Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerliche Betriebsprüfung Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Der Steuerprozeß kennt grundsätzlich keine Beweislast und keine Beweisregeln wie der Zivilprozeß (§§ 204, 243 AO).
Die Amtspflicht zur Sachaufklärung (§§ 204, 243 AO) und die gesetzliche Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen bei der amtlichen Sachaufklärung, insbesondere seine Erklärungs-, Darlegungs- und Nachweispflichten (§ 171 AO) gehen bis zur Grenze des Zumutbaren.
Wo die Grenzen des Zumutbaren bei der Amtspflicht zur Sachaufklärung wie bei der Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen im Einzelfalle liegen, ist nach den Grundsätzen von Treu und Glauben unter Beachtung aller Umstände des einzelnen Falles zu entscheiden.
Normenkette
AO §§ 171, 204, 243; FGO § 76/1
Tatbestand
Die Sache befindet sich im zweiten Rechtsgange. Der Bundesminister der Finanzen ist dem Verfahren beigetreten. Durch das Urteil des Bundesfinanzhofs V z 66/52 S vom 19. Dezember 1952 (Slg. Bd. 57 S. 161 = Bundessteuerblatt - BStBl - 1953 III S. 63 = Steuer und Wirtschaft - StuW - 1953 Nr. 64) wurde die Anfechtungsentscheidung der Oberfinanzdirektion vom 16. April 1952 aufgehoben und die Sache zur anderweiten Entscheidung an die Oberfinanzdirektion zurückverwiesen. Nach Auffassung des Bundesfinanzhofs waren die Grundsätze der §§ 204, 243 der Reichsabgabenordnung (AO) über die amtliche Ermittlungspflicht von der Vorinstanz bei der Ermittlung des Zollwerts der Stoffe nicht beachtet worden. Der Bundesfinanzhof hat u. a. ausgeführt: "Es war ... Aufgabe der Vorinstanz, die Beschaffenheit der in ganzen Ballen nicht mehr vorhandenen Ware nachträglich durch Zeugenvernehmungen, eidesstattliche Versicherungen usw. zu ermitteln und dann ihren Wert durch Sachverständige festzustellen. Es erscheint dem Senat in diesem Falle erforderlich, über die Bewertung des Stoffes nicht nur eine einzige Tuchgroßhandlung als Gutachter zu befragen, sondern mehrere Sachverständige, zweckmäßig den zuständigen Fachverband, gegebenenfalls das zuständige Fachreferat des Bundeswirtschaftsministeriums."
Die Oberfinanzdirektion hat in ihrer im zweiten Rechtsgange erlassenen Anfechtungsentscheidung vom 20. August 1954 die rechtliche Beurteilung des Bundesfinanzhofs, die der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegt, als zu weitgehend abgelehnt. Sie hat im Laufe der weiteren Ermittlungen durch einen Betriebsprüfer Zoll aus den kaufmännischen Unterlagen des Beschwerdeführers (Bf.) festgestellt, daß die fraglichen Stoffe sämtlich an Hausierer zu Preisen verkauft sind, die dem niedrigen Rechnungspreise der Ware entsprechen, und daß das Geschäft mit diesen Stoffen bei 3.884,20 DM Einstandspreis und 3.854,90 DM Erlös für den Bf. ein Verlustgeschäft gewesen ist. Sie hat es auf Grund dieser Ermittlungen zwar für denkbar, aber nicht für festgestellt angesehen, daß die Stoffe tatsächlich den Wert des Rechnungspreises gehabt haben. Sie hat aber weder den Bf. noch einen Angestellten seines Geschäfts über die Beschaffenheit der Stoffe gehört noch eine eidesstattliche Versicherung über die Beschaffenheit der Stoffe von dem Bf. verlangt noch Gutachten von Sachverständigen über den Zollwert der Ware eingeholt. Sie ist also den Weisungen des Bundesfinanzhofs nicht gefolgt und hat im zweiten Rechtsgange genau die gleiche Anfechtungsentscheidung getroffen wie im ersten Rechtsgange.
Der Bf. hat gegen diese Entscheidung wiederum Rechtsbeschwerde (Rb.) eingelegt. Er hat im wesentlichen erneut eingewendet, daß es sich um fehlerhafte Ware gehandelt habe, und daß infolgedessen der niedrigere Rechnungspreis dem tatsächlichen Werte der Ware entspreche.
Entscheidungsgründe
Die Rb. ist begründet.
