Leitsatz (amtlich)
Die künstliche Tierbesamung ist als sonstige Leistung im Sinne des § 1 Nr. 1 UStG 1951 in Verbindung mit § 7 Abs. 1 UStDB 1951 nicht nach § 4 Nr. 19 UStG 1951 steuerfrei.
Normenkette
UStG 1951 § 1 Nr. 1, § 4 Nr. 19; UStDB 1951 § 7 Abs. 1
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Steuerpflichtige) betreibt auf dem ihr gehörigen Gut … eine Besamungsstation. Sie hält … Bullen, die sie überwiegend mit selbsterzeugtem Futter ernährt. In den Jahren 1957 bis 1962 hatte die Steuerpflichtige mit verschiedenen Gemeinden Verträge (im folgenden Verträge) abgeschlossen, wonach ihr die Besamung der Rinder der Tierbesitzer übertragen war, die ihren Rinderbestand der künstlichen Besamung angeschlossen hatten. Nach den Verträgen war die Steuerpflichtige verpflichtet, die Besamung aller Rinder im Stall des Besitzers durchzuführen. Blieb die Befruchtung aus, so hatte die Steuerpflichtige zweimal Nachbesamungen vorzunehmen. Die Besamungsgebühr betrug … DM. In der Gebühr waren inbegriffen die Kosten für die Nachbesamungen, für die Kennzeichnung der Rinder sowie für die Führung des Besamungsstallbuchs. Die Gebühr war von den Tierhaltern zu entrichten. Die Besamung eines Rindes wurde durchgeführt, soweit es nicht erkennbar geschlechtskrank war. Jeder Tierbesitzer hatte nach den Verträgen das Recht, bestimmten Samen auszuwählen. Dieser wurde von der Steuerpflichtigen gewonnen, untersucht und verdünnt und in Kühlschränken eingelagert. Die Besamungstechniker der Steuerpflichtigen beförderten den Samen zu dem Stall des anfordernden Landwirts und nahmen dort die Besamung vor. Die Steuerpflichtige übernahm die Gewähr für einwandfreie Beschaffenheit des Samens, für die Übereinstimmung des ausgesuchten mit dem verwendeten Samen sowie für Richtigkeit des Zeitpunktes der Besamung.
Die Steuerpflichtige ließ in den Umsatzsteuererklärungen 1957 bis 1962 die Einnahmen aus der künstlichen Rinderbesamung umsatzsteuerfrei. Das Finanzamt (FA) setzte auf Grund des Ergebnisses einer Betriebsprüfung für diese Einnahmen die Umsatzsteuer mit 4 v. H. lest. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) hat ausgeführt: Die Besamungsleistungen seien weder nach § 4 Nr. 19 noch nach § 4 Nr. 21 UStG 1951 steuerfrei. Inhalt des Leistungsaustausches sei nicht eine Lieferung, sondern eine sonstige Leistung, nämlich die künstliche Tierbesamung gewesen. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut der Verträge sowie aus der Auftragserteilung durch die Tierbesitzer, die mündlich, fernmündlich oder schriftlich – z. B. durch sogenannte Kannenzettel – die Besamung einer Kuh und nicht die Lieferung eines bestimmten Samens erbeten hätten. Die Sameneinführung sei keine Nebenleistung, sondern erfordere erhebliches biologisches Wissen sowie technische Geschicklichkeit. Daher sei sie ausgebildeten Fachkräften vorbehalten, die bei erfolgreichem Besamen Geldprämien erhielten. Es läge eine wirtschaftlich einheitliche Leistung vor, die nicht aus steuerlichen Gründen in ihre Bestandteile zerlegt werden dürfe. Die streitigen Umsätze seien auch nicht nach § 4 Nr. 21 UStG 1951 steuerfrei. Die Steuerpflichtige erfülle weder die Voraussetzungen dieser Vorschrift noch die des vom Bundesfinanzhof (BFH) in dem Urteil V 20/65 vom 17. November 1966 (Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 87 S. 323 – BFH 87, 323 –, BStBl III 1967, 164) für verfassungsmäßig erachteten § 46 a UStDB 1951. Selbst wenn die zuletzt genannte Bestimmung verfassungswidrig wäre, könne die Befreiungsvorschrift nicht angewendet werden, weil die Steuerpflichtige keine Vereinigung sei, deren satzungsmäßiger Zweck die künstliche Tierbesamung sei.
