Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Die "Richtlinien des Bundesministers der Finanzen für die Anwendung des § 131 AO auf dem Gebiet der Zölle und Verbrauchsteuern" können den Steuergerichten nicht immer und ohne jede Einschränkung als geeignetes Material für die Rechtsfindung bei der überprüfung von Entscheidungen der Verwaltung nach § 131 AO dienen.
Mit Rücksicht auf die gerichtliche Nachprüfbarkeit der Ermessensausübung bei der Anwendung des § 131 AO müssen die einen Billigkeitserlaß ablehnenden Entscheidungen der Verwaltung klar erkennen lassen, daß und in welcher Weise die entscheidende Stelle das besondere Vorbringen des Antragstellers gewürdigt hat.
Normenkette
AO § 131
Tatbestand
Streitig ist, ob der von der Bfin. gestellte Antrag, ihr die Eingangsabgaben für eine von ihr im Jahre 1959 aus dem Zollausland eingeführte und anschließend in die sowjetisch besetzte Zone (SBZ) gelieferte Partie Salzheringe aus Billigkeitsgründen zu erlassen, von der Zollverwaltung zu Recht, d. h. ohne Ermessensverstoß abgelehnt worden ist.
Die Bfin. begründete den Antrag damit, es sei ihr infolge der wirtschaftlichen Planungsmaßnahmen der Verwaltungsbehörden, denen sie sich nicht habe entziehen können, unmöglich gemacht worden, das Kaufgeschäft über die eingeführten Heringe zu wandeln und die Ware wieder in das Zollausland auszuführen, wodurch der Billigkeitstatbestand Nr. 2 A I 8 b des Zweiten Teils der Richtlinien des Bundesministers der Finanzen für die Anwendung des § 131 AO auf dem Gebiet der Zölle und Verbrauchsteuern vom 7. Dezember 1953 (Bundeszollblatt 1953 S. 810) - im folgenden "Richtlinien" genannt - ohne weiteres in vollem Umfang erfüllt gewesen wäre. Bei der zu treffenden Billigkeitsentscheidung müsse daher die Lieferung der Heringe in die SBZ wie eine Rückausfuhr in das Zollausland behandelt werden. Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles sei eine Billigkeitsmaßnahme auch im Hinblick auf die wirtschaftliche Notlage der deutschen Loggerfischerei geboten.
Entgegen ihrem beim Bundesminister der Finanzen gestellten Antrag, sie zu einem Erlaß der Eingangsabgaben aus den dargelegten Gründen zu ermächtigen, wies die Oberfinanzdirektion auf Weisung des Ministers die Beschwerde gegen die vorangegangene ablehnende Verfügung des Hauptzollamts vom 29. Januar 1959 mit ihrer Beschwerdeentscheidung vom 13. Oktober 1959 als unbegründet zurück.
Die Berufung hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht schloß sich im Rahmen der Nachprüfung des Verwaltungsermessens im wesentlichen der Begründung der Verwaltung an.
Entscheidungsgründe
Die Rb., mit der mangelnde Sachaufklärung und falsche Rechtsanwendung gerügt wird, führt aus den nachstehenden Gründen zur Aufhebung der Vorentscheidungen.
Zutreffend ist die Vorinstanz davon ausgegangen, daß es sich bei der noch mit der Berufung im erweiterten Rechtsmittelverfahren nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) angegriffenen Verwaltungsentscheidung um eine Ermessensentscheidung handelt, die nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs bei richtiger Auslegung des § 131 AO von den Steuergerichten nur daraufhin nachgeprüft werden kann, ob die Verwaltung bei ihrer Entscheidung die ihr für die Ermessensausübung durch das Gesetz gesetzten Grenzen eingehalten und ihr Ermessen nicht mißbräuchlich angewendet hat (Hinweis auf das Grundsatzurteil VII 51/61 S vom 8. Mai 1962, BStBl 1962 III S. 290, und die dort aufgeführte Rechtsprechung). Bei der Prüfung der Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion vom 13. Oktober 1959 unter diesen rechtlichen Gesichtspunkten glaubte die Vorinstanz eine Ermessensfehlerhaftigkeit der Verwaltungsentscheidung nicht feststellen zu können. Dem vermag der Senat nicht zu folgen.