1) ... 2) Der Senat hält auch nach der mündlichen Verhandlung im zweiten Rechtsgange an der von ihm im ersten Rechtsgange vertretenen Rechtsauffassung fest. Der Steuerprozeß kennt grundsätzlich keine Beweislast und keine Beweisregeln wie der Zivilprozeß (Becker, Reichsabgabenordnung, 7. Aufl. Anm. 2 zu § 258 AO alt, Riewald, Reichsabgabenordnung, Teil II Anm. 1 - 4 - zu § 171 AO; Urteil des Reichsfinanzhofs VI A 155/25 vom 24. September 1925, Slg. Bd. 17 S. 195 = StuW 1925 Nr. 609). Die Steuerbehörden (Finanzämter, Zollstellen) und, soweit sie Tatsacheninstanz sind, auch die Rechtsmittelbehörden (Finanzgerichte), haben nach den Vorschriften der §§ 204, 243 AO die Besteuerungsgrundlagen von Amts wegen zu ermitteln. Sie haben dabei ihre Ermittlungen auch zugunsten der Steuerpflichtigen bis zur Grenze des Zumutbaren durchzuführen (vgl. Riewald, Reichsabgabenordnung, Teil II Anm. 2 - 6 - zu § 204 AO). Die Steuerpflichtigen haben bei diesen Ermittlungen, soweit sie gesetzlich dazu verpflichtet sind, mitzuwirken, und zwar ebenfalls bis zur Grenze des Zumutbaren. Sie haben insoweit nach § 171 AO Erklärungs-, Darlegungs- und Nachweispflichten. Die Grenzen des Zumutbaren können bei der amtlichen Ermittlungspflicht wie bei der Mitwirkungspflicht der Steuerpflichtigen nicht eindeutig festgelegt werden. Es ist unter Beachtung aller Umstände des einzelnen Falles nach den Grundsätzen von Treu und Glauben zu entscheiden, wo diese Grenzen im Einzelfalle liegen (vgl. Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, Ziff. II, 5 zu § 243). Erfüllt der Steuerpflichtige seine Mitwirkungspflicht nicht, so kann im Einzelfalle die Amtspflicht zur Aufklärung dadurch ihre Grenze finden, vgl. das Urteil des Bundesfinanzhofs III 81/54 U vom 25. März 1955 = Slg. Bd. 60 S. 350 = BStBl 1955 III S. 133 Bundeszollblatt 1955 S. 350, dem der Senat im vollen Umfang beitritt. Der Senat hatte seine Auffassung über die Mitwirkung der Steuerpflichtigen bei der Ermittlungspflicht auch bereits bei der Entscheidung im ersten Rechtsgange berücksichtigt. Sie ist in dem damaligen Urteil nicht besonders zum Ausdruck gelangt, weil nach Auffassung des Senats auch unter Berücksichtigung der Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen die Vorinstanz ihrer Amtspflicht zur Sachaufklärung im vorliegenden Fall nicht ausreichend nachgekommen ist.
3) Der Steuerpflichtige hat am 13. November 1951 wertzollbare Wollgewebe aus Italien zum freien Verkehr abfertigen lassen. Am 1. Oktober 1951 war der neue Wertzolltarif in Kraft getreten. Die Wertverzollung fand also nur 1 1/2 Monate später statt. Damals waren den Importeuren die neuen Wertzollvorschriften noch wenig bekannt. Die neuen Zollwertanmeldungen waren ihnen noch fremd. Aber auch für die Zollstellen waren die Wertverzollungsvorschriften etwas Neues. Der Steuerpflichtige hatte die vorgeschriebene Zollwertanmeldung auf dem dafür vorgesehenen Formular abgegeben (vgl. §§ 27, 29, 30, 31 der Wertzollordnung - WertZO -). Er hatte aber in Ziff. 1 der Zollwertanmeldung, in der es im Formular heißt: Warengattung (genaue handelsübliche Beschreibung der Ware unter Angabe von Art und Beschaffenheit, der Sorte, Güteklasse und dergleichen, sowie besonderer werterhöhender oder wertmindernder Eigenschaften) nur eingetragen: "8 Ballen Wollgewebe br. 800 kg", ohne auf eine wertmindernde Eigenschaft der Gewebe hinzuweisen. Auch in der zum Nachweis des Zollwerts der Zollwertanmeldung beigefügten Rechnung der ausländischen Lieferfirma (vgl. §§ 36, 37 WertZO) war kein Hinweis darauf enthalten. Das war ein Mangel seiner Mitwirkungspflicht. Solche Mängel waren aber in der ersten