Entscheidungsstichwort (Thema)
In Verwaltungsvorschriften vorgesehene Billigkeitsmaßnahmen; steuerfreie Kreditgewährung durch Winzer an ihre Genossenschaft
Leitsatz (NV)
1. Im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung von Entscheidungen über Billigkeitsmaßnahmen (§§ 163, 227 AO 1977) sind in Verwaltungsvorschriften enthaltene Übergangs- und Billigkeitsregelungen grundsätzlich zu beachten.
2. Die Übergangsregelung in Abschn. V des BMF-Schreibens vom 1. April 1986 (BStBl I 1986, 149) gilt ausschließlich für Kreditleistungen im Zusammenhang mit einer Lieferung oder sonstigen Leistung, die nach früherer Rechtsauffassung steuerfrei war, nunmehr aber als selbständige Leistung gemäß § 4 Nr. 8 Buchst. a UStG 1980 zu beurteilen ist.
3. Diese Bedingung erfüllen Kredite nicht, die einer Winzergenossenschaft dadurch gewährt werden, daß die Winzer die ihnen für Traubenlieferungen gutgeschriebenen Beträge stehenlassen.
Normenkette
FGO § 102; AO 1977 § 163 Abs. 1 S. 1, § 227 Abs. 1; UStG 1980 § 4 Nr. 8 Buchst. a
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist eine Winzergenossenschaft. Die in ihr zusammengeschlossenen Winzer lieferten jeweils im Herbst ihr Traubengut bei der Klägerin gegen Lieferschein ab. Die Klägerin ermittelte sodann im Wege einer vorläufigen ersten Schätzung den Wert der jeweiligen Lieferung und schrieb ihn den Winzern in Teilbeträgen gut. Die Winzer konnten vom Zeitpunkt der Gutschrift an über die jeweiligen Teilbeträge verfügen. Soweit sie die Beträge nicht abhoben, schrieb ihnen die Klägerin Zinsen gut, deren Höhe jährlich in Anlehnung an die Konditionen der Geldinstitute festgelegt wurde. Im Rahmen der Endabrechnung, die rund drei bis vier Jahre nach Anlieferung des Traubengutes eines Jahrganges erfolgte, erteilte die Klägerin den Winzern über die ihnen letztlich zustehenden Traubengelder einschließlich Zinsen Gutschriften mit gesondertem Steuerausweis.
In den für die Streitjahre (1974 bis 1976) eingereichten Umsatzsteuererklärungen machte die Klägerin die in den Gutschriften ausgewiesene Umsatzsteuer als Vorsteuer geltend. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) führte die Veranlagungen zunächst entsprechend den Erklärungen durch. Nach einer Betriebsprüfung verweigerte das FA in den Umsatzsteueränderungsbescheiden 1974 bis 1976 den Vorsteuerabzug, soweit er auf die abgerechneten Zinserträge entfiel. Es war zu der Auffassung gelangt, bei den abgerechneten Zinsen handele es sich um Zinsen für Kredite, deren Gewährung nach § 4 Nr. 8 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1973 steuerfrei sei.
Das Finanzgericht (FG) wies die hiergegen nach erfolglosem Vorverfahren gerichtete Klage durch das in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1985, 90 abgedruckte Urteil als unbegründet ab.
Während des Revisionsverfahrens beantragte die Klägerin beim FA, auf der Grundlage der Übergangsregelung in dem Schreiben des Bundesministers der Finanzen (BMF) vom 1. April 1986 IV A 2 - S 7100 - 33/86 (BStBl I 1986, 149) aus Billigkeitsgründen die Umsatzsteuer niedriger festzusetzen bzw. die streitigen Umsatzsteuerbeträge zu erlassen.
Diesen Antrag lehnte das FA ab; die Beschwerde hiergegen blieb erfolglos. In der Beschwerdeentscheidung vom 8. April 1987 vertrat die Oberfinanzdirektion (OFD) die Auffassung, das BMF-Schreiben sei nicht anwendbar, da es nur für Warenkredite gelte, nicht aber für Kapitalkredite, wie sie im Streitfall vorlägen. Außerdem seien die Voraussetzungen nach Nr. 4 der Übergangsregelung des BMF-Schreibens nicht erfüllt. Danach verbleibe es bei einer Abrechnung in Form einer Gutschrift beim Vorsteuerabzug für den Leistungsempfänger, wenn der leistende Unternehmer dem in der Gutschrift ausgewiesenen Steuerbetrag nicht widerspreche und diesen Steuerbetrag insgesamt an das FA abführe. Die Winzer als Leistungsempfänger unterlägen der Besteuerung nach Durchschnittssätzen (§ 24 UStG 1973) und hätten folglich keine Umsatzsteuer an das FA abzuführen.
