Leitsatz (amtlich)
Werden dem FA im Einspruchsverfahren Tatsachen erstmals bekannt, die eine höhere Wertfeststellung rechtfertigen, steht der Änderung des Verwaltungsakts nach § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977 nicht entgegen, daß der Einspruch nach entsprechendem Hinweis auf die Verböserungsmöglichkeit zurückgenommen wurde.
Orientierungssatz
NV: Die Unterscheidung bei der Bewertung von bebauten Grundstücken zwischen Ertragswertverfahren und Sachwertverfahren beruht auf sachgerechten Erwägungen und nicht auf einer den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verletzenden Willkür des Gesetzgebers (vgl. BVerfG-Urteil vom 10.2.1987 1 BvL 18/81). Hier: Bewertung eines Einfamilienhauses mit rd. 350 qm Wohnfläche im Sachwertverfahren.
Normenkette
AO 1977 §§ 172, 173 Abs. 1 Nr. 1, §§ 177, 367; GG Art. 3 Abs. 1; BewG 1974 § 76 Abs. 3 Nr. 1
Tatbestand
Die Klägerin errichtete im Jahre 1979 auf einem ihr gehörenden Grundstück ein Einfamilienhaus. Die Herstellungskosten beliefen sich nach einer Mitteilung der Gemeinde auf 451 000 DM. Das Finanzamt (FA) bewertete das Grundstück im Sachwertverfahren und stellte mit Bescheid vom 6.März 1980 den Einheitswert zum 1.Januar 1980 auf 180 100 DM fest. Dabei ging es für das Einfamilienhaus von einem umbauten Raum von 1 302 cbm und von durchschnittlichen Herstellungskosten von 168 DM/cbm aus. Die Ausstattungsmerkmale und den umbauten Raum entnahm es der Baubeschreibung.
Nachdem die Klägerin gegen diesen Feststellungsbescheid Einspruch eingelegt hatte, besichtigte der Bausachverständige des FA am 13.Mai 1980 das Grundstück. Er stellte fest, daß das Dachgeschoß am Stichtag bereits voll ausgebaut war und dessen Wohnfläche nicht --wie von der Klägerin in ihrer Erklärung angegeben-- 49 qm, sondern 117,94 qm betrug. Dadurch erhöhte sich die Gesamtwohnfläche des Einfamilienhauses auf 376,84 qm und der umbaute Raum auf 1 499 cbm. Weiter stellte der Bausachverständige fest, daß die bauliche Ausstattung des Hauses besser war als in der Baubeschreibung angegeben. Das Gebäude hat u.a. im Erd- und Dachgeschoß Fußbodenheizung, die Fußböden in den Wohnräumen und überwiegend in den Nebenräumen sind mit Keramikplatten ausgelegt, Türen und Treppen bestehen aus massiver Eiche mit sehr guten Beschlägen. Neben einem Wannenbad enthält das Gebäude drei Duschbäder mit drei WC-Anlagen. Die Außenfassade des Gebäudes und die Garage sind mit holländischem Klinker erster Wahl verblendet und gefugt. Fenster- und Türelemente zur Terrasse haben Isolierverglasung mit Sprosseneinteilung im Landhausstil.
Mit Schreiben vom 21.Juli 1980 teilte das FA der Klägerin die Feststellungen des Bausachverständigen mit und wies darauf hin, daß es den Einheitswert auf 231 700 DM erhöhen müsse. Am Schluß des Schreibens heißt es: "Ich beabsichtige, bei Fortsetzung des Rechtsbehelfsverfahrens den Einheitswert entsprechend den Feststellungen des Bausachverständigen festzusetzen." Die Klägerin nahm nach Erhalt dieses Schreibens den Einspruch gegen den Feststellungsbescheid vom 6.März 1980 zurück.
Am 20.November 1980 erließ das FA einen auf § 173 Abs.1 Nr.1 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützten Änderungsbescheid und stellte nunmehr den Einheitswert zum 1.Januar 1980 auf 231 700 DM fest.
Die Klage, mit der die Aufhebung des Änderungsbescheids begehrt wird, hat das Finanzgericht (FG) abgewiesen.
Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist unbegründet.