Gegen diese Entscheidung ist die Revision der Steuerpflichtigen gerichtet, mit der sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Die Steuerpflichtige trägt vor, das FG habe bei seiner Entscheidung § 96 Abs. 1 FGO verletzt, indem es gegen den klaren Inhalt der von ihm in Bezug genommenen Akten verstoßen habe. Aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 4. Februar 1970 und aus den tatsächlichen Feststellungen des Urteils ergebe sich, daß die Tierhalter bei der Steuerpflichtigen jeweils einen bestimmten Samen bestellt hätten. Das FG gehe jedoch im Rahmen der rechtlichen Würdigung davon aus, daß der Auftrag des jeweiligen Tierbesitzers nicht auf die Lieferung eines bestimmten Bullensamens, sondern auf die Besamung eines Rindes gerichtet sei. Die Feststellung des FG, die Steuerpflichtige habe die Samengewinnung und Konservierung im Auftrag der Samenbesteller betrieben, sei falsch und widerspreche den in Bezug genommenen Akten. Die Steuerpflichtige habe den gewonnenen Samen nach Kennzeichnung auf Vorrat gelagert. Die Vorschriften des § 3 Abs. 1 und § 4 Nr. 19 UStG 1951 seien falsch angewendet, da sie Lieferungen erbracht habe, bei denen die Einführung des Samens nur eine Nebenleistung sei. Die Steuerpflichtige habe den Tierhaltern die Verfügungsmacht über den Samen verschafft. Die Übertragung durch den Besamungstechniker sei ein „Übergabesurrogat”. Im Vergleich zu Gewinnung und Transport des Samens sei die Sameneinführung hinsichtlich des zeitlichen Aufwands und des Schwierigkeitsgrads nebensächlich. Es bestünde ein öffentliches Interesse an der Samenübertragung durch Besamungstechniker. Dadurch sei gewährleistet, daß sichere Unterlagen über die Abstammung geschaffen würden. Die Übertragung sei ein leicht zu erlernender Handgriff, den der Abnehmer auch selbst vornehmen könne. Da nur diesem an dem Befruchtungserfolg gelegen sei und ein öffentliches Interesse hierbei nicht bestehe, würde es eine Beschränkung der Berufsausübung (Art. 12 des Grundgesetzes – GG –) des Landwirts bedeuten, wenn man ihn nur „der Kenntnis der Übertragungstechnik wegen” davon ausschließen wollte, den Bullensamen selbst einzuführen. Die Geldprämie hätte den Sinn, den Besamungstechniker zu einem sorgfältigen Transport anzuhalten. Selbst wenn man davon ausgehe, daß keine Lieferung im Sinne von § 3 Abs. 1 UStG 1951 vorliege, so sei zumindest eine Werklieferung nach § 3 Abs. 2 UStG 1951 anzunehmen. Die Einführung des von der Steuerpflichtigen selbst beschafften Samens sei eine Bearbeitung der Kuh. Das erbwertgeprüfte Bullensperma sei keine Nebensache im Sinne der letztgenannten Vorschrift. Schließlich sei die Umsatzsteuerfreiheit nach § 4 Nr. 21 UStG 1951 gegeben, da die Steuerpflichtige eine Vereinigung mit einem satzungsmäßigen Zweck (alle Geschäfte, die im Zusammenhang mit der Milch- und Landwirtschaftsindustrie stehen) sei, zu dem auch die künstliche Rinderbesamung zähle. In dem Gesetz finde sich keine Beschränkung auf die in § 4 Nr. 21 UStG 1951 genannten satzungsmäßigen Zwecke. Die Steuerpflichtige ist der Ansicht, § 46 a UStDB 1951 widerspreche dem GG und regt an, das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG auszusetzen und die Sache dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur Entscheidung vorzulegen. Hilfsweise bittet die Steuerpflichtige um Rückverweisung an das FG, da der Grundsatz des rechtlichen Gehörs dadurch verletzt worden sei, daß das FG bei seiner Entscheidung den Begriff des Kannenzettels verwende, ohne daß über diesen mündlich oder schriftlich verhandelt worden sei. Damit sei nach § 119 Nr. 3 FGO davon auszugehen, daß das vorinstanzliche Urteil Bundesrecht verletze. Weiter habe das FG unterlassen, die Verkehrsauflassung über das Verhältnis von Samenlieferung zu Sameneinführung zu ermitteln.
