Entscheidungsstichwort (Thema)
Erlaß wegen sachlicher Unbilligkeit nach unzutreffender verfahrensrechtlicher Belehrung durch FA
Leitsatz (NV)
1. Hat das FA auf einen zulässigen Einspruch hin den Steuerpflichtigen sachlich unzutreffend dahin belehrt, über seine Einwendungen gegen den Bescheid werde im Erlaßverfahren entschieden werden, rechtfertigt dies einen Erlaß wegen sachlicher Unbilligkeit, wenn das Rechtsbehelfsverfahren Erfolg gehabt hätte.
2. Zur Frage der personellen Zurechnung der vom geschäftsführenden Gesellschafter einer OHG getätigten ,,Schwarzgeschäfte".
Normenkette
FGO § 102; AO 1977 § 227; UStG 1967 § 2 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war zusammen mit G Gesellschafter der Firma G & L OHG. Zur Geschäftsführung und Vertretung der OHG war nach § 4 des Gesellschaftsvertrages jeder Gesellschafter alleinberechtigt. In den Streitjahren 1968 bis 1972 erledigte der Gesellschafter G die kaufmännischen Belange des Unternehmens einschließlich der Buchführungsarbeiten allein. Der Kläger kümmerte sich im wesentlichen um den handwerklichen Bereich.
Zum 31. Dezember 1972 schied der Kläger aus der Gesellschaft aus. G führte das Unternehmen allein fort. Im Auseinandersetzungsvertrag vom 17. Februar 1973 verzichteten die Gesellschafter einvernehmlich auf die Erstellung einer Auseinandersetzungsbilanz. Der Kläger erhielt ein Auseinandersetzungsguthaben in Höhe von 100 000 DM, mit dessen Zahlung sämtliche Ansprüche gegen die Gesellschaft und den Gesellschafter G abgegolten waren. G verpflichtete sich, den Kläger von allen Verbindlichkeiten der Firma G & L OHG gegenüber Dritten freizustellen und sich bei den Gläubigern um die Haftentlassung des Klägers zu bemühen.
Im Jahre 1975 wurde für die Streitjahre eine Steuerfahndungsprüfung durchgeführt. Es wurde festgestellt, daß G ohne Wissen des Klägers erhebliche Umsätze unversteuert gelassen und die Entgelte hieraus auf einem ,,schwarzen Konto" für sich vereinnahmt hatte. Ferner waren im Jahre 1972 Ausgangsrechnungen nicht in voller Höhe verbucht und insoweit die Umsätze zu niedrig angemeldet worden. Die aufgrund der Steuerfahndungsprüfung nachgeforderte Umsatzsteuer beruht fast ausschließlich auf den vorgenannten Feststellungen. Der zunächst nur an G bekanntgegebene Umsatzsteuerbescheid (Änderungsbescheid für 1968 bis 1972) wurde bestandskräftig. Am 3. Juni 1976 gab G vor dem Amtsgericht in Münster die eidesstattliche Versicherung nach § 807 der Zivilprozeßordnung (ZPO) ab. Vollstreckungsversuche des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) gegen G wegen der Mehrsteuern blieben erfolglos.
Mit Haftungsbescheid vom 26. September 1977 nahm das FA den Kläger unter anderem auf Zahlung von Umsatzsteuer in Höhe von 46 533,10 DM in Anspruch. Ferner stellte es dem Kläger den Änderungsbescheid über Umsatzsteuer 1968 bis 1972 zu. Gegen diese Bescheide legte der Kläger Einspruch ein. Mit Schreiben vom 5. Januar 1978 trug er vor, ihm sei von den vereinnahmten Entgelten, die zu den Steuernachforderungen geführt hatten, nichts zugeflossen. Es sei daher nicht Rechtens, ihn hierfür in Haftung zu nehmen, zumal er schon den Schaden der entgangenen Einnahmen und Gewinnanteile in Höhe von 496 000 DM tragen müsse. Er beantrage deshalb, die Steuerforderung aus Billigkeitsgründen zu erlassen. Hilfsweise beantrage er, die Ehefrau des Gesellschafters G in Haftung zu nehmen. Außerdem habe das FA die im Urteil des Finanzgerichts (FG) Rheinland-Pfalz vom 28. April 1977 (Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1977, 511) dargestellten Grundsätze über die Ermessensausübung verletzt. Mit Schreiben vom 30. Januar 1978 teilte das FA dem Kläger mit, er habe seine Einsprüche bislang nicht begründet. Es nehme daher an, daß der Kläger die Bescheide der Sache nach als richtig anerkenne und bitte deshalb um Bestätigung und um Zurücknahme der Einsprüche. Über den Erlaßantrag könne erst nach Rechtskraft der Bescheide gesondert entschieden werden. Mit Schreiben vom 22. Februar 1978 nahm der Kläger die Einsprüche zurück.
