Entscheidungsstichwort (Thema)
Fünf-Monats-Frist für Begründung des Urteils
Leitsatz (NV)
Ein Urteil ist nicht mit Gründen versehen, wenn es nicht nach der Verkündung alsbald -- d. h. innerhalb von 5 Monaten nach der Verkündung -- vollständig abgefaßt der Geschäftsstelle übergeben worden ist.
Normenkette
FGO § 105 Abs. 4, § 116 Abs. 1 Nr. 5, § 119 Nr. 6
Tatbestand
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) durch ein aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 19. September 1995 ergangenes und am selben Tage verkündetes Urteil abgewiesen.
Das schriftlich abgefaßte Urteil wurde nach einem in den Akten befindlichen Vermerk erst nach Eingang der am 26. September 1996 eingelegten Revision gefertigt und der Geschäftsstelle übergeben. Das Urteil wurde den Beteiligten am 6. Dezember 1996 zugestellt.
Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von §105 Abs. 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und Verfahrensfehler i. S. von §116 Abs. 1 Nr. 5, §119 Nr. 6 FGO. Sie beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) schließt sich der Auffassung der Klägerin an.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
1. Die Klägerin konnte -- ungeachtet der Beschränkungen in Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs in der für den Streitfall geltenden Fassung -- Revision ohne vorherige Zulassung einlegen. Sie hat Tatsachen vorgetragen, die -- ihre Richtigkeit unterstellt -- einen wesentlichen Mangel i. S. des §116 Abs. 1 Nr. 5 FGO ergeben. Ein Verfahrensmangel im Sinne der genannten Vorschrift liegt vor, wenn die angefochtene Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist.
2. Das Urteil des FG ist als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen und deshalb aufzuheben (§118 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. §126 Abs. 3 FGO), weil die Vorentscheidung nicht mit Gründen versehen ist (§119 Nr. 6 FGO). Denn das angefochtene (vollständig abgefaßte) Urteil ist nicht gemäß §105 Abs. 4 Satz 3 FGO alsbald der Geschäftsstelle übergeben worden.
a) Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmS-OGB) hat in seinem Beschluß vom 27. April 1993 GmS- OGB 1/92 (BVerwGE 92, 367, Neue Juristische Wochenschrift 1993, 2603, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1993, 674) entschieden, daß ein Urteil nicht mit Gründen versehen ist (§138 Nr. 6 der Verwaltungsgerichtsordnung -- VwGO --), wenn es nach Verkündung im Falle des §117 Abs. 4 Satz 2 VwGO nicht alsbald der Geschäftsstelle übergeben worden ist. Nach der zuletzt genannten Vorschrift sind nach Verkündung eines Urteils, wenn zunächst nur das von den Richtern unterschriebene Urteil ohne Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung der Geschäftsstelle übergeben worden ist, Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung alsbald nachträglich niederzulegen, von den Richtern besonders zu unterschreiben und der Geschäftsstelle zu übergeben. Der GmS-OGB hat den (unbestimmten) Rechtsbegriff "alsbald" unter Rückgriff auf §552 der Zivilprozeßordnung (ZPO) dahin ausgelegt, daß eine Frist von fünf Monaten seit Verkündung die äußerste Grenze darstellt. Ein nach Ablauf dieser Frist der Geschäftsstelle übergebenes (vollständig abgefaßtes) Urteil ist demnach nicht alsbald nachträglich niedergelegt, unterschrieben sowie übergeben worden und demnach nicht mit Gründen versehen (§138 Nr. 6 VwGO).
Die Vorschriften des §138 Nr. 6 VwGO und des §119 Nr. 6 FGO sowie die des §117 Abs. 4 VwGO und des §105 Abs. 4 FGO entsprechen einander. Den vom GmS- OGB entwickelten Rechtsgrundsätzen schließt sich der erkennende Senat -- wie zuvor andere Senate des Bundesfinanzhofs -- BFH -- (vgl. BFH-Urteil vom 18. April 1996 V R 25/95, BFHE 180, 512, BStBl II 1996, 578, m. w. N.) -- für die Auslegung der entsprechenden Vorschriften der FGO an.
b) Das angefochtene Urteil ist am 19. September 1995 verkündet worden. Die Fünf- Monats-Frist für die Übergabe an die Geschäftsstelle endete mit Ablauf des 19. Februar 1996 (§54 Abs. 2 FGO, §222 Abs. 1 ZPO, §187 Abs. 1, §188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches). Das vollständig abgefaßte Urteil ist erst nach Ablauf dieser Frist gefertigt und der Geschäftsstelle übergeben worden. Das ergibt sich aus dem Vermerk des Vorsitzenden des FG-Senats vom 1. Oktober 1996, in dem unter Hinweis auf die seit Anfang März 1996 andauernde schwere Erkrankung des Berichterstatters ausgeführt wird, daß "nunmehr in Kürze -- nach Wiederherstellung der verloren gegangenen Akten -- das schriftliche Urteil gefertigt und zugestellt werde".
3. Da somit das angefochtene Urteil nicht mit Gründen versehen ist (§119 Nr. 6 FGO), muß es aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden.
Fundstellen
Haufe-Index 66558 |
BFH/NV 1998, 200 |