Entscheidungsstichwort (Thema)
Änderung eines Aufhebungsbescheids; Begrenzung von Einwendungen gegen den Änderungsbescheid durch Treu und Glauben
Leitsatz (NV)
1. Hat das FA Umsätze und Vorsteuerbeträge einer Person durch einen Aufhebungsbescheid erkennbar deshalb nicht bei dieser berücksichtigt, weil es davon ausging, diese seien bei einer anderen Person als Organträger zu erfassen, ist es nach § 174 Abs. 3 AO 1977 zur Änderung des Aufhebungsbescheids nur berechtigt, wenn seine Annahme der Eingliederung in das Unternehmen der anderen Person unrichtig war.
2. Der Grundsatz von Treu und Glauben bringt keine Steueransprüche und -schulden zum Entstehen oder Erlöschen; er kann allenfalls das Steuerverhältnis modifizieren und verhindern, daß eine Forderung oder ein Recht geltend gemacht werden kann. Eine Person darf daher -- auch nach dem Grundsatz von Treu und Glauben -- nicht lediglich wegen ihres bisherigen Verhaltens als steuerpflichtiger Unternehmer behandelt werden.
3. Es kann zwar unter besonderen Umständen gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn ein Steuerpflichtiger die Zustimmung zu einer Änderung des Steuerbescheids gem. § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 verweigert. Da der Grundsatz von Treu und Glauben aber keine Steueransprüche zum Entstehen bringt, kann diese Zustimmung nur zu einer materiell-rechtlich zutreffenden Änderung eines Steuerbescheids fingiert werden.
Normenkette
AO 1977 § 155 Abs. 1 S. 3, § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Buchst. a, § 174 Abs. 3; UStG 1980 § 2 Abs. 2 Nr. 2
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) -- eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) -- betreibt ein ... -Geschäft. Alleiniger Gesellschafter-Geschäftsführer ist B. Nachdem dieser das Unternehmen der Klägerin bis 1982 als Einzelunternehmen geführt hatte, nutzt die Klägerin seitdem Büro- und Lagerräume auf einem B gehörenden Grundstück.
Die Klägerin gab ihre Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre (1984 und 1985) in den Jahren 1986 und 1987 ab; der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) setzte die Umsatzsteuer unter Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 der Abgabenordnung -- AO 1977 --) entsprechend fest.
Im Anschluß an eine Außenprüfung vertrat das FA die Auffassung, die Klägerin sei finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des B eingegliedert (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 des Umsatzsteuergesetzes -- UStG -- 1980). Die Vorsteuern und Umsätze der Klägerin seien daher bei B als Organträger steuerlich zu erfassen. Mit Bescheid vom 24. März 1988 hob das FA die gegenüber der Klägerin ergangenen Umsatzsteuerbescheide ersatzlos auf.
Gegen die daraufhin gegenüber B erlassenen Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre erhob dieser nach erfolglosem Einspruchsverfahren Klage mit der Begründung, zwischen der Klägerin und ihm hätten die Voraussetzungen für eine Organschaft nicht vorgelegen. Das FA hob die Umsatzsteuerbescheide gegen B auf.
Gegenüber der Klägerin erließ das FA am 22. Mai 1990 erneut Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre. Der Einspruch der Klägerin blieb erfolglos.