Es ist zwar richtig, daß - wie die Vorinstanz in ausführlicher Begründung dargelegt hat - keiner der sogenannten sachlichen Billigkeitstatbestände der "Richtlinien" (a. a. O.) in der für den Streitfall in Betracht kommenden Fassung durch den vorliegenden Sachverhalt erfüllt wird. Die Vorinstanz hat weiterhin unter Berufung auf die Urteile des Bundesfinanzhofs V z 181/57 U vom 27. März 1958 (BStBl 1958 III S. 248, Slg. Bd. 66 S. 647) und VII 185/57 U vom 28. Oktober 1958 (BStBl 1959 III S. 11, Slg. Bd. 68 S. 27) mit Recht ausgeführt, daß darüber hinaus auch geprüft werden müsse, ob sonstige sachliche Gründe eine Billigkeitsmaßnahme etwa erfordern würden, die entweder von der Verwaltung geprüft und von ihr in mißbräuchlicher Ausübung ihres Ermessens verneint oder von ihr nicht erkannt worden sind, obwohl sie bei pflichtgemäßer Nachprüfung hätten erkannt werden müssen. Sie hat diese Prüfung jedoch allein unter dem Gesichtspunkt einer "Anerkennung anderer sachlicher Ausnahmetatbestände" vorgenommen und hat zu diesem Zweck den vorliegenden Sachverhalt an Hand der Gedanken geprüft, die den anderen etwa vergleichbaren Billigkeitstatbeständen der "Richtlinien" zugrunde liegen. Sie ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, daß sämtliche vergleichbaren Tatbestände von Voraussetzungen ausgehen, die im Streitfall nicht gegeben seien (so etwa die Wiederausfuhr der eingeführten Ware) und daß daher die ablehnende Entscheidung der Verwaltung nicht zu beanstanden sei.
Die Vorinstanz hat jedoch übersehen, daß die "Richtlinien" den Steuergerichten nicht immer und ohne jede Einschränkung als geeignetes Material für die Rechtsfindung bei der überprüfung von Entscheidungen der Verwaltung nach § 131 AO dienen können. Wie schon die Entstehung der "Richtlinien" zeigt, sind sie in ihrem hier in Betracht kommenden Teil eine Sammlung häufig vorgekommener und vorkommender und daher für eine Delegation der Erlaßbefugnis geeigneter Tatbestände, bei denen durch den primär zum Erlaß befugten Bundesminister der Finanzen das Vorliegen einer unbilligen Härte allgemein anerkannt werden konnte. Diese Tatbestände stellen also für die Anwendung des § 131 AO Regelfälle dar, aus deren Anerkennung als Billigkeitsgründe für ähnlich gelagerte Regeltatbestände unter Umständen vergleichende Rückschlüsse gezogen werden können. Aus ihnen läßt sich aber nicht ohne weiteres etwas für die Entscheidung eines ganz besonders gelagerten Einzelfalles herleiten, der sich eben gerade wegen seiner Besonderheit nicht für die Anerkennung als allgemeiner Billigkeitstatbestand eignet. Dies muß um so mehr gelten, wenn im Rahmen eines solchen Einzelfalles als Billigkeitsgründe Umstände geltend gemacht werden, die erst im Zuge der fortschreitenden rechtsstaatlichen Entwicklung auch unter dem Gesichtspunkt etwaiger Billigkeitsmaßnahmen Bedeutung gewonnen haben können.
Das aber behauptet die Bfin. gerade und hat es im Laufe des Verfahrens mit Beweisanerbieten zu erhärten begehrt. Sie behauptet nicht, der Billigkeitstatbestand Nr. 2 A I 8 b des Zweiten Teils der "Richtlinien" sei gegeben, sondern seine Erfüllung sei ihr durch das von ihr abverlangte Sonderopfer unmöglich gemacht worden, wobei sie für ihre Auffassung hinsichtlich der etwaigen Bedeutung eines Aufopferungsanspruchs auf die Grundgedanken des Urteils des Bundesgerichtshofs III ZR 146/58 vom 23. November 1959, abgedruckt in Juristenzeitung 1960 S. 261, hinweist. Soweit sie also als Folge des von ihr gebrachten Opfers nicht in den Genuß des Abgabenerlasses nach dem genannten Tatbestand der "Richtlinien" habe gelangen können, müsse man eben gerade diesen besonderen Sachverhalt des Streitfalles als Grund für einen Erlaß der Abgaben aus Billigkeitsgründen berücksichtigen. Dies bedeute nicht eine Entscheidung über einen Aufopferungsanspruch durch die Finanzverwaltung und die Steuergerichte, sondern die unter dem Gesichtspunkt des § 131 AO erforderliche Würdigung des gegebenen besonderen Sachverhalts, der außerdem allerdings unter Umständen auch einen Aufopferungsanspruch begründen könne, als eines sachlichen Billigkeitsgrundes für den Erlaß der als Folge des Sonderopfers nicht vermeidbaren Abgabenbelastung.