Der daraufhin erhobenen Klage gab das FG statt und verpflichtete das FA antragsgemäß zum Erlaß der streitigen Steuern. Das Urteil ist in EFG 1992, 98 abgedruckt.
Mit der Revision trägt das FA in Anlehnung an die Gründe der Beschwerdeentscheidung vor, das BMF-Schreiben sei im Streitfall nicht anwendbar.
Die Klägerin tritt der Revision entgegen. Sie hält ihren Rechtsstandpunkt zur Anwendbarkeit des BMF-Schreibens aufrecht. Ergänzend rügt sie, die ablehnende Entscheidung des FA widerspreche Abschn. 192 Abs. 8 Satz 2 der Umsatzsteuer-Richtlinien (UStR).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage.
1. Steuern können gemäß § 163 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) niedriger festgesetzt werden, wenn deren Erhebung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Ferner können gemäß § 227 Abs. 1 AO 1977 die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre.
Die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme im Sinne der genannten Vorschriften ist eine Ermessensentscheidung, die von den Gerichten gemäß § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nur daraufhin überprüft werden darf, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603; Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 21. Februar 1991 V R 105/84, BFHE 163, 313, BStBl II 1991, 498; vom 26. Februar 1991 IX R 95/88, BFHE 163, 562, BStBl II 1991, 572 unter 2. a; vgl. auch Franßen in Festschrift 75 Jahre Reichsfinanzhof-Bundesfinanzhof, 1993, 605, 607ff.).
2. Die vom FG ausgesprochene Erlaßverpflichtung ist angesichts dieses Prüfungsmaßstabes nicht gerechtfertigt. Es bedarf keiner Entscheidung, ob der Antrag der Klägerin bei verständiger Würdigung nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 oder nach § 227 Abs. 1 AO 1977 zu bescheiden war. Im Streitfall haben die Finanzbehörden den Antrag ermessensfehlerfrei abgelehnt, indem sie entschieden haben, daß die Klägerin ihr Begehren nicht auf Abschn. V des bezeichneten BMF-Schreibens vom 1. April 1986 stützen kann.
a) Die Übergangsregelung - soweit im Streitfall von Bedeutung - lautet:
Für die bis zum 30. Juni 1986 ausgeführten Umsätze ist es nicht zu beanstanden, wenn der Unternehmer die Kreditgewährung nicht als gesonderte Leistung und dementsprechend die dafür berechneten Zuschläge als Teil des Entgelts für die Lieferung oder sonstige Leistung behandelt. Diese Behandlung setzt voraus, daß der Unternehmer die Umsatzsteuer auch insoweit, als sie auf das für die Kreditgewährung berechnete Entgelt entfällt, nach den für die Lieferung oder sonstige Leistung geltenden Merkmalen entrichtet. Für die Rechnungserteilung und den Vorsteuerabzug ist in diesen Fällen wie folgt zu verfahren:
1. Der Vorsteuerabzug des leistenden Unternehmers beurteilt sich insgesamt nach den für die Lieferung oder sonstige Leistung geltenden Grundsätzen.
...
4. Bei einer Abrechnung in Form einer Gutschrift i.S. des § 14 Abs. 5 UStG verbleibt es für den Leistungsempfänger beim Vorsteuerabzug, wenn der leistende Unternehmer dem in der Gutschrift ausgewiesenen Steuerbetrag nicht widerspricht und diesen Steuerbetrag insgesamt an das Finanzamt abführt.
