Leitsatz (amtlich)
1. Ein vorläufiger Steuerbescheid nach § 100 Abs. 1 AO ist nur hinsichtlich einzelner Punkte beschränkt vorläufig, wenn dies in dem Vorläufigkeitsvermerk selbst eindeutig zum Ausdruck kommt. Wird ein Bescheid nur allgemein als vorläufig bezeichnet, so ist er in vollem Umfang vorläufig.
2. Die beschränkte Vorläufigkeit kommt in einem Steuerbescheid nicht eindeutig zum Ausdruck, wenn das FA am Kopf des Steuerbescheids vermerkt: "Vorläufig gemäß § 100 (1) AO" und in den "Erläuterungen" am Ende des Steuerbescheids nur bemerkt, der Steuerbescheid sei hinsichtlich bestimmter Einkünfte vorläufig.
Normenkette
AO § 100 Abs. 1, § 225
Tatbestand
Der Stpfl. ist Rechtsanwalt und Notar; seine Ehefrau ist an einer Erbengemeinschaft beteiligt, die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung sowie aus Kapitalvermögen erzielt.
Die Eheleute wurden für das Jahr 1959 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Auf dem bei den Steuerakten befindlichen Berechnungsbogen und auf dem dem Stpfl. zugegangenen Steuerbescheid vom 10. Juli 1961 war oben im Kopf vermerkt: "Vorläufig gemäß § 100 (1) AO"; unter "Erläuterungen" führte das FA aus: "Die Veranlagung ist hinsichtlich der Einkünfte aus Kapitalvermögen und Vermietung und Verpachtung vorläufig". Dieser Steuerbescheid wurde am 19. September 1961 unanfechtbar.
Auf Grund einer Mitteilung eines auswärtigen FA über die Einkünfte der Ehefrau aus der Erbengemeinschaft berichtigte das FA den Steuerbescheid bezüglich der Einkünfte aus Kapitalvermögen sowie aus Vermietung und Verpachtung und setzte die Einkommensteuerschuld um 70 DM niedriger fest. Der dem Stpfl. zugegangene Steuerbescheid vom 7. November 1961 enthielt oben die Bemerkung: "Vorläufig gem. § 100 (1) AO". In den "Erläuterungen" führte das FA aus:
"Der Veranlagung liegt die Mitteilung über die einheitliche und gesonderte Feststellung des Finanzamts G zugrunde. Wir bitten um Mitteilung, ob nunmehr sämtliche Einkünfte aus Vermietung und Kapitalvermögen, die Ihrer Ehefrau aus dem Nachlaß zugeflossen sind, feststehen (vgl. Anlage 3 und 4 der Vermögenserklärung)."
Auf dem Berechnungsbogen für den zweiten Steuerbescheid vermerkte der Sachgebietsleiter in der linken Spalte unter "Vermerke und Berechnungen": "Bl. 179 und 184 Einkünfte aus Vermietung und Kapitalvermögen noch vorläufig; vgl. VA Bl. 13, 15, 16". Dieser Vermerk war in dem dem Stpfl. zugegangenen zweiten Steuerbescheid nicht enthalten. Der Steuerbescheid wurde ebenfalls unanfechtbar.
Durch den Steuerbescheid vom 28. Januar 1964 erklärte das FA dann den Steuerbescheid vom 7. November 1961 für endgültig. Der Stpfl. legte hiergegen Einspruch ein und beantragte die Herabsetzung seiner Einkommensteuerschuld auf 0 DM, weil betriebliche Verluste seines verstorbenen Schwiegervaters nach § 10d EStG anzurechnen seien. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.