1. Zutreffend ist das FG davon ausgegangen, daß nach Erlaß des Feststellungsbescheids vom 6.März 1980 dem FA Tatsachen neu bekanntgeworden sind, die zu einer Erhöhung des mit diesem Bescheid festgestellten Einheitswerts führen. Die Klägerin trägt demgegenüber vor, den nachträglich bekanntgewordenen Tatsachen mangele es an der Entscheidungserheblichkeit, weil dem FA die Baukosten bekannt gewesen seien und deren Höhe den Schluß auf die Gestaltung bzw. Ausstattung des Gebäudes ermöglicht habe. Damit verkennt sie, daß es sich bei den Baukosten nur um Anhaltspunkte dafür handelt, daß das Grundstück nach § 76 Abs.3 Nr.1 des Bewertungsgesetzes (BewG) --wie auch geschehen-- im Sachwertverfahren zu bewerten sein wird. Die einzelnen wertbildenden Faktoren waren dem FA aber nur insoweit bekannt, als sie sich aus der Erklärung der Klägerin in Verbindung mit der Baubeschreibung des Architekten ergaben. Die vom Bausachverständigen getroffenen Feststellungen, die u.a. die Feststellung eines größeren umbauten Raumes beinhalten, waren dem FA jedoch unbekannt.
2. Das FA war nicht rechtlich gehindert, aufgrund der ihm nach Ergehen des Feststellungsbescheids vom 6.März 1980 bekanntgewordenen Tatsachen einen Änderungsbescheid nach § 181 Abs.1 Satz 1 i.V.m. § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977 zu erlassen.
a) Zutreffend hat das FG dahin erkannt, daß die Rücknahme des Einspruchs nach Hinweis auf die Möglichkeit der Erhöhung des festgestellten Einheitswerts (Verböserung) dem Erlaß des Änderungsbescheids für sich allein nicht entgegenstand.
Nach § 367 Abs.2 Satz 1 AO 1977 hat die über einen Einspruch entscheidende Finanzbehörde die Sache in vollem Umfang erneut zu prüfen. Sie kann im Rahmen dieser Prüfung den Verwaltungsakt auch zum Nachteil des Einspruchsführers ändern, wenn er auf diese Möglichkeit unter Angabe von Gründen hingewiesen und ihm Gelegenheit gegeben worden ist, sich zu äußern (§ 367 Abs.2 Satz 2 AO 1977). Aus der Pflicht zur erneuten Überprüfung und der Verböserungsmöglichkeit folgt, daß auch die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Rechtsauffassung überprüft und geändert werden kann. Die Finanzbehörde erlangt derart durch den Einspruch die volle Herrschaft über den Verwaltungsakt zurück.
Anders ist die Rechtslage bei der Durchbrechung der Bestandskraft eines unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts gemäß §§ 172 ff. AO 1977 innerhalb der Feststellungsfrist. Diese Vorschriften geben der Finanzbehörde nur die Möglichkeit, den Verwaltungsakt in einem oder in einzelnen Punkten zu ändern; dabei dürfen Rechtsfehler nicht zu einer Änderung führen, sie können aber bei einer Änderung aus anderen Gründen berichtigt werden, soweit diese Änderung reicht (§ 177 AO 1977).
Aus den unterschiedlichen Voraussetzungen und dem unterschiedlichen Umfang der Änderungsmöglichkeiten während eines Einspruchsverfahrens und nach formeller Unanfechtbarkeit eines Verwaltungsakts ergibt sich, daß auch nach Eintritt der Bestandskraft durch Rücknahme des Einspruchs die Änderungsmöglichkeiten gemäß §§ 172 ff. AO 1977 bestehen bleiben (so Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 3.Aufl., § 367 Anm.3; Buchstab in Koch, Abgabenordnung - AO 1977, 3.Aufl., § 367 Rz.12; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15.Aufl., Bem.4 b zu § 367 AO 1977). Deshalb kann und muß die Finanzbehörde trotz Rücknahme des Einspruchs nach entsprechendem Hinweis auf die mögliche Verböserung bei Durchführung des Einspruchsverfahrens den Verwaltungsakt nach Rücknahme ändern, wenn die Gründe, die zur Verböserung geführt hätten, die Änderung des bestandskräftigen Verwaltungsakts rechtfertigen. Auf der gleichen Linie liegt die Befugnis der Finanzbehörde, nach Erlaß der Einspruchsentscheidung diese und den ihr zugrunde liegenden Verwaltungsakt nach Maßgabe der §§ 172 ff. AO 1977 zu ändern. Daß hierbei hinsichtlich der Frage, ob eine Tatsache oder ein Beweismittel i.S. des § 173 AO 1977 "nachträglich bekanntgeworden" ist, auf den Zeitpunkt der materiellen Entscheidung über den Einspruch abzuheben ist, folgt allein aus den tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Änderungsvorschrift in Verbindung mit § 367 Abs.2 Satz 1 AO 1977.