Mit Verfügung vom 13. März 1978 lehnte das FA den Erlaßantrag mit der Begründung ab, es sei nicht Sinn und Zweck einer Billigkeitsregelung, den bestandskräftigen Haftungsbescheid vom 26. September 1977, der nicht offensichtlich fehlerhaft sei, sachlich zu überprüfen. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies die Oberfinanzdirektion (OFD) Münster durch Entscheidung vom 10. November 1978 als unbegründet zurück.
Das FG hat die Klage abgewiesen.
Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung materiellen Rechts. Er trägt zur Begründung vor:
Vor dem 30. Januar 1978 habe das FA anläßlich einer Besprechung bei ihm die realistische Erwartung geweckt, sein Erlaßantrag würde positiv beschieden werden. Ausweislich der Steuerakten habe das FA vor Erlaß des Haftungsbescheides sein Ermessen nicht bestätigt. Das FG habe die Tragweite des § 227 der Abgabenordnung (AO 1977) verkannt. Ein Billigkeitserlaß könne nicht unter Hinweis auf klare Haftungsvorschriften abgelehnt werden. Vielmehr sei zu prüfen, ob ein nach steuerlichen Vorschriften durchaus zu Recht bestehender Anspruch nicht aus Gründen einer besonderen Härte erlassen werden könne. Derartige Erlaßgründe lägen im Streitfall vor. Ferner habe das FA die zunächst gegebenen Möglichkeiten einer Vollstreckung gegen G und dessen Ehefrau ungenutzt gelassen bzw. die Vollstreckung nicht mit der notwendigen Konsequenz betrieben. Die mutmaßlichen Schwierigkeiten bei einer Rechtsverfolgung auf der Grundlage des § 191 AO 1977 in Verbindung mit § 419 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) könnten es nicht rechtfertigen, daß solche rechtlichen Schritte gar nicht erst unternommen würden. Ausweislich der Vollstreckungsakten habe der Erstschuldner Zahlungen geleistet, die offenbar auf andere Steuerschulden angerechnet worden seien. Diese Zahlungen seien auf die Haftungsschulden anzurechnen.
Der Kläger beantragt sinngemäß, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils das FA zu verurteilen, die Haftungsschuld in Höhe von 46 533,10 DM zu erlassen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
1. Das FG ist zu Recht davon ausgegangen, daß es sich bei der zu überprüfenden Verwaltungsentscheidung - Ablehnung des Erlaßantrags - um eine Ermessensentscheidung handelt, die materiell-rechtlich von den Gerichten grundsätzlich nur auf Ermessensüberschreitung und Ermessensfehlgebrauch nachgeprüft werden kann (vgl. Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Das FG hat nach dem Maßstab der Billigkeit eine Ermessensüberschreitung und einen Ermessensfehlgebrauch durch die Finanzbehörden verneint und dargelegt, daß diese die vom Kläger beantragte Billigkeitsmaßnahme ohne Rechtsverletzung abgelehnt haben. Das angefochtene Urteil verletzt § 102 FGO, weil das FG verkannt hat, daß das FA nicht alle gebotenen Ermessenserwägungen angestellt hat und deshalb ein Fall der Ermessensunterschreitung vorliegt (vgl. Urteil des BFH vom 14. Juni 1983 VII R 4/83, BFHE 138, 508, 512, BStBl II 1983, 695; Tipke/Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 5 AO 1977, Tz. 20).