b) In Verwaltungsvorschriften enthaltene Übergangs- und Billigkeitsregelungen sind grundsätzlich auch von den Finanzgerichten zu beachten (vgl. BFH-Beschluß vom 25. Juni 1984 GrS 4/82, BFHE 141, 405, 417, BStBl II 1984, 751, 757; BFH-Urteile vom 25. November 1980 VII R 17/78, BFHE 132, 159, BStBl II 1981, 204, unter C.II.3. a, und vom 26. Februar 1991 IX R 95/88, BFHE 163, 562, BStBl II 1991, 572, unter 2. b; von Groll in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 227 AO 1977 Rz. 202ff., 361).
c) Auf den Streitfall ist die Übergangsregelung im BMF-Schreiben vom 1. April 1986 jedoch nicht anwendbar.
aa) Das BMF-Schreiben ist ausweislich der Bezugnahme auf das BMF-Schreiben vom 25. Februar 1982 IV A 2 - S 7100 - 9/82 (BStBl I 1982, 381) eine Reaktion auf den BFH-Beschluß vom 18. Dezember 1980 V B 24/80 (BFHE 132, 147, BStBl II 1981, 197). In diesem hatte der Senat es als ernstlich zweifelhaft beurteilt, ob die seit jeher in Rechtsprechung und Literatur vertretene Auffassung, daß die Steuerbefreiung von Kreditgewährungen nur den Kapitalkredit betreffe, nicht aber den Warenkredit, - jedenfalls - für Teilzahlungszuschläge bei Abzahlungsgeschäften auf- rechterhalten werden könne.
Das BMF-Schreiben vom 1. April 1986 setzt diese Rechtsprechung um. Die Übergangsregelung in Abschn. V soll dementsprechend ausschließlich für Kreditleistungen im Zusammenhang mit einer Lieferung oder sonstigen Leistungen gelten, die nach früherer Rechtsauffassung steuerfrei war, nunmehr aber als selbständige Leistung gemäß § 4 Nr. 8 Buchst. a UStG 1980 zu beurteilen ist.
bb) Im Streitfall kommt ein derartiger Wechsel in der umsatzsteuerrechtlichen Beurteilung nicht in Betracht.
Nach den Feststellungen des FG konnten die Winzer vom Zeitpunkt der Gutschrift an über die jeweiligen Teilbeträge verfügen; soweit sie die Beträge nicht abhoben, schrieb ihnen die Klägerin Zinsen gut, deren Höhe jährlich in Anlehnung an die Konditionen der Geldinstitute festgelegt wurde. Demzufolge hing es allein von der Entscheidung der Winzer ab, ob und ggf. in welcher Höhe sie durch Stehenlassen der ihnen jeweils gutgeschriebenen Beträge der Klägerin Kredit gewährten. Diese - wiederholt anfallenden, erst bei der jeweiligen Gutschrift der Teilbeträge erforderlichen - Entscheidungen und die für sie maßgeblichen Gründe standen weder zeitlich noch sachlich im Zusammenhang mit den bereits abgeschlossenen Traubenlieferungen.
Mithin handelte es sich auch nach der ursprünglichen Rechtsauffassung, die entscheidend auf den Grundsatz der Einheitlichkeit der Leistung bzw. auf die Grundsätze von Haupt- und Nebenleistung abstellte (vgl. die Nachweise im BFH-Beschluß in BFHE 132, 147, BStBl II 1981, 197), um selbständige und damit steuerfreie Kreditgewährungen.
b) Ob die Übergangsregelung des BMF-Schreibens auch deshalb nicht eingreift, weil - worauf die ablehnenden Bescheide ferner gestützt sind - die Voraussetzungen nach Nr. 4 dieser Regelung nicht vorliegen, kann der Senat offenlassen.
3. Abschn. 192 Abs. 8 Satz 2 UStR kann entgegen der Ansicht der Klägerin die von ihr erstrebte Billigkeitsmaßnahme ebenfalls nicht rechtfertigen. Danach ist u.a. bei einem gesonderten Steuerausweis in einer Gutschrift für einen steuerfreien Umsatz der Vorsteuerabzug dann nicht zu beanstanden, wenn die Beteiligten berechtigte Zweifel an der Steuerbefreiung des maßgeblichen Umsatzes hatten und ihn daher einverständlich als steuerpflichtig behandelt haben. Berechtigte Zweifel in diesem Sinne bestanden - wie dargelegt - im Streitfall nicht.
Fundstellen
Haufe-Index 419509 |
BFH/NV 1994, 669 |