Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Prozeßfürsorgepflicht und zur Auslegung eines Klageantrags durch das FG
Leitsatz (NV)
Bei der Auslegung des Klageantrags muß das FG das wahre Prozeßziel erforschen und darf nicht am buchstäblichen Sinne des Ausdrucks haften.
Normenkette
FGO § 76 Abs. 2, § 96 Abs. 1 S. 2; BGB § 133
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) war unstreitig bis Ende 1969 Landwirtin. Am 1. Juli 1970 war sie u. a. Eigentümerin der Fl. Nrn. . . . der Gemarkung X. Sie veräußerte diese Grundstücke am 4. Mai 1972 zu einem qm-Preis von 24 DM.
Am 31. Dezember 1975 stellte die Klägerin einen Antrag auf Feststellung des höheren Teilwerts zum 1. Juli 1970 für die oben bezeichneten Fl. Nrn. (§ 55 Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes - EStG -). Sie beantragte, den Teilwert auf 24 DM / qm festzusetzen. Im Feststellungsbescheid des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) vom 21. November 1977 wurde der Teilwert zum Stichtag 1. Juli 1970 für die genannten Flächen auf 15 DM / qm festgestellt. Mit ihrem Einspruch begehrte die Klägerin die Aufhebung des Feststellungsbescheids mit der Begründung, der Betrieb sei Ende 1969 aufgegeben worden.
In seiner Einspruchsentscheidung legte das FA das Einspruchsvorbringen als Antrag auf Erteilung eines negativen Feststellungsbescheids aus. Es wies den Einspruch als unbegründet zurück, weil zum 1. Juli 1970 ein lebender land- und forstwirtschaftlicher Betrieb bestanden habe. Außerdem befaßte es sich auch mit der Höhe der festgestellten Teilwerte, wobei es an dem Ansatz von 15 DM / qm festhielt.
Mit der Klage begehrte die Klägerin zunächst die Aufhebung des ergangenen Feststellungsbescheids und den Erlaß eines negativen Feststellungsbescheids. Während des Klageverfahrens erließ der Berichterstatter des Finanzgerichts (FG) am 9. Februar 1983 eine Aufklärungsanordnung, in der u. a. ausgeführt ist:
,,1. Für den Fall, daß der Senat der Rechtsauffassung des Beklagten in der Einspruchsentscheidung folgen würde, ergibt sich die Frage, ob es für die Klägerin nicht ebenso sachdienlich wäre, statt der beantragten negativen Feststellung hilfsweise den ursprünglich verfolgten Antrag auf Feststellung der Teilwerte (24 DM / qm) aufrechtzuerhalten . . ."
Mit den Schriftsätzen vom 3. März 1983 bzw. vom 8. April 1983 nahmen das FA und die Klägerin ausschließlich zur Bewertungsfrage Stellung. Im Schriftsatz vom 6. Mai 1983 entgegnete das FA, daß die Klägerin nunmehr - entgegen ihrem bisherigen Vorbringen - offensichtlich davon ausgehe, daß die fraglichen Grundstücke zum land- und forstwirtschaftlichen Anlagevermögen gehörten. Ein negativer Feststellungsbescheid könne daher richtigerweise nicht erteilt werden. Im übrigen machte es Ausführungen zur Bewertungsfrage. In ihrer Entgegnung vom 9. Juni 1983 bestand die Klägerin auf der Erteilung eines negativen Feststellungsbescheids.
Nach einem abermaligen Schriftsatz des FA bekräftigte die Klägerin im Schriftsatz vom 18. August 1983 (Tz. 1) nochmals ihren Standpunkt, daß zum fraglichen Zeitpunkt praktisch kein landwirtschaftlicher Betrieb existiert habe und daher der Antrag auf negative Teilwertfeststellung uneingeschränkt aufrechterhalten werde. Sodann erklärte sie:
,,2. Daneben - wohlgemerkt ohne von der in Punkt 1 genannten Position abzurücken - sind wir der Meinung, daß im Falle eines für unsere Seite nachteiligen Entscheids des Senats auch der vom Finanzgericht erwogene Weg auf Antrag zur Feststellung des höheren Teilwerts (gemäß der Entschließung des Bundesministers für Wirtschaft vom 29. 02. 1972) auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar wäre. Da diese Alternative aber offensichtlich die Existenz eines landwirtschaftlichen Betriebs impliziert, kann sie von uns nicht weiterverfolgt werden."
In der Aufklärungsanordnung vom 8. Februar 1984 stellte der Berichterstatter u. a. an das FA die Frage, aufgrund welcher Kaufpreissammlung der Teilwert ermittelt worden sei. Das FA antwortete hierauf mit Schriftsatz vom 20. März 1984.