2. a) Nach § 227 Abs. 1 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Nach den nicht angefochtenen und daher für das Revisionsgericht bindenden (§ 118 Abs. 2 FGO) Feststellungen des FG kommt im Streitfall nur ein Erlaß wegen sachlicher Unbilligkeit in Betracht.
b) Ein Erlaß wegen sachlicher Unbilligkeit kann nicht allein darauf gestützt werden, daß die bestandskräftige Festsetzung (hier: des Haftungsanspruchs) - möglicherweise auch offensichtlich und eindeutig - falsch sei (BFH-Urteile vom 2. März 1961 IV 126/60 U, BFHE 73, 53, BStBl III 1961, 228; vom 30. April 1981 VI R 169/78, BFHE 133, 255, BStBl II 1981, 611). Durch das Erlaßverfahren soll der Steuerpflichtige grundsätzlich keinen weiteren, an keine Rechtsbehelfsfrist gebundenen Rechtsanspruch auf Nachprüfung des Steuerbescheides erhalten. Hinzu kommen muß vielmehr, daß es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren (Urteil in BFHE 133, 255, 257, BStBl II 1981, 611; vgl. auch BFH-Urteile vom 6. Juli 1976 VII R 98/73, BFHE 120, 2, 5; vom 18. Januar 1977 VII R 94/73, BFHE 121, 246, 250). Weniger strenge Maßstäbe gelten hinsichtlich der Erkennbarkeit des Rechtsfehlers und der Zumutbarkeit der Anfechtung dann, wenn die Verwaltung die Unanfechtbarkeit des Bescheides in zurechenbarer Weise verursacht hat. Hat die Finanzbehörde den Steuerpflichtigen unter Verletzung der aus § 89 AO 1977 folgenden Beratungspflicht sachlich unzutreffend darin belehrt, daß über seine Einwendungen gegen den Steuerbescheid im Erlaßverfahren entschieden werde, kann es dem Steuerpflichtigen nicht zur Last gelegt werden, wenn er seine rechtlichen Einwände nicht schon im Verfahren über den rechtzeitig eingelegten Einspruch verfolgt hat. Der Steuerpflichtige darf auf die Erklärung der Behörde vertrauen, sein Vorbringen könne im Erlaßverfahren berücksichtigt werden (BFH-Urteil vom 2. Februar 1966 II 55/62, BFHE 84, 483, 487 f., BStBl III 1966, 175). Ein solches Verhalten ist ein Erlaßgrund, wenn das Rechtsbehelfsverfahren Erfolg gehabt hätte (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 227 AO 1977, Tz. 22). Dies folgt aus dem allgemeinen Grundsatz, daß der Gesichtspunkt von Treu und Glauben einer Steuer(nach-)forderung entgegensteht, wenn der Steuerpflichtige im Vertrauen auf ein Verhalten der Verwaltung nicht mehr rückgängig zu machende Dispositionen getroffen hat. Diese Dispositionen können sein Vermögen betreffen (vgl. BFH-Urteil vom 5. Februar 1980 VII R 101/77, BFHE 130, 90, 95), wie auch einen verfahrensrechtlichen Besitzstand.
