Leitsatz (amtlich)
1. Das Fehlen eines Nachtbriefkastens und eines zur Entgegennahme einer Rechtsmittelschrift befugten und bereiten Gerichtsbediensteten ist ein Grund zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
2. Fordert das FG den Streitstoff betreffende Zivilprozeßakten an und verwertet es diese Akten bei der Urteilsfindung, ohne die Parteien von der Beiziehung dieser Akten zu benachrichtigen und ohne ihnen Gelegenheit zu geben, sich zu deren Inhalt in dem von ihnen für erforderlich gehaltenen Umfang zu äußern, so liegt darin eine Versagung des rechtlichen Gehörs.
2. Selbst die begründete Anfechtung eines Rechtsgeschäfts ist ohne Bedeutung, so lange die Beteiligten das wirtschaftliche Ergebnis des Rechtsgeschäfts bestehen lassen. Zur Beseitigung des wirtschaftlichen Ergebnisses ist die Anerkennung des Anfechtungsgrundes durch den Vertragsgegner oder eine (bürgerlich-rechtlich überflüssige) Aufhebung des Rechtsgeschäfts nicht zu fordern. Eine vergleichsweise Regelung verwehrt es dem Steuerpflichtigen nicht, darzutun, daß das angefochtene Rechtsgeschäft als von Anfang an nichtig anzusehen ist.
2. Zur Frage der Steuerumgehung bei Rückgängigmachung von Grundstückserwerbsvorgängen.
Normenkette
FGO § 56 Abs. 1, § 79 S. 3, § 81 Abs. 1 S. 2, § 92 Abs. 2, § 94 Abs. 2 S. 1, § 96 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, § 119 Nr. 3; ZPO § 272b Abs. 2 Nr. 2, Abs. 4 Sätze 1-2; StAnpG § 5 Abs. 3-5, § 6; GrEStG § 17 Abs. 1; BGB §§ 123, 142 Abs. 1, § 143
Gründe
Aus den Gründen:
Es steht dem Rechtsmittelberechtigten frei, die ihm vom Gesetz eingeräumte Frist bis zum letzten Tag auszunutzen. Er muß auch darauf vertrauen können, daß die Gerichte geeignete Maßnahmen treffen, die diese volle Ausschöpfung der Frist gewährleisten. Für die Zeit nach Dienstschluß muß es also ermöglicht sein, eine Rechtsmittelschrift einem hierzu befugten und bereiten Gerichtsbediensteten zu übergeben oder es muß ein ohne große Schwierigkeiten auffindbarer Nachtbriefkasten vorhanden sein, der als solcher unverwechselbar und mit dem deutlichen - auch nachts lesbaren - Hinweis gekennzeichnet ist, daß in ihn mit fristwahrender Wirkung Gerichtspost eingeworfen werden kann. Das Fehlen solcher Möglichkeiten ist ein Grund für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (BGHZ 2, 31, 34, und VIII ZB 29/59 vom 15. Dezember 1959, Monatsschrift für Deutsches Recht 1960 S. 223 - MDR 1960, 223 - = DB 1960, 147; BVerwG I C 158/60 vom 13. März 1962, Die Öffentliche Verwaltung 1962 S. 317 - DÖV 1962, 317 -; BAG 5 AZR 1/63 vom 21. Oktober 1963, NJW 1964, 369; BFH-Beschluß III B 36/67 vom 21. Juni 1968, BFH 92, 438, BStBl II 1968, 589 am Ende).
Unter den gegebenen Umständen war dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu entsprechen, da die Klägerin ohne Verschulden verhindert war, die Revisionsfrist einzuhalten (§ 56 Abs. 1 FGO).
Die somit zulässige Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG, da nicht auszuschließen ist, daß die Ausführungen des FG zu § 5 Abs. 4 i. V. mit Abs. 3, 5 StAnpG nicht frei von Rechtsirrtum sind und die Verfahrensrüge der Klägerin begründet ist.
1. Das FG läßt "dahingestellt ..., ob die Anfechtung materiell gerechtfertigt war. Denn auch anfechtbare Erwerbsvorgänge unterliegen der Besteuerung und die Anfechtbarkeit ist steuerlich insoweit und solange ohne Bedeutung, als nicht die Anfechtung mit Erfolg durchgeführt ist (§ 5 Abs. 4 StAnpG). Im Streitfall war bis zum Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses keinerlei Rückabwicklung des Kaufvertrags erfolgt. Der Vergleich aber bildet eine selbständige Grundlage für die Vertragsaufhebung,...".
Es ist nicht auszuschließen, daß das FG dabei übersehen haben hönnte, daß die (etwa) begründete (§ 123 BGB) Anfechtungserklärung (§ 143 BGB) das Rechtsgeschäft rückwirkend vernichtet (§ 142 Abs. 1 BGB), sie also anders als die Wandelung (§ 462 BGB) nicht des Einverständnisses (§ 465 BGB) des Gegners bedarf. Darum kann auch § 5 Abs. 4 StAnpG dafür, daß "die Anfechtung mit Erfolg durchgeführt ist", nicht eine bürgerlich-rechtlich überflüssige Aufhebung des obligatorischen Geschäfts verlangen. Er kann vielmehr nur im Sinne des § 5 Abs. 3 StAnpG dahin verstanden werden, daß selbst die begründete Anfechtung ohne Bedeutung ist, solange "die Beteiligten das wirtschaftliche Ergebnis des Rechtsgeschäfts ... bestehen lassen".
Für diesen Rechtszug ist als möglich zu unterstellen, daß die Anfechtung begründet war. Sie macht aber die abstrakte (§ 925 Abs. 2 BGB) Auflassung nicht nichtig. Folglich bestand das "wirtschaftliche Ergebnis des Rechtsgeschäfts" bis zu deren Aufhebung weiter. Die Auflassung könnte aber, sei es ausdrücklich, sei es stillschweigend im Vergleich vom Januar 1964 aufgehoben worden sein.
Dazu erwägt das FG, der Vergleich enthalte kein Anerkenntnis der Anfechtung. Das trifft zu, ist aber unerheblich. Denn die Anfechtung als solche war wirksam (§ 142 Abs. 1 BGB), sofern sie begründet war. Davon macht auch § 5 Abs. 4 StAnpG keine Ausnahme. Setzt man aber den in § 5 Abs. 4 StAnpG gemachten Vorbehalt dem des § 5 Abs. 3 StAnpG gleich (vgl. auch Boruttau/Klein, Grunderwerbsteuergesetz, Kommentar, 9. Aufl. 1970, § 17 Tz. 36, 37 a. E., 34 a), so genügt es, daß das wirtschaftliche Ergebnis des Rechtsgeschäfts beseitigt ist, und es ist nicht zu fordern, daß der Vertragsgegner den Anfechtungsgrund anerkenne.
Der Sinn einer vergleichsweisen Regelung (§ 779 BGB) besteht gerade darin, daß beide Vertragsparteien sich auf eine vernünftige Regelung einigen können, ohne ihr Gesicht zu verlieren. So kann z. B. ein Verkäufer den ehrenrührigen Vorwurf einer arglistigen Täuschung (§ 123 Abs. 1 BGB) nicht auf sich nehmen wollen, aber anerkennen, daß sich der Käufer über eine wesentliche Eigenschaft der Sache getäuscht (§ 119 Abs. 2 BGB) und rechtzeitig angefochten (§ 121 BGB) habe. Den Irrtum kann aber der Käufer wegen § 122 BGB nicht anerkennen. Findet man also keine gemeinsame Basis für § 142 Abs. 1 BGB, ist sich aber im übrigen einig, so wird der Vertrag im Wege des Vergleichs (§ 779 BGB) ex tunc aufgehoben. Das ist aber alles andere als eine Bestätigung (§ 141 BGB) des bereits infolge der Anfechtung nichtig gewordenen (§ 142 Abs. 1 BGB) Kaufvertrages. Vielmehr besagt ein solcher Vergleich nur, daß der Vertrag jedenfalls von jetzt an unwirksam sein solle.
Daraus folgt, daß ein Vergleich dem Steuerpflichtigen im Verhältnis zum FA nicht das Argument abschneidet, der Kauf sei gemäß § 142 Abs. 1 BGB als von Anfang an nichtig anzusehen. Für die Tatsachen, welche die Wirksamkeit der Anfechtung erweisen, trägt allerdings im Hinblick auf § 5 Abs. 4 und 5 StAnpG die (materielle) Beweislast der Steuerpflichtige.
2. Nach dem gemäß § 79 Satz 3 FGO auch im Verfahren vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit anwendbaren § 272b Abs. 4 Satz 1 ZPO sind die Beteiligten von der Anordnung, zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung von Behörden Urkunden - also auch Zivilprozeßakten (Wieczorek, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, § 272b C II a) - beizuziehen (§ 272b Abs. 2 Nr. 2 ZPO; vgl. § 81 Abs. 1 Satz 2 FGO), zu benachrichtigen. Diese Benachrichtigung kann nur unterbleiben, wenn es nach dem Ermessen des Vorsitzenden oder des von ihm beauftragten Richters für die Wahrnehmung der Rechte der Parteien nicht wesentlich ist, daß sie vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung von der Anordnung Kenntnis erhalten (§ 272b Abs. 4 Satz 2 ZPO). Letzteres wird kaum bejaht werden können, wenn es sich um umfangreichere Zivilprozeßakten mit kompliziertem Streitstoff handelt, der mit zur Grundlage der Urteilsfindung gemacht wird. Im Streitfall hat das FG mehrere Akten des Landgerichts, die denselben Streitstoff wie im vorliegenden Fall betreffen, angefordert, ohne dies den Beteiligten mitzuteilen. Die formelhafte Wendung in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung (§ 94 Abs. 2 Satz 1 FGO): "Der Berichterstatter trug den wesentlichen Inhalt der Akten vor" (§ 92 Abs. 2 FGO), läßt allein nicht erkennen, daß - entsprechend dem Antrag der Klägerin - auch die einschlägigen Zivilprozeßakten tatsächlich herangezogen und ebenfalls zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden sind. Letzteres ergibt sich mangels entsprechender Feststellungen auch nicht aus dem Tatbestand des Urteils (vgl. Urteil des BVerwG VII B 90/61 vom 8. März 1963, JR 1964, 193). Deshalb muß in Verbindung mit der Einlassung des Beklagten, "daß der Inhalt der Akten des LG ... nicht zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung ... gemacht wurde ...", für diese Instanz davon ausgegangen werden, daß die Beteiligten weder von der Beiziehung der Zivilprozeßakten Kenntnis, noch daß sie Gelegenheit erhalten hatten, sich zu deren möglicherweise auch im Steuerstreit für bedeutsam gehaltenen Inhalt in dem von ihnen erforderlich gehaltenen Umfang zu äußern.
Eine Mitteilungs- bzw. Erörterungspflicht des FG konnte selbst dann nicht bloß deshalb entfallen, wenn der Inhalt der Zivilprozeßakten der Klägerin vollständig bekannt war. Denn diese Kenntnis bedeutet noch nicht, daß sie sich zu diesen Tatsachen äußern konnte. Hierzu gehört auch, daß die Klägerin Kenntnis von der möglichen Verwertung der Zivilprozeßakten im vorliegenden Verfahren erhielt (BVerfGE 20, 347, 349).
Nach § 96 Abs. 2 FGO darf das Urteil, damit das Recht auf Gewährung des rechtlichen Gehörs nicht verletzt wird, nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Das muß selbst dann gelten, wenn es nach Auffassung des Gerichts auf den Inhalt solcher Akten nicht mehr ankommt. Denn über deren Beweiswert kann das Gericht sich erst dann ein abschließendes Urteil bilden, wenn die Beteiligten sich aus ihrer Sicht zu deren Inhalt äußern konnten (vgl. BVerwGE 13, 187, 190). Im Streitfall hat das FG, wie der Tatbestand des Urteils und auch Schriftsatzzitate in den Entscheidungsgründen erweisen, auch den Inhalt der Zivilprozeßakten verwertet. Nach § 119 Nr. 3 FGO ist ein Urteil stets als auf Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn einem Beteiligten das rechtliche Gehör versagt war. Anders als in den Fällen, in denen lediglich Steuerakten des FA (BFH-Urteil I R 47/66 vom 10. Januar 1968, BFH 91, 338, BStBl II 1968, 349; VI R 314/67 vom 27. Februar 1970, BFH 98, 412, BStBl II 1970, 422) oder einzelne - zum Bestandteil der Steuerakten gewordene - Bescheinigungen anderer Behörden (BFH-Urteil VI R 257/67 vom 17. Mai 1968, BFH 92, 390, BStBl II 1968, 569) verwertet werden, konnte es hier zur Erhellung nicht nur der Motive, sondern des wahren Parteiwillens hinsichtlich der Vertragsaufhebung möglicherweise auf den Gesamtinhalt auch der Zivilprozeßakten ankommen (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO; BFH-Urteil III 70/63 vom 30. September 1966, BFH 87, 60, BStBl III 1967, 25), so daß es - entgegen der Auffassung des Beklagten - unerheblich bleiben muß, daß der Beklagte sich hieraus auf 1 1/2 Blatt einen knappen, notwendig unvollkommenen Aktenvermerk mit einem ebenfalls unvollständigen Schriftsatz-Auszug gefertigt hatte. Ob die Aufhebung der Vorentscheidung und die Zurückverweisung der Sache an das FG trotz Versagung des rechtlichen Gehörs unterbleiben können, wenn es hinsichtlich einzelner tatsächlicher Feststellungen des FG in revisionsrichterlicher Sicht auf diese Feststellungen unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ankommt (BFH-Urteil III 343/63 vom 20. Dezember 1967, BFH 90, 519, BStBl II 1968, 208), ist im vorliegenden Fall unerheblich, da hier nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, daß der maßgebliche wirkliche Parteiwille - u. U. auch über den reinen Wortlaut des Vergleichs vom Januar 1964 hinaus - (- RGZ 109, 334 -; BGHZ 20, 109; BFH-Entscheidung II 39/65 vom 9. Juni 1970, BFH 99, 558, 559, BStBl II 1970, 749) nur aus dem Gesamtinhalt des Zivilprozesses und den Äußerungen der Vergleichsparteien hierzu erforscht werden kann.
Die Entscheidung des FG beruht letztlich darauf, daß die Vertragsaufhebung nicht "echt" gewesen sei und deshalb als nur "formell" wegen Steuerumgehung im Sinne des § 6 StAnpG nicht als Steuererstattungsgrundlage gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG anerkannt werden könne. Das FG folgert dies auch aus Schriftsatz-Äußerungen im Zivilprozeß. Dementgegen behauptet die Klägerin im Ergebnis, an der Vertragsaufhebung seien beide Beteiligten interessiert gewesen, so daß sie nur im Wege gegenseitigen Nachgebens ermöglicht worden sei. Sie - die Klägerin - habe wegen arglistiger Täuschung über Sachmängel die Rückgängigmachung des Kaufs erstrebt. Der Verkäufer konnte um die Realisierung seines (zivilrechtlichen) Anspruchs auf Erstattung der von ihm entrichteten Grunderwerbsteuer besorgt sein. Daß der Verkäufer sich zur Weiterveräußerung des Grundstücks an (irgend einen?) Dritten verpflichtete, konnte seinen Grund darin haben, daß er über den Kaufpreis bereits anderweit verfügt hatte, die Klägerin also u. U. nicht aus ihrer Bankverpflichtung freikommen konnte. Im übrigen konnte die Klägerin, welche nach ihren Angaben im Zivilprozeß das Armenrecht beantragt hatte, noch andere gute Gründe haben, der Verkäuferin einen neuen Käufer zu besorgen, um den Vergleich zu ermöglichen. Das braucht aber nicht zu bedeuten, daß sie auf einen Verkauf gerade an diesen Dritten Wert gelegt hätte, sofern sie nur aus Kauf und Prozeß loskam und der neue Käufer zahlungsfähig war.
In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß der Senat in Vertiefung seiner Rechtsprechung zu § 17 GrEStG in Verbindung mit § 6 StAnpG in neueren Entscheidungen Schwerpunkte insbesondere in der Richtung gesetzt hat, daß eine Steuerumgehungsabsicht nicht schon dann bejaht werden kann, weil ein nicht gerade üblicher Weg entscheidend aus Steuerersparnisgründen gewählt wird, sondern nur dann, wenn der steuerliche Erfolg vom Gesetz mißbilligt und daß die Steuerumgehungsabsicht den Beteiligten eindeutig nachgewiesen wird; ferner, daß § 17 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG vor allem dann unanwendbar werden kann, wenn der Käufer den Verkäufer gar nicht aus seinen Vertragspflichten entlassen, sondern wenn er das von ihm erworbene Grundstück an den von ihm gewünschten Dritten weitergeben will (vgl. Urteile des Senats II 7/64 vom 1. April 1969, BFH 95, 555, BStBl II 1969, 495; II 131/65 vom 1. April 1969, BFH 96, 69, BStBl II 1969, 561; II 141/64 vom 6. Mai 1969, BFH 96, 326, BStBl II 1969, 630; II R 132/66 vom 24. Juni 1969, BFH 97, 92, BStBl II 1970, 22).
Fundstellen
BStBl II 1971, 597 |
BFHE 1971, 207 |