Mit ihrer Klage macht die Klägerin geltend, der Aufhebungsbescheid vom 24. März 1988 sei als Freistellungsbescheid anzusehen und stehe der erneuten Umsatzsteuerfestsetzung entgegen. Zudem seien die Voraussetzungen für eine Steuerfestsetzung nach § 174 Abs. 3 AO 1977 nicht erfüllt. Die Erfassung der gesamten Vorsteuern und Umsätze bei B sei nicht unrichtig im Sinne der vorgenannten Vorschrift, sondern entspräche geltendem Recht, da sie -- die Klägerin -- finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des B eingegliedert sei. Die gegen sie ergangenen Steuerbescheide seien auch nicht nach dem Grundsatz von Treu und Glauben rechtens, da hiernach keine Steueransprüche begründet werden könnten.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage -- durch sein in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1995, 505 veröffentlichtes Urteil -- ab. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus, das FA habe den Aufhebungsbescheid vom 24. März 1988 gemäß § 174 Abs. 3 AO 1977 durch die angefochtenen Umsatzsteuerbescheide ändern können. Ob die Voraussetzungen einer Organschaft zwischen der Klägerin und B vorlägen, könne dahinstehen. Der Klägerin sei es jedenfalls nach Treu und Glauben verwehrt, in diesem Klageverfahren das Vorliegen einer umsatzsteuerrechtlichen Organschaft geltend zu machen. Sie müsse sich das steuerliche Verhalten des B als ihrem alleinigen Gesellschafter und Geschäftsführer zurechnen lassen.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin Verletzung formellen und materiellen Rechts. Sie macht geltend, das FG habe gegen den Inhalt der Akten verstoßen (§ 96 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --), den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt (§ 76 FGO) und ihr nicht hinreichend rechtliches Gehör gewährt. Materiell-rechtlich rügt sie Verletzung von § 174 Abs. 3 AO 1977 und unzutreffende Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben. Zwischen ihr und B lägen die Voraussetzungen für eine Organschaft vor. § 174 Abs. 3 AO 1977 sei nicht dafür gedacht, einen Fehler des FA zu korrigieren, der darin bestanden habe, daß das FA in Verkennung der Rechtslage die gegen B ergangenen Umsatzsteuerbescheide aufgehoben habe. Sie -- die Klägerin -- sei auch nicht nach Treu und Glauben gehindert, sich auf das Vorliegen einer umsatzsteuerrechtlichen Organschaft zu berufen. Die vom FG zur Begründung herangezogenen Urteile des Bundesfinanzhofs (BFH) seien überholt.
Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Umsatzsteuerbescheide vom 22. Mai 1990 aufzuheben, hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Das FA ist der Revision entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Das FG hat den Grundsatz von Treu und Glauben, auf den es seine Entscheidung stützt, nicht rechtsfehlerfrei angewendet. Der Senat kann anhand der vom FG festgestellten Tatsachen (§ 118 Abs. 2 FGO) nicht abschließend entscheiden, ob das FA die angefochtenen Umsatzsteuerbescheide zu Recht erlassen hat. Die Vorentscheidung war deshalb aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
1. Es kann im Streitfall dahingestellt bleiben, ob der Aufhebungsbescheid vom 24. März 1988 -- wie das FG meint -- ein Freistellungsbescheid ist, auf den gemäß § 155 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 die für Steuerbescheide geltenden Vorschriften, mithin auch die Vorschriften über die Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden (§§ 172 ff. AO 1977), anzuwenden sind.
Das FA wäre zum Erlaß der dem Aufhebungsbescheid entgegenstehenden angefochtenen Umsatzsteuerbescheide vom 22. Mai 1990 jedenfalls berechtigt gewesen, wenn die Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 AO 1977 vorgelegen hätten. Dem stehen die Entscheidungen des BFH vom 27. November 1984 VIII R 376/83 (BFH/NV 1985, 13) und vom 11. Juli 1986 VI R 105/83 (BFHE 147, 113, BStBl II 1986, 775) nicht entgegen. Hiernach ist die Finanzverwaltung, nachdem sie einen Steuerbescheid durch einen Freistellungsbescheid aufgehoben hat, lediglich gehindert, ohne Vorliegen der Voraussetzungen zum Erlaß eines Änderungsbescheids nach §§ 172 ff. AO 1977 in der gleichen Angelegenheit einen neuen Steuerbescheid zu erlassen (vgl. BFH in BFHE 147, 113, BStBl II 1986, 775 vorletzter Absatz).
