Entscheidungsstichwort (Thema)
Zum groben Verschulden i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977
Leitsatz (NV)
1. Grobes Verschulden i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 umfaßt Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit.
2. Ein Steuerpflichtiger handelt im allgemeinen grob fahrlässig, wenn er durch eine - bei gewissenhaftem Durchlesen vermeidbare - grobe Unachtsamkeit eine im Steuererklärungsvordruck ausdrücklich gestellte Frage nicht beachtet oder in der Annahme, daß das FA von Amts wegen zusätzliche Werbungskosten berücksichtigt habe, einen Steuerbescheid ohne Überprüfung bestandskräftig werden läßt.
3. Das Revisionsgericht kann - abweichend von der Vorinstanz - selbst zur Annahme eines groben Verschuldens kommen, wenn hierfür ausreichende tatsächliche Feststellungen des FG vorliegen.
Normenkette
AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) bezog im Streitjahr 1978 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Am 16. Januar 1978 stellte er beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) einen Antrag auf Lohnsteuerermäßigung, in dem er die Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte mit 4 536 DM und die Aufwendungen für Arbeitsmittel und Fachliteratur mit pauschal 150 DM geltend machte. Das FA trug dem Antrag entsprechend auf der Lohnsteuerkarte 1978 des Klägers einen Freibetrag von 4 122 DM ein.
In seiner das Streitjahr 1978 betreffenden Einkommensteuererklärung machte der Kläger als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit lediglich einen - betragsmäßig nicht bezifferten - pauschalen Abzug für Fachliteratur, Zeichenmaterial und Arbeitskleidung geltend. Er fügte ferner die Lohnsteuerkarte 1978 bei, welche die Lohnsteuerbescheinigung seines Arbeitgebers enthielt.
Das FA setzte bei Durchführung der Veranlagung als Werbungskosten den Pauschbetrag gemäß § 9a des Einkommensteuergesetzes (EStG) an. Der Einkommensteuerbescheid 1978 vom 24. Oktober 1979 wurde bestandskräfig.
Am 20. Juli 1980 beantragte der Kläger, den Einkommensteuerbescheid 1978 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu ändern und Werbungskosten in Höhe von 5 064 DM zu berücksichtigen (Fahrtkosten 4 914 DM, Arbeitsmittel pauschal 150 DM). Zur Begründung trug er vor, diese Werbungskosten habe er in der Einkommensteuererklärung in der irrigen Annahme nicht aufgeführt, daß sie, weil bereits im Lohnsteuerermäßigungsverfahren geltend gemacht, vom FA von Amts wegen übernommen würden. Seine diesbezügliche Unkenntnis könne ihm nicht als grobes Verschulden angelastet werden.
Das FA wies den Antrag ab. Aus der Anlage N zum Erklärungsvordruck ergebe sich eindeutig, daß der Steuerpflichtige in jedem Falle Angaben zu den Fahrtkosten machen müsse. Dem Kläger sei dies auch bewußt gewesen. Er habe nämlich schon 1976 und 1977 - im wesentlichen wegen Fahrtkosten - einen Freibetrag auf der Lohnsteuerkarte eingetragen bekommen und dennoch die Fahrtkosten in den Einkommensteuererklärungen 1976 und 1977 jeweils angegeben.
Das Finanzgericht (FG) gab der nach erfolgloser Durchführung des Einspruchsverfahrens erhobenen Klage statt. Die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 seien erfüllt. Die Aufwendungen des Klägers für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte seien dem FA erst nach der Bestandskraft des Einkommensteuerbescheids 1978 bekanntgeworden. Den Kläger treffe hieran auch kein grobes Verschulden. Nach seinen damaligen Kenntnissen habe es für ihn nicht nahegelegen, die im Lohnsteuerermäßigungsverfahren erklärten Fahrtkosten in die Einkommensteuererklärung zu übernehmen. Eine gesetzliche Verpflichtung bestehe hierfür nicht. Zwar könne ein Steuerpflichtiger mit dem Bildungsstand des Klägers auch bei durchschnittlichen steuerlichen Kenntnissen erkennen, daß er im Lohnsteuerermäßigungsverfahren die voraussichtlichen, im Veranlagungsverfahren dagegen die tatsächlich entstandenen Werbungskosten angeben müsse. Andererseits seien die Zusammenhänge zwischen beiden Verfahren den Steuerpflichtigen im allgemeinen nicht geläufig und deshalb die Auffassung verbreitet, die Mitwirkungspflichten seien erfüllt, wenn man für ein Veranlagungsjahr dem FA gegenüber Angaben gemacht habe, die unverändert geblieben seien.