Das FG gab der Klage statt. Es hielt die Voraussetzungen des § 10d EStG für erfüllt. Nach der neuen Rechtsprechung des BFH könne der Erbe die gewerblichen Verluste des Erblassers aus den letzten fünf Jahren geltend machen. Die Anrechnung der Verluste sei hier nicht dadurch ausgeschlossen, daß das FA die Einkommensteuer im ersten Steuerbescheid vom 10. Juli 1961 überwiegend endgültig festgesetzt habe; denn das FA habe diesen Bescheid durch den zweiten Steuerbescheid vom 7. November 1961 hinsichtlich des Steuerbetrages und des Umfanges der Vorläufigkeit geändert. Die Steuerfestsetzung im zweiten Steuerbescheid sei nach dem eindeutigen Wortlaut in vollem Umfang vorläufig gewesen. Der Stpfl. könne daher die Änderung des Steuerbescheids ohne Rücksicht auf den § 234 AO a. F. (jetzt § 232 AO n. F. und § 42 FGO) in vollem Umfang verlangen.
Das FA rügt mit der Revision Verletzung von Bundesrecht. Es meint, aus dem Vermerk in der linken Spalte des Berechnungsbogens zum Steuerbescheid vom 7. November 1961 könne man entnehmen, daß sich die Vorläufigkeit des Bescheids weiterhin auf die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung und Kapitalvermögen beschränkt. Der dem Stpfl. zugegangene Steuerbescheid hätte in diesem Punkt ergänzt werden können.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision des FA ist nicht begründet.
Nach der Grundsatzentscheidung des Senats VI 129/63 U vom 13. November 1964 (BFH 81, 563, BStBl III 1965, 203) kann sich die Vorläufigkeit einer Steuerfestsetzung nach § 100 Abs. 1 AO auf einzelne Punkte beschränken oder die ganze Steuerfestsetzung betreffen. Ein vorläufiger Bescheid soll nur dann hinsichtlich einzelner Punkte beschränkt vorläufig sein, wenn das FA dies in dem Vorläufigkeitsvermerk selbst eindeutig zum Ausdruck gebracht hat. Wird ein Bescheid nur allgemein als vorläufig bezeichnet, so ist er in vollem Umfang vorläufig. Leitend war dabei der Gedanke der Rechtssicherheit. Der Stpfl. soll auf einen äußerlich erkennbaren eindeutigen Rechtszustand vertrauen können. Wie der Senat in der Entscheidung VI 129/63 U (a. a. O.) hervorgehoben hat, gilt diese Auslegung sowohl zugunsten wie zuungunsten des Stpfl. Enthält also ein Steuerbescheid hinsichtlich der Vorläufigkeit keinen einschränkenden Zusatz, so kann der Stpfl. alle ihm günstigen Tatsachen unbeschränkt geltend machen, bis die Veranlagung endgültig vorgenommen und unanfechtbar wird. Andererseits hat aber auch das FA freie Hand. Es kann bei der endgültigen Veranlagung neue Umstände berücksichtigen oder bei der steuerrechtlichen Beurteilung seine Rechtsansicht ändern.
Diese Grundsätze hat das FG im Streitfall angewandt. Der Stpfl. hatte die ersten beiden Steuerbescheide rechtskräftig werden lassen. Im Rechtsmittelverfahren gegen den dritten Steuerbescheid vom 28. Januar 1964, durch den der zweite Steuerbescheid vom 7. November 1961 für endgültig erklärt wurde, konnte er die betrieblichen Verluste seines verstorbenen Schwiegervaters nach § 10d EStG von seinen Einkünften nur noch abziehen, wenn der zweite Einkommensteuerbescheid in vollem Umfang vorläufig war. War die Steuerfestsetzung dagegen nur noch hinsichtlich der Einkünfte der Ehefrau aus Vermietung und Verpachtung sowie aus Kapitalvermögen nicht endgültig, so stand die Unanfechtbarkeit des Steuerbescheids der nachträglichen Geltendmachung des Verlustabzugs entgegen.