Nach § 174 Abs. 3 AO 1977 durfte das FA den angefochtenen Umsatzsteuerbescheid nur erlassen, wenn es einen bestimmten Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt hatte, daß er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei und sich diese Annahme als unrichtig herausgestellt hatte. Da das FA die Umsätze und Vorsteuerbeträge der Klägerin durch den Aufhebungsbescheid erkennbar deshalb nicht bei der Klägerin berücksichtigt hat, weil es davon ausging, diese seien bei B als Organträger zu erfassen, war es nach § 174 Abs. 3 AO 1977 zur Änderung dieses Aufhebungsbescheids nur berechtigt, wenn seine Annahme, die Klägerin sei finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des B eingegliedert, unrichtig war. Entscheidend für die Frage der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Umsatzsteuerbescheide vom 22. Mai 1990 ist demnach, ob sie materiell-rechtlich zutreffend sind, d. h., ob zwischen der Klägerin und B keine Organschaft vorlag.
2. Eine materiell-rechtliche Prüfung der angefochtenen Bescheide ist -- entgegen der Auffassung des FG -- nicht deshalb entbehrlich, weil es der Klägerin nach dem Grundsatz von Treu und Glauben verwehrt wäre, sich im vorliegenden Verfahren darauf zu berufen, sie sei finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des B eingegliedert und daher selbst nicht steuerpflichtig.
a) Der Grundsatz von Treu und Glauben ist im Steuerrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz uneingeschränkt anerkannt (vgl. BFH-Urteile vom 9. August 1989 I R 181/85, BFHE 158, 31, BStBl II 1989, 990 unter II.1., und vom 8. Februar 1995 I R 127/93, BFHE 177, 332, BStBl II 1995, 764 unter 4., jeweils m. w. N.). Er gebietet, daß im Steuerrechtsverhältnis jeder auf die berechtigten Belange des anderen Teiles angemessen Rücksicht nimmt und sich mit seinem eigenen früheren Verhalten nicht in Widerspruch setzt (vgl. BFH-Urteil vom 4. November 1975 VII R 28/72, BFHE 117, 317 unter 1.).
b) Wenn auch die Klägerin ihr bisheriges Verhalten gegen sich gelten lassen muß, so darf gleichwohl keine Steuer gegen sie festgesetzt werden, ohne daß der Sachverhalt vorliegt, an den das Gesetz die Entstehung der Steuer knüpft (vgl. BFH-Urteile vom 21. Juni 1957 VI 115/55 U, BFHE 65, 172, BStBl III 1957, 300, und vom 15. Februar 1962 V 206/59, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1962, 320). Der Grundsatz von Treu und Glauben bringt keine Steueransprüche und -schulden zum Entstehen oder Erlöschen; er kann allenfalls das Steuerrechtsverhältnis modifizieren und verhindern, daß eine Forderung oder ein Recht geltend gemacht werden kann (vgl. BFH in BFHE 158, 31, BStBl II 1989, 990). Der Klägerin kann daher nach dem Grundsatz von Treu und Glauben auf Grund ihres früheren Verhaltens zwar verwehrt sein, ihr zustehende Einwendungen und Einreden gegen Ansprüche des FA zu erheben. Dieses Verhalten kann aber nicht dazu führen, eine Steuerpflicht zu begründen, die materiell-rechtlich nicht besteht. Die Klägerin darf daher -- auch nach dem Grundsatz von Treu und Glauben -- nicht lediglich wegen ihres bisherigen Verhaltens als steuerpflichtige Unternehmerin behandelt werden.
Zudem ist zweifelhaft, ob -- wie das FG meint -- der Klägerin das Verhalten und der Vortrag des B in seiner eigenen steuerrechtlichen Angelegenheit zuzurechnen ist. Der Grundsatz von Treu und Glauben wirkt rechtsbegrenzend lediglich innerhalb eines bestehenden Steuerschuldverhältnisses und erfordert Identität der Rechtssubjekte (vgl. BFH-Urteil vom 5. Mai 1993 X R 111/91, BFHE 171, 400, BStBl II 1993, 817 unter 3. c).