Zeit nach der Einführung des Wertzolltarifs verständlich. Die Zollstelle war nach § 205 Abs. 1 AO verpflichtet, die Zollwertanmeldung zu prüfen, Lücken zu ergänzen und Zweifel beseitigen zu lassen. Sie hatte nach § 205 Abs. 2 AO bei Bedenken gegen die Richtigkeit der Zollwertanmeldung, insbesondere gegen die Höhe des angemeldeten Rechnungspreises erforderlichenfalls weitere Ermittlungen vorzunehmen. Sie konnte zu diesem Zweck den Steuerpflichtigen vorladen und ihn nach den §§ 170 ff. AO zu Auskunft und weiteren Nachweisungen anhalten. Sie hat ohne jede Beanstandung den in der Zollwertanmeldung angemeldeten Rechnungspreis als Zollwert bei der Berechnung des Zolls und der Umsatzausgleichsteuer dem formlosen Steuerbescheid zugrunde gelegt und die festgestellten Abgaben von dem Steuerpflichtigen gefordert. Sie hatte keine Bedenken gegen den Rechnungspreis, weil die Zollstelle in den 1 1/2 Monaten nach Inkrafttreten des Zolltarifs über die Zollwerte noch keine Erfahrungen über die Bewertung der Waren gesammelt hatte. Erst sechs Wochen später, als der Steuerpflichtige die abgefertigten Stoffe bereits verkauft hatte, hat die Zollstelle auf Grund von Beanstandungen des Warenwerts durch das Statistische Bundesamt und die Zollwertnachprüfungsstelle des Hauptzollamts einen wesentlich höheren Zollwert als Normalpreis der Waren angenommen und die zuwenig erhobenen Abgaben nachgefordert. Die Vorinstanz hat im Anfechtungsverfahren auf Grund des Gutachtens eines Sachverständigen, dem eine Warenprobe vorgelegt war - es handelte sich um eine am gleichen Ort befindliche Konkurrenzfirma - den Zollwert etwas herabgesetzt und den angefochtenen Steuerbescheid entsprechend abgeändert. Der Bf. hat die Richtigkeit dieses Gutachtens bestritten. Er hat eingewendet, die fehlerhafte Qualität der Ware könne nicht an einer Stoffprobe, sondern nur am ganzen Ballen festgestellt werden, weil der Fehler durchweg im Mittelstück des Ballens liege und daher großen Abfall bedinge. Die Vorinstanz hat diesen Einwand nicht nachgeprüft. Sie hat auch den Gutachter nicht zu diesem Einwand gehört, auch kein weiteres Gutachten über den Wert der Ware angefordert. Sie hat ausgeführt, der Einwand des Bf. könne nicht nachgeprüft werden, weil bei der Zollabfertigung der Ware die fehlerhafte Qualität der Stoffe vom Bf. weder behauptet noch amtlich festgestellt worden sei, und weil die Ware bereits weiterverkauft sei. Der Bf. müsse diese Umstände gegen sich gelten lassen, denn wer etwas vom Normalfall Abweichendes behaupte, müsse von sich aus Anlaß nehmen, von vornherein alle Tatsachen darzulegen und nachzuweisen. -
Der Senat kann dieser Auffassung nicht zustimmen. Er hält bei dem vorliegenden Sachverhalt die Vornahme weiterer amtlicher Ermittlungen nach wie vor für erforderlich. Er hat dabei unter anderem berücksichtigt, daß die Abfertigung der Ware 1 1/2 Monate nach der Einführung des neuen Zollwerttarifs stattfand, daß damals die Importeure die neuen Zollwertvorschriften noch nicht genau kannten, insbesondere auch noch nicht mit der Ausfüllung der neuen Formulare vertraut waren, und daß auch die Zollstellen über den Zollwert der Waren damals fast noch keine Erfahrungen gesammelt hatten. -
Die Anfechtungsentscheidung der Oberfinanzdirektion wird aus diesen Gründen aufgehoben. Die Sache wird zur Vornahme der erforderlichen Ermittlungen über den Zollwert der Ware erneut an die Vorinstanz zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 318 Abs. 2 AO, die Entscheidung über die Feststellung des Wertes des Streitgegenstandes auf § 320 Abs. 3 AO.
Fundstellen
Haufe-Index 408359 |
BStBl III 1956, 75 |
BFHE 62, 201 |