b) Zutreffend ist das FG auch davon ausgegangen, der Inhalt des Schreibens des FA, mit dem es die Klägerin von den Feststellungen des Bausachverständigen unterrichtet und sie darauf hinweist, daß es bei Fortsetzung des Rechtsbehelfsverfahrens den Einheitswert höher feststellen müsse, besage nicht, daß die Verwertung der nachträglich bekanntgewordenen Tatsachen bei Rücknahme des Einspruchs unterbleiben werde. Denn das FA konnte die nachträglich bekanntgewordenen Tatsachen nur dann im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren berücksichtigen, wenn es zu einer materiellen Entscheidung über den Einspruch kam.
++/ 3. Auch die Ausführungen des FG zur gebotenen Bewertung im Sachwertverfahren lassen keinen Rechtsfehler erkennen.
a) Grundsätzlich ist der Wert eines Einfamilienhausgrundstücks nach § 76 Abs.1 BewG im Wege des Ertragswertverfahrens zu ermitteln. Abweichend davon ist jedoch nach § 76 Abs.3 Nr.1 BewG das Sachwertverfahren bei denjenigen Einfamilienhäusern anzuwenden, die sich durch besondere Gestaltung oder Ausstattung wesentlich von den nach § 76 Abs.1 BewG zu bewertenden Einfamilienhäusern unterscheiden. Dabei reicht es aus, daß entweder eine besondere Gestaltung oder eine besondere Ausstattung vorliegt, um für die Wertfindung das Sachwertverfahren an die Stelle des Ertragswertverfahrens treten zu lassen. Denn die grundsätzliche Maßgeblichkeit des Ertragswertverfahrens für die Bewertung von Einfamilienhäusern ist von der Überlegung getragen, daß es sich bei diesen Häusern meist um kleine, einfach ausgestattete Wohngebäude oder serienmäßig hergestellte Häuser handelt (vgl. schon Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 23.Juli 1971 III R 86/69, BFHE 103, 213, BStBl II 1971, 797).
Das Wohngrundstück der Klägerin unterscheidet sich nicht nur in einzelnen Ausstattungsmerkmalen, sondern insbesondere schon im Hinblick auf seine Wohnfläche von der Masse der im Ertragswertverfahren zu bewertenden Grundstücke (vgl. das Urteil des erkennenden Senats vom 12.Februar 1986 II R 192/78, BFHE 146, 96, BStBl II 1986, 320). Das würde selbst dann gelten, wenn man an heutige Wohngepflogenheiten anzuknüpfen hätte (vgl. aber § 27 BewG).
b) Wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 10.Februar 1987 1 BvL 18/81, 1 BvL 20/82 (abgedruckt in Betriebs-Berater 1987, 396 und in Der Betrieb 1987/462) ausgeführt hat, beruht die Unterscheidung zwischen Ertrags- und Sachwertverfahren auf sachgerechten Erwägungen und nicht auf einer den Gleichheitssatz des Art.3 Abs.1 des Grundgesetzes verletzenden Willkür des Gesetzgebers. Das Nebeneinander der beiden Bewertungsverfahren kann keinen Verfassungsverstoß begründen. /++
Fundstellen
Haufe-Index 61808 |
BStBl II 1987, 417 |
BFHE 149, 136 |
BFHE 1987, 136 |
BB 1987, 1025 |
BB 1987, 1025-1026 (ST) |
DB 1987, 1721-1722 (ST) |
DStR 1987, 382-382 (ST) |
HFR 1987, 335-336 (ST) |