Nach den zutreffenden Ausführungen des FG war der zweite Steuerbescheid vom 7. November 1961 seinem Wortlaut nach in vollem Umfang vorläufig; denn der Vermerk: "Vorläufig gem. § 100 (1) AO" enthielt keinen einschränkenden Zusatz. In den "Erläuterungen" in Abschnitt V des Bescheids fragte das FA lediglich an, ob nunmehr sämtliche Einkünfte aus Vermietung und Kapitalvermögen aus dem Nachlaß feststünden. Hierin kann man allenfalls eine Begründung, nicht aber eine Einschränkung des Vorläufigkeitsvermerks im Kopf des Steuerbescheids sehen. Wie man aus dem Vermerk des Sachgebietsleiters auf dem Berechnungsbogen vielleicht entnehmen kann, mag das FA zwar die Absicht gehabt haben, die Steuerfestsetzung nur hinsichtlich der Einkünfte aus Vermietung und Kapitalvermögen vorläufig zu machen. Dieser Wille ist jedoch in dem dem Stpfl. zugegangenen Bescheid nicht zum Ausdruck gekommen und kann deshalb aus Gründen des Rechtsschutzes und Vertrauensschutzes für den Stpfl. nicht beachtet werden.
Der zweite Steuerbescheid war ein auf der Mitteilung des anderen FA beruhender Änderungsbescheid nach § 225 AO. Darauf war der Stpfl. in den "Erläuterungen" des Bescheids ausdrücklich hingewiesen worden. Zweifelhaft kann es sein, ob bei der Auslegung eines solchen Änderungsbescheids der ursprüngliche Steuerbescheid mit einzubeziehen ist. Das FG hat die Steuerfestsetzung im ersten Steuerbescheid vom 10. Juli 1961 - mit Ausnahme der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung sowie aus Kapitalvermögen - als endgültig festgesetzt angesehen. Es meint, es werde der Rechtssicherheit besser gedient, wenn man nur auf den Wortlaut des zweiten Steuerbescheids abstelle, da die Frage, ob eine Änderung im Umfang der Vorläufigkeit durch den zweiten Steuerbescheid verfahrensrechtlich möglich sei, nur auf Grund von rechtlichen Erwägungen über die Bestandskraft von Steuerbescheiden zu beantworten sei.
Es kann dahingestellt bleiben, ob dieser Ansicht allgemein zuzustimmen ist. Im Urteil des BFH IV 168/61 S vom 23. Januar 1964 (BFH 79, 559, BStBl III 1964, 436) hat der IV. Senat jedenfalls in dem umgekehrten Fall, in dem zunächst ein vorläufiger Steuerbescheid und sodann ein nach § 225 AO geänderter Steuerbescheid ohne Vorläufigkeitsvermerk erging, den ersten Steuerbescheid in seine Betrachtung mit einbezogen und entschieden, daß der zweite Steuerbescheid ebenfalls vorläufig sei, weil er die vorläufige Veranlagung nicht ausdrücklich für endgültig erklärt habe. Der Senat braucht zu diesen Fragen nicht abschließend Stellung zu nehmen; denn der Stpfl. konnte jedenfalls den ursprünglichen Steuerbescheid schon deshalb außer Betracht lassen, weil er nicht eindeutig als "beschränkt vorläufig" bezeichnet war. Der Steuerbescheid war im Kopf ohne Einschränkung als "Vorläufig gem. § 100 (1) AO" bezeichnet; am Schluß unter Abschnitt V "Erläuterungen" war ausgeführt: "Die Veranlagung ist hinsichtlich der Einkünfte aus Kapitalvermögen und Vermietung und Verpachtung vorläufig." Diese beiden Vermerke zusammengefaßt kann man zwar dahin verstehen, daß die Steuerfestsetzung nur hinsichtlich der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung und Kapitalvermögen vorläufig und im übrigen aber endgültig sein sollte. Man kann die Vermerke aber auch so auffassen, daß die Festsetzung gemäß dem Vermerk im Kopf des Bescheids in vollem Umfang vorläufig sein sollte und die "Erläuterungen" nur die Begründung für die Erklärung der Vorläufigkeit geben sollten. Läßt ein Steuerbescheid aber objektiv verschiedene Auslegungsmöglichkeiten zu, so kann es einem Steuerpflichtigen nicht verwehrt werden, wenn er den Steuerbescheid bei der Würdigung eines späteren Änderungsbescheids außer Betracht läßt oder wenn er ihn so auslegt, wie es für ihn am günstigsten ist. Das FA hätte hier seinen Willen eindeutig zum Ausdruck bringen müssen, wenn es den