c) So liegt es im Steitfall. Mit Schreiben vom 5. Januar 1978 hatte der Kläger vorgetragen, es sei ,,nicht Rechtens", von ihm die Umsatzsteuer auf Umsätze zu verlangen, deren Entgelte allein sein damaliger Mitgesellschafter ohne sein Wissen auf eigenen ,,Schwarzkonten" vereinnahmt habe. Hilfsweise hatte der Kläger beantragt, die Ehefrau des Mitgesellschafters G nach § 419 BGB in Haft zu nehmen, die durch den schenkweisen Erwerb eines Wohnhauses ,,einen Nutzen aus den Betrugsgeldern gezogen habe". Ferner hatte der Kläger abschließend allgemein darauf hingewiesen, nach den Grundsätzen über die Ermessensausübung könne er nicht als Haftungsschuldner herangezogen werden, bevor nicht beim Schuldner sämtliche Beitreibungsmöglichkeiten ausgeschöpft seien. Alle diese Einwendungen betrafen die Rechtmäßigkeit des rechtzeitig angefochtenen Haftungsbescheides und konnten nicht allein auf den Erlaßantrag bezogen werden. Dies hat das FA verkannt, wenn es in seinem Schreiben vom 30. Januar 1978 die Auffassung vertrat, der Einspruch gegen den Haftungsbescheid sei bislang nicht begründet worden, über den Erlaßantrag könne ,,erst nach Rechtskraft der Bescheide gesondert entschieden werden". Durch diese sachlich falsche Beratung hat das FA dem Kläger den verfahrensrechtlich falschen Weg gewiesen. Das aus den Grundsätzen von Treu und Glauben abgeleitete Prinzip des Vertrauensschutzes gebietet es hier, jedenfalls im gegenständlichen Umfang der Antragsbegründung im Billigkeitsverfahren die Erfolgsaussichten eines als fortgeführt gedachten Rechtsbehelfsverfahrens zu prüfen.
3. Auf den Vortrag des Klägers, die Inanspruchnahme für Schwarzgeschäfte des Mitgesellschafters G sei nicht Rechtens, hätte das FA bei Fortführung des Einspruchverfahrens prüfen müssen, ob diese Umsätze überhaupt der Firma G & L OHG zuzurechnen waren. Dies gilt jedenfalls hinsichtlich der nach Feststellung des FG ,,ohne Wissen des Klägers" getätigten Umsätze, deren Entgelte der Kläger ,,auf einem sogenannten Schwarzkonto für sich vereinnahmt hatte". Insoweit war zu beurteilen, ob diese Umsätze möglicherweise dem Mitgesellschafter G als Alleinunternehmer zuzurechnen waren. Für die Zurechnung der Umsätze folgt das Umsatzsteuerecht grundsätzlich dem Zivilrecht. Träger des Umsatzes ist der jeweilige Vertragspartner; denn dieser schuldet die Leistung (BFH-Beschluß vom 13. September 1984 V B 10/84, BFHE 142, 164, BStBl II 1985, 21). Dies ist insbesondere zu beachten, wenn der Gesellschafter einer Personengesellschaft neben der Gesellschaft mögliches Steuersubjekt ist. Da FA und OFD die erforderliche Prüfung unterlassen haben, war der angefochtene Bescheid wegen Ermessensunterschreitung rechtswidrig. Dies hat das FG verkannt. Seine Entscheidung war daher aufzuheben.
4. Sofern und soweit das FG im zweiten Rechtsgang zu dem Ergebnis kommt, daß der Mitgesellschafter G Schuldner der Umsatzsteuer war, hat der Kläger wegen Reduzierung des Ermessens auf Null einen Anspruch auf Erlaß der Steuer.
War die Fa. G & L OHG Steuerschuldnerin, wird zu beachten sein, daß die Ermessensentscheidung nicht deswegen rechtsfehlerhaft war, weil die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf (vgl. § 121 Abs. 1, § 126 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AO 1977) keine Erwägungen darüber enthielt, aus welchen Gründen Frau G nicht durch Duldungsbescheid (§ 191 Abs. 1 AO 1977, Art. 97 §§ 1, 11 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung, § 3 Abs. 1 Nr. 4 des Anfechtungsgesetzes) in Anspruch genommen worden ist. Die im Haftungsbescheid und in der Beschwerdeentscheidung gegebene Begründung für die Inanspruchnahme des Klägers als Haftungsschuldner trägt die Ablehnung des Erlasses. Dies hat das FG zutreffend ausgeführt.
Fundstellen
Haufe-Index 61668 |
BFH/NV 1988, 217 |