Nachdem das FG die Umsatzsteuerbescheide 1961 und 1962 in einem hier nicht streitigen Punkte geändert und die Steuerpflichtige beantragt hat, die neuen Bescheide zum Gegenstand des Verfahrens zu machen (§§ 123 und 68 FGO), beantragt sie in der Sache, die Umsatzsteuern 1957-1962 auf … DM herabzusetzen, hilfsweise, … die Sache zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
I. Die in der Revisionsbegründungsschrift gestellten Hauptanträge sind nicht begründet.
1. Die Verfahrensrügen haben keinen Erfolg.
a) Die Rüge, das FG habe bei seiner Entscheidung § 96 Abs. 1 FGO verletzt, indem es gegen den klaren Inhalt der von ihm in Bezug genommenen Akten verstoßen habe, ist nicht schlüssig. Die Steuerpflichtige führt selbst aus, ihr Vorbringen in der mündlichen Verhandlung vom 4. Februar 1970, daß die Tierhalter den Samen eines bestimmten Bullen bestellt hätten, wie das FG in seiner Niederschrift festgehalten habe, sei in den tatsächlichen Feststellungen des Urteils unter I Absatz 3 enthalten. Soweit das FG dann zu dem Ergebnis gekommen ist, der Auftrag sei seinem Inhalt nach nicht auf eine Lieferung, sondern auf die „Besamung” gerichtet gewesen, handelt es sich nicht um Tatbestandsfeststellung, sondern um rechtliche Würdigung des festgestellten Sachverhalts, deren mögliche Unrichtigkeit nicht als Verstoß gegen § 96 Abs. 1 FGO, sondern gegen materielles Recht gerügt werden kann.
b) Soweit die Steuerpflichtige insoweit einen Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten rügt, als das FG in die Besamung auch die Gewinnung, Untersuchung und Konservierung des Samens einbezogen hat, kann es dahingestellt bleiben, ob ein Verstoß gegen § 96 Abs. 1 FGO vorliegt, weil es – wie sich aus den Ausführungen unter 2 a ergibt – auf diese Umstände für die Entscheidung des vorliegenden Falles nicht ankommt.
2. a) Mit Recht ist die Vorinstanz zu dem Ergebnis gekommen, daß die künstliche Rinderbesamung als sonstige Leistung im Sinne des § 1 Nr. 1 UStG 1951 in Verbindung mit § 7 Abs. 1 UStDB 1951 anzusehen ist und daher nicht unter die Steuerbefreiung des § 4 Nr. 19 UStG 1951 fällt. Es ist der Steuerpflichtigen einzuräumen, daß die Leistung auch gewisse Merkmale einer Lieferung enthält. Die Merkmale der sonstigen Leistung stehen aber gegenüber den Lieferungselementen so stark im Vordergrund, daß sie den Charakter der Leistung bestimmen. Inhalt der von der Steuerpflichtigen zu erbringenden Leistung war nicht die Übereignung von Samen, sondern die Besamung von Rindern mit dem Ziel der Befruchtung. Auf diesen Erfolg war der Wille der Auftraggeber gerichtet. Das ergibt eindeutig der Wortlaut der Verträge, die die Steuerpflichtige verpflichteten, die Besamung aller Rinder im Stall des Besitzers „bis höchstens zwei Nachbesamungen je Rind durchzuführen” …). Gerade die Tatsache, daß die Steuerpflichtige zu kostenlosen Nachbesamungen bei Ausbleiben der Befruchtung nach der Erstbesamung verpflichtet war, zeigt, daß es den Abnehmern nicht auf eine einmalige Lieferung von Samen, sondern auf das Ergebnis der Befruchtung ankam. Andernfalls wäre der Leistungsaustausch in jedem Falle mit der erstmaligen Besamung beendet gewesen. Das ist aber, wie sich aus den vertraglichen Vereinbarungen ergibt, eindeutig nicht der Fall. Im übrigen weist die Steuerpflichtige – wenn auch in anderem Zusammenhang – selbst auf das Interesse der Auftraggeber an einer erfolgreichen, d. h. zu einer Befruchtung führenden Besamung hin. Auch die Bezeichnung des Entgelts als „Besamungsgebühr” spricht für den auf eine sonstige Leistung und nicht auf eine Lieferung gerichteten Willen der Vertragspartner. Schließlich kann nicht außer Betracht bleiben, daß die Besamung vorgebildeten Besamungstechnikern vorbehalten ist, bei deren Tätigkeit es auf den Einsatz ihrer Kenntnisse und ihrer persönlichen Arbeitskraft ankommt, und deren Tätigkeit durch zwei Besamungsverordnungen im einzelnen hinsichtlich der ausbildungsmäßigen Voraussetzung und der Aufgaben der Ausübenden geregelt ist. Soweit die Steuerpflichtige in der mündlichen Verhandlung in diesem Zusammenhang vorgetragen hat, daß es sich bei ihrer Verpflichtung zur Nachbesamung um eine Art Mängelhaftung handele, kann ihr nicht gefolgt werden. Die Verpflichtung zur Nachbesamung ergibt sich unmittelbar aus den Verträgen und ist allein bedingt durch das Ausbleiben der Befruchtung, unabhängig davon, ob das Ausbleiben des Erfolges auf mangelnder Qualität des Samens, Nichteignung der zu besamenden Rinder oder etwa fehlerhafter Besamungstechnik beruht.