Das Verhalten in den Vorjahren und der Umstand, daß der Kläger in der Einkommensteuererklärung des Streitjahres - nicht bezifferte - Aufwendungen für Arbeitsmittel eingetragen habe, sei lediglich ein Indiz für die Annahme, er habe gewußt, daß die Angaben im Lohnsteuerermäßigungsverfahren in der Einkommensteuererklärung wiederholt werden müßten. Zur Bejahung des groben Verschuldens reiche es jedoch nicht aus.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977. Das FG habe bei seiner Würdigung des Streitfalles den Begriff der groben Fahrlässigkeit verkannt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage.
1. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit nachträglich Tatsachen oder Beweismittel bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden. Im Streitfall ist die Tatsache, daß dem Kläger Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte entstanden sind, der für die Durchführung der Veranlagung zuständigen Stelle des FA nachträglich bekanntgeworden.
2. Das FG hat aber zu Unrecht angenommen, daß den Kläger hieran kein grobes Verschulden trifft.
a) Als grobes Verschulden i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn er die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und nicht entschuldbarer Weise verletzt (ständige Rechtsprechung, z. B. Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 29. Juni 1984 VI R 181/80, BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693, und vom 21. Juli 1989 III R 303/84, BFHE 157, 488, BStBl II 1989, 960). Ein grobes Verschulden kann vorliegen, wenn ein Steuerpflichtiger seiner Erklärungspflicht nur unzureichend nachkommt, indem er z. B. unvollständige Steuererklärungen abgibt. Gemäß § 150 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 muß er die Angaben in der Erklärung nach bestem Wissen und Gewissen machen. Um die Steuererklärung vollständig und wahrheitsgemäß abgeben zu können, muß er das Erklärungsformular gewissenhaft durchlesen. Deshalb handelt ein Steuerpflichtiger regelmäßig grob schuldhaft, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen ganz bestimmten Vorgang bezogene Frage nicht beachtet (z. B. Urteile in BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693, und BFHE 157, 488, BStBl II 1989, 960). Grobes Verschulden eines Steuerpflichtigen ist ferner in der Regel auch dann zu bejahen, wenn dieser einen Steuerbescheid bestandskräfig werden läßt, obwohl sich ihm innerhalb der Einspruchsfrist hätte aufdrängen müssen, daß dem FA bisher nicht bekannte Tatsachen noch geltend zu machen seien (BFH-Urteil vom 25. November 1983 VI R 8/82, BFHE 140, 18, BStBl II 1984, 256). Zwar ist dem Steuerpflichtigen ein auf mangelnder Kenntnis steuerrechtlicher Vorschriften beruhender Rechtsirrtum im allgemeinen nicht anzulasten (BFH-Urteil vom 10. August 1988 IX R 219/84, BFHE 154, 481, BStBl II 1989, 131). Dies gilt aber nur, wenn er seine oben aufgezeigten Pflichten erfüllt hat und auch sich aufdrängenden Zweifelsfragen nachgegangen ist (BFH-Urteil vom 13. Juni 1989 VIII R 174/85, BFHE 157, 196, BStBl II 1989, 789 unter II c bb aaa).