Die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion hat dieses Vorbringen der Bfin. nicht - jedenfalls nicht erkenn- und nachprüfbar - gewürdigt. Sie hat lediglich festgestellt, daß die Voraussetzungen des oben genannten Billigkeitstatbestandes der "Richtlinien" nicht gegeben seien und auch besondere Umstände, die - (vergleichbar den Tatbeständen 8 a, b, c oder e - a. a. O. -) - etwa einen Erlaß rechtfertigen könnten, nicht vorlägen, um dann fortzufahren: "Sonstige Gründe persönlicher oder sachlicher Art, die eine Billigkeitsmaßnahme nach § 131 AO zugunsten der Bfin. rechtfertigen könnten, sind nicht zu erkennen." Wenn die Oberfinanzdirektion, die in diesem Sinne allerdings auf Weisung des Bundesministers der Finanzen entschieden hat, mit der letztgenannten Formulierung glaubte, hinreichend begründen zu können, daß sie das oben wiedergegebene Vorbringen der Bfin. geprüft habe und als Billigkeitsgrund nicht habe anerkennen können, so unterliegt ihre Entscheidung schon deshalb der Aufhebung.
Sowohl mit Rücksicht auf die nach Art. 19 Abs. 4 GG - jetzt für den Finanzrechtsweg § 237 AO in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 1961 vom 13. Juli 1961 (BGBl 1961 I S. 981) - erforderliche Nachprüfbarkeit von Ermessensentscheidungen der Verwaltung nach § 131 AO durch die Steuergerichte als auch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Hoheitsverwaltung und Staatsbürger in einem demokratischen Rechtsstaat muß verlangt werden, daß aus den Gründen einer ablehnenden Entscheidung dieser Art erkenn- und nachprüfbar ist, ob und wie sich die entscheidende Behörde mit den vorgebrachten, den Erlaßantrag stützenden Gründen auseinandergesetzt hat, wie sie also zu ihrer ablehnenden Ermessensentscheidung gelangt ist. Denn nur so ist die Ermessensausübung überprüfbar und kann festgestellt werden, ob die Verwaltungsentscheidung auch nach allgemeiner Auffassung vertretbar und damit nicht ermessensfehlerhaft ist. Das muß vor allem immer dann gelten, wenn, wie im Streitfall, vom Antragsteller bestimmte besondere Erlaßgründe geltend gemacht werden. Etwas anderes ist auch nicht aus dem insoweit einen anders gelagerten Fall betreffenden Urteil des Bundesfinanzhofs vom 28. Oktober 1958 (a. a. O.) unter III 2 herzuleiten.
Da die Vorinstanz dies nicht erkannt und beanstandet hat, war ihre Entscheidung aufzuheben, so daß es auf die Verfahrensrüge mangelnder Sachaufklärung im einzelnen nicht mehr ankommt.
Tatsächlich hat weder die Verwaltung noch die Vorinstanz irgendwelche Feststellungen darüber getroffen, ob die Behauptungen der Bfin. über das ihr angeblich abverlangte Sonderopfer zutreffen. Lediglich das Hauptzollamt hat in seinem Bericht an die Oberfinanzdirektion vom 19. März 1959 darauf hingewiesen, daß nach seiner Meinung eine Entscheidung über den vorliegenden Billigkeitsantrag nur nach Klärung dieser Frage durch die dafür zuständigen Stellen möglich sei. Daß es dazu nicht mehr kam, ist eine Folge des vom Bundesminister der Finanzen in seinem Erlaß an die Oberfinanzdirektion vom 9. Juni 1959 vertretenen Standpunktes, die in den "Richtlinien" aufgeführten Erlaßtatbestände stellen bereits das äußerste Entgegenkommen der Verwaltung dar, über das hinaus Billigkeitsmaßnahmen die vom Recht gesetzten Ermessensgrenzen überschreiten würden. Dies kann allenfalls für die Anerkennung allgemeiner Billigkeitstatbestände gelten, von denen auch allein im viertletzten Absatz der Gründe des Urteils des Bundesfinanzhofs vom 27. März 1958 (a. a. O.) die Rede ist. Bezogen auf den hier im Streit befindlichen besonderen Einzelfall bedeutet der vom Bundesminister der Finanzen vertretene Standpunkt jedoch eine Verkennung der rechtlichen Bedeutung des Satzes 1 im Absatz 1 des § 131 AO, der in erster Linie gerade die besonders gelagerten Einzelfälle im Auge hat. Diese Bedeutung kann nicht durch eine derart verallgemeinernde Betrachtungsweise eingeengt werden.
Nach alledem waren, um eine nunmehr den rechtlichen Erfordernissen genügende Ermessensentscheidung der Verwaltung zu ermöglichen, sämtliche Vorentscheidungen aufzuheben und die Sache an den Bundesminister der Finanzen als die für die Sachentscheidung allein zuständige Stelle zurückzuverweisen. Er wird nunmehr nach Durchführung der erforderlichen Ermittlungen unter Beachtung der vorstehenden Ausführungen über den Erlaßantrag zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 410512 |
BStBl III 1962, 491 |
BFHE 1963, 615 |
BFHE 75, 615 |