Rechtsidentität zwischen B als Einzelunternehmer und der Klägerin besteht aber -- auch angesichts der Tatsache, daß B alleiniger Gesellschafter-Geschäftsführer der Klägerin ist -- nicht.
c) Die vom FG zur Stützung seiner Rechtsansicht herangezogenen BFH-Urteile vom 7. Juli 1966 V 20/64 (BFHE 86, 541, BStBl III 1966, 613), vom 30. Oktober 1975 IV R 15/72; 146/74 (BFHE 117, 419, BStBl II 1976, 253) und vom 21. Februar 1989 IX R 67/84 (BFH/NV 1989, 687) stehen dem nicht entgegen. Ihnen liegen sämtlich Sachverhalte zugrunde, in denen die angefochtenen Berichtigungsbescheide materiell-rechtlich zutreffend waren. Strittig war lediglich, ob der Steuerpflichtige auf Grund seines vorherigen Verhaltens nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gehindert war, die Zustimmung zur Berichtigung nach § 94 Abs. 1 Nr. 2 der Reichsabgabenordnung (AO) zu verweigern bzw. sich darauf zu berufen, die Nichtberücksichtigung eines bestimmten Sachverhalts sei für ihn nicht erkennbar gewesen i. S. von § 174 Abs. 3 AO 1977.
3. Die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Umsatzsteuerbescheide kann ohne ihre materiell-rechtliche Prüfung auch nicht aus § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 i. V. m. dem Grundsatz von Treu und Glauben hergeleitet werden. Nach dieser Vorschrift darf ein Steuerbescheid aufgehoben oder geändert werden, soweit der Steuerpflichtige zustimmt oder seinem Antrag der Sache nach entsprochen wird. Gemäß der Rechtsprechung des BFH zu § 94 Abs. 1 Nr. 2 AO -- dessen Inhalt der Regelung in § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 entspricht -- kann es zwar unter besonderen Umständen gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn ein Steuerpflichtiger die Zustimmung zu einer Berichtigung des Steuerbescheids verweigert (vgl. BFH-Urteile in BFHE 86, 541, BStBl III 1966, 613, und vom 7. Dezember 1962 VI 310/60 U, BFHE 76, 446, BStBl III 1963, 162, sowie vom 23. Juni 1993 X R 214/87, BFH/NV 1994, 295, wonach diese Rechtsprechung für eine Übergangszeit auch auf Änderungsbescheide nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 anzuwenden ist). Da der Grundsatz von Treu und Glauben -- wie unter 2. dargelegt -- aber keine Steueransprüche zum Entstehen bringt, kann die Zustimmung des Steuerpflichtigen nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 nur zu einer materiell-rechtlich zutreffenden Änderung eines Steuerbescheids fingiert werden, wie dieses auch in den Sachverhalten der Fall war, die den vorgenannten Urteilen zugrunde lagen. Auch insoweit bedarf es mithin einer materiell-rechtlichen Prüfung der angefochtenen Umsatzsteuerbescheide.
4. Da das FG von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist, war die Vor entscheidung aufzuheben und die nicht entscheidungsreife Sache an das FG zurückzuverweisen. Es war daher nicht mehr darauf einzugehen, ob die von der Klägerin erhobenen Verfahrensrügen zulässig und begründet sind.
Das FG wird nunmehr prüfen müssen, ob die Klägerin finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des B eingegliedert oder ob sie selbständig tätige Unternehmerin war. Zudem besteht Gelegenheit zu prüfen, ob B in das anhängige Streitverfahren einbezogen werden kann, um aus dessen Ausgang ggf. ihm gegenüber steuerliche Folgerungen ziehen zu können (z. B. nach § 174 Abs. 5 AO 1977).
Fundstellen
BFH/NV 1996, 733 |
BFH/NV 1996, 734 |