Ob ein Beteiligter in diesem Sinne grob fahrlässig gehandelt hat, ist im wesentlichen eine Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG dürfen - abgesehen von zulässigen und begründeten Verfahrensrügen - in der Revisionsinstanz nur daraufhin überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob die Würdigung der Umstände hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (z. B. Urteil in BFHE 157, 488, BStBl II 1989, 960). Dies hindert allerdings das Revisionsgericht nicht, selbst zur Annahme eines groben Verschuldens zu kommen, wenn hierfür ausreichende tatsächliche Feststellungen vorliegen (BFH-Urteil vom 21. April 1988 IV R 215/85, BFHE 153, 485, BStBl II 1988, 863).
b) Hiernach kann das Urteil des FG keinen Bestand haben. Die von ihm vorgenommene Würdigung des Sachverhalts verkennt die aus dem Begriff der groben Fahrlässigkeit abzuleitenden, dem Kläger im Streitfall obliegenden Sorgfaltspflichten.
Aus den mit Revisionsrügen nicht angegriffenen und damit für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) ergibt sich, daß der Kläger in den Jahren 1976 und 1977 jeweils im Lohnsteuerermäßigungs- und auch im Veranlagungsverfahren Werbungskosten (Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte sowie für Arbeitsmittel) geltend gemacht hat. Aufgrund der hierdurch gewonnenen Erfahrungen mußte der Kläger wissen, daß die im Lohnsteuerermäßigungsverfahren gemachten Angaben nicht vom FA von Amts wegen auch im Veranlagungsverfahren berücksichtigt werden. Auf die vom FG in Betracht gezogene Möglichkeit, daß bei der Anfertigung der Steuererklärungen möglicherweise ein Dritter mitgewirkt hat, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. In Übereinstimmung hiermit hat es der Kläger im Streitjahr 1978 immerhin selbst für notwendig gehalten, die bereits im Lohnsteuerermäßigungsverfahren aufgeführten Aufwendungen für Arbeitsmittel in der Einkommensteuererklärung nochmals - wenn auch betragsmäßig nicht beziffert - geltend zu machen. Bei dieser Sachlage hält der Senat es nicht für möglich, daß der Kläger - wie er geltend macht - bei der Anfertigung der das Streitjahr 1978 betreffenden Steuererklärung einem Rechtsirrtum erlegen ist. Der Senat geht vielmehr davon aus, daß der Kläger durch eine - bei gewissenhaftem Durchlesen vermeidbare - grobe Unachtsamkeit die im Steuererklärungsvordruck ausdrücklich gestellte Frage nach den Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte nicht beachtet hat.
Im übrigen ergibt sich für den Senat das grobe Verschulden des Klägers auch noch aus folgender Überlegung: War dieser tatsächlich der Auffassung, das FA übernehme von Amts wegen die im Lohnsteuerermäßigungsverfahren gemachten Angaben, so hätte sich ihm zumindest vor Eintritt der Bestandskraft eine Überprüfung des Einkommensteuerbescheids 1978 aufdrängen müssen. Nach seinem eigenen Vorbringen wußte der Kläger, daß er in seiner Einkommensteuererklärung nicht alle ihm entstandenen Werbungskosten geltend gemacht hatte. In einem sochen Falle ist das Unterlassen der Prüfung des Bescheids grob fahrlässig. Dies gilt vorliegend um so mehr, als das FA nur den Werbungskostenpauschbetrag zum Abzug angesetzt hatte, dem Kläger somit ohne vorheriges Nachrechnen auffallen mußte, daß die Fahrtkosten nicht berücksichtigt worden waren.
c) Es kann dahingestellt bleiben, ob das FA - wie der Kläger geltend macht - bei Durchführung der Einkommensteuerveranlagung des Streitjahres 1978 gegen ihm obliegende Hinweispflichten verstoßen hat. Denn selbst wenn dies zu bejahen sein sollte, wird dadurch der den Kläger treffende Schuldvorwurf nicht ausgeräumt (Urteil in BFHE 157, 196, BStBl II 1989, 789 unter II c bb aaa).
Fundstellen
Haufe-Index 417128 |
BFH/NV 1991, 281 |
BFH/NV 1991, 496 |