Im Hinblick auf diese Besonderheiten der Sach- und Rechtslage kann der vorliegende Fall auch nicht mit der Tätigkeit des Friedhofsgärtners, der vom Kunden ausgewählte Pflanzen setzt, verglichen werden (vgl. Urteile V 204/57 U vom 10. September 1959, BFH 69, 483, BStBl III 1959, 440, und V 149/59 vom 22. Dezember 1969, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1961 S. 90 – HFR 1961, 90 –, Steuerrechtsprechung in Karteiform – StRK –, Umsatzsteuergesetz, § 7 Abs. 2, Rechtsspruch 13).
Im Hinblick auf die Besonderheiten des Sachverhalts mit seinen eindeutig im Vordergrund stehenden Leistungselementen kann auch den Ausführungen der Steuerpflichtigen zur Frage der Werklieferung nicht gefolgt werden.
b) Dem FG ist auch zuzustimmen, wenn es zu dem Ergebnis gekommen ist, daß die in Rede stehenden Umsätze nicht unter die Befreiungsvorschrift des § 4 Nr. 21 UStG 1951 fallen. Denn selbst bei weiter Auslegung der Satzungszwecke der Steuerpflichtigen kann die künstliche Tierbesamung nicht zu diesen gerechnet werden. Da sich die Nichtanwendung des § 4 Nr. 21 UStG 1951 unmittelbar aus dieser Vorschrift ergibt, braucht auf die gegen die Rechtsgültigkeit des § 46 a UStDB 1951 erhobenen Einwendungen nicht eingegangen zu werden.
II. Der hilfsweise gestellte Antrag auf Zurückverweisung ist nicht begründet.
1. Soweit die Steuerpflichtige in der mündlichen Verhandlung erneut die Verletzung rechtlichen Gehörs rügt, weil über die Bedeutung der sogenannten Kannenzettel nicht verhandelt worden sei, hat sie keinen Erfolg. Die Versagung des rechtlichen Gehörs bei einer vom Instanzgericht getroffenen einzelnen tatsächlichen Feststellung führt dann nicht zu einer Aufhebung der angefochtenen Entscheidung gemäß § 119 Nr. 3 FGO, wenn es in revisionsrichterlicher Betrachtung auf diese Feststellung materiell-rechtlich unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ankommen konnte (BFH-Urteil III 343/63 vom 20. Dezember 1967, BFH 90, 519, BStBl II 1968, 208). Dies ist hier der Fall. Der Charakter der von der Steuerpflichtigen zu erbringenden Leistung als „sonstige Leistung” im Sinn des Umsatzsteuerrechts ergibt sich – wie oben ausgeführt – aus dem Inhalt der Besamungsverträge. Dieser aber ist unabhängig davon, ob die Bestellung (der Auftrag) in Form sogenannter Kannenzettel oder in anderer Form abgegeben wird.
2. Auch die Rüge mangelnder Sachaufklärung ist nicht begründet. Eine Ermittlung der Verkehrsauffassung war nicht notwendig, nachdem die Steuerpflichtige drei Gutachten zu der Frage der im Jahre 1962 bestehenden Verkehrsauffassung vorgelegt hatte. Diese Gutachten behandeln das Verhältnis von Samenabgabe und Sameneinführung. Ferner ist Herr … von der … Landesanstalt für Tierzucht lt. Niederschrift über die Sitzung des FG am 4. Februar 1970 gehört worden.
Fundstellen
Haufe-Index 514907 |
BFHE 1972, 258 |