Das klageabweisende Urteil des FG erging ohne mündliche Verhandlung, da die Beteiligten hierauf verzichtet hatten. Das FG teilt die Auffassung des FA, daß der Erlaß eines negativen Feststellungsbescheids nicht in Betracht komme, da zum 1. Juli 1970 noch ein land- und forstwirtschaftlicher Betrieb bestanden habe und die Klägerin nicht dargelegt habe, daß die streitgegenständlichen Grundstücke nicht mehr zu ihrem land- und forstwirtschaftlichen Betrieb gehört hätten. Weil die Klägerin trotz eines entsprechenden Hinweises des Berichterstatters auch nicht hilfsweise an ihrem Antrag auf Feststellung des höheren Teilwerts festgehalten habe, hätte die Klage abgewiesen werden müssen.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts, insbesondere der §§ 76 Abs. 2 und 96 Abs. 1 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und des § 55 Abs. 5 EStG.
Sie beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und unter Aufhebung des Feststellungsbescheides vom 21. November 1977 sowie der Einspruchsentscheidung vom 24. März 1980 den Teilwert der streitgegenständlichen Grundstücke mit 24 DM / qm anzusetzen; hilfsweise, die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
I. Die Revision ist gemäß § 115 Abs. 1 FGO i. V. m. Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) a. F. zulässig (siehe Art. 3 des Gesetzes zur Beschleunigung verwaltungs- und finanzgerichtlicher Verfahren vom 4. Juli 1985, BGBl I, 1274, BStBl I 1985, 496). Der Streitwert beträgt über 10 000 DM.
Nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 25. August 1983 IV R 218/80 (BFHE 139, 268, BStBl II 1984, 33) ist der Streitwert für Feststellungsverfahren nach § 55 Abs. 5 EStG 1971 grundsätzlich mit 10 v. H. des Unterschiedsbetrags zu bemessen, der sich aus der begehrten Teilwertfeststellung und der Feststellung des FA ergibt. Das FA hatte die Gesamtfläche der streitbefangenen Grundstücke aufgrund des Katasters mit 12 120 qm ermittelt und bei einem angenommenen qm-Preis von 15 DM den Gesamtwert auf 180 300 DM festgestellt. Demgegenüber begehrt die Klägerin einen qm-Preis von 24 DM und somit einen Gesamtwert von 288 480 DM. Folglich bemißt sich der Unterschiedsbetrag auf 108 180 DM und der Streitwert auf 10 818 DM.
II. Die Revision ist auch begründet.
Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
1. Das FG hat zu Unrecht die Überprüfung des angefochtenen Feststellungsbescheids der Höhe nach unterlassen.
a) Im Feststellungsverfahren nach § 55 Abs. 5 EStG 1971 ist sowohl darüber zu entscheiden, ob der Grund und Boden zum betrieblichen Anlagevermögen gehört, als auch darüber, wie hoch der Teilwert ist (BFH-Urteil vom 12. Juli 1979 IV R 55/74, BFHE 128, 527, BStBl II 1980, 5).
Ein Teilwertfeststellungsbescheid kann somit dem Grunde und der Höhe nach angefochten werden. Dabei handelt es sich, wie aus dem zitierten Urteil hervorgeht, im Falle der Klageerhebung um eine Anfechtungsklage, die die Rechtmäßigkeit des Teilwertfeststellungsbescheids zum Gegenstand hat, nicht um eine Verpflichtungsklage, die nur dann erhoben werden kann, wenn das FA die Erteilung eines Feststellungsbescheids überhaupt abgelehnt hat (so im Falle des BFH-Urteils vom 8. Dezember 1983 IV R 170/81, BFHE 139, 553, BStBl II 1984, 200). Hält das FA den Einwand gegen die Teilwertfeststellung dem Grunde nach für gerechtfertigt, hat es einen Bescheid des Inhalts zu erlassen, daß ein Teilwert nach § 55 Abs. 5 EStG 1971 nicht festzustellen ist (sog. negativer Feststellungsbescheid) oder die erfolgte Feststellung des Teilwerts wieder aufgehoben wird, weil der betreffende Grund und Boden nicht Teil des Betriebsvermögens ist. Demnach kann auch das FG die Teilwertfestellung aus diesem Grunde aufheben, ohne das FA zum Erlaß eines negativen Feststellungsbescheids verpflichten zu müssen.
Hält das FA den Einwand dem Grunde nach für ungerechtfertigt, hat es auch zur Höhe des Teilwerts Stellung zu nehmen, sofern diese streitig ist. Dies hat das FA im Streitfall auch richtig gesehen, denn es hat in seiner Einspruchsentscheidung auch Ausführungen zur Höhe gemacht, da es die Teilwerte der betreffenden Grundstücke - anders als von der Klägerin begehrt - festgestellt hatte.
b) Entgegen der Meinung des FG hat die Klägerin ihr Anfechtungsbegehren nicht auf die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Feststellungsbescheids dem Grunde nach eingeschränkt. Das FG hat § 96 Abs. 1 Satz 2 und § 76 Abs. 2 FGO verletzt.
aa) Gemäß § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO ist das FG an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Es muß vielmehr entsprechend der Auslegungsregel des § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) das wahre Prozeßziel erforschen und darf nicht am buchstäblichen Sinne des Ausdrucks haften (Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 96 FGO Tz. 21; vgl. auch § 65 FGO Tz. 4 und § 76 FGO Tz. 8).
