und daß für die Gewerbesteuer eine entsprechende gesetzliche Regelung vorbereitet werde. Denn es muß davon ausgegangen werden, daß ein solches Gesetz, wenn es erlassen wird und die als Gewerbetreibenden anzusehenden Versicherungsagenten teilweise von der Gewerbesteuer freistellt, erst mit seiner Verkündung in Kraft tritt. Es besteht jedenfalls keine Möglichkeit, mögliche künftige Gesetzesänderungen bei der Entscheidung dieses Falls zu berücksichtigen.
Fundstellen
Haufe-Index 411790 |
BStBl III 1965, 700 |
BFHE 1966, 555 |
BFHE 83, 555 |