In Befolgung dieses Grundsatzes hat das FG zunächst mit seiner Aufklärungsanordnung vom 9. Februar 1983 auf eine sachdienliche Antragstellung hingewirkt (§§ 65 Abs. 2, 76 Abs. 2 FGO). Mit ihrem Schriftsatz vom 8. April 1983 machte die Klägerin daraufhin deutlich, daß sie die Teilwertfeststellung auch hinsichtlich der Höhe angreifen wollte. Denn ihr Prozeßziel war, einen Bescheid zu erhalten, der im Ergebnis keine steuerliche Belastung für sie mit sich brachte (Aufhebung der Teilwertfeststellung oder Ansatz der Teilwerte mit dem erzielten Veräußerungspreis von 24 DM / qm). Erst als das FA die Meinung äußerte, die Klägerin setze sich mit diesem Anfechtungsbegehren zu ihrem Hauptbegehren (,,negativer Feststellungsbescheid") in Widerspruch, stellte sie ihr Hauptbegehren stärker in den Vordergrund, ohne ihr Hilfsbegehren ganz fallen zu lassen.
Der Prozeßbevollmächtigte hat überzeugend dargelegt, daß der wirkliche Wille der Klägerin in Punkt 2 ihres Schreibens vom 18. August 1983 entsprechend dem von ihr verfolgten Prozeßziel dahin ging, bei Erfolglosigkeit ihres Hauptantrags auch die Höhe der Teilwerte vom FG überprüfen zu lassen. Der verunglückte letzte Satz des Schreibens, sie könne diese Alternative ihres Rechtsschutzbegehrens nicht weiterverfolgen, beinhaltete nämlich keinen Verzicht hierauf. Er war vielmehr Ausdruck der Furcht, sie könnte durch einen förmlichen Hilfsantrag ihr Hauptbegehren entkräften. Daß auch das FG zunächst die Klägerin nicht so verstand, als wolle sie ihr Rechtsschutzbegehren auf die Entscheidung ihres Hauptantrags beschränken, zeigt sich aus dem Umstand, daß das FG auch danach noch Ermittlungen zur Höhe der Teilwerte anstellte (Aufklärungsanordnung vom 8. Februar 1984).
bb) Da es aufgrund der Formulierungen in dem genannten Schreiben für das FG unklar war, ob die Klägerin die Bewertungsfrage weiterverfolgen wollte, hätte es zumindest gemäß § 76 Abs. 2 FGO auf eine eindeutige Antragstellung hinwirken müssen. Es mußte erkennen, daß der Klägerin das logische Verhältnis zwischen Haupt- und Hilfsantrag nicht geläufig war, ihr jedoch daran gelegen war, das aus ihrer Sicht günstigste Prozeßziel zuvörderst zu verfolgen. Es hätte daher der Klägerin unter Hinweis auf den Urteilsfall in BFHE 128, 527, BStBl II 1980, 5 erläutern müssen, daß es sehr wohl möglich sei, ihr Hilfsbegehren weiterzuverfolgen, ohne dadurch ihr Hauptbegehren auf negative Teilwertfeststellung zu gefährden.
Nach Maßgabe des Revisionshilfsantrags ist das FG-Urteil aufzuheben. Wegen der nicht aufrechtzuerhaltenden Auslegung der wirklichen Klageanträge ist die Klägerin nicht voll verbeschieden worden. Dies ist ein Mangel in der Rechtsfindung (vgl. BFH-Urteil vom 26. April 1966 I 18/64, BFHE 86, 114, 117).
2. Die Sache ist nicht spruchreif, da die Vorentscheidung keine Feststellungen zur Höhe der strittigen Teilwerte getroffen hat. Die Sache geht daher an das FG zurück.
Im zweiten Rechtsgang wird das FG zu prüfen haben, ob das FA zu Recht ,,besondere Umstände" im Sinne des Schreibens des Bundesministers für Wirtschaft und Finanzen vom 29. Februar 1972 (BStBl I 1972, 102 ff., Tz. 11 Abs. 3, Einkommensteuer-Richtlinien 1975, Anhang 4, 460, 464) angenommen hat, die den Ansatz eines niedrigeren Teilwerts als der erzielten Veräußerungserlöse rechtfertigen. Insbesondere ist zu untersuchen, ob die vom FA im Schriftsatz vom 20. März 1984 mitgeteilten qm-Preise für die Grundstücke der Klägerin repräsentativ sind.
Fundstellen
Haufe-Index 415086 |
BFH/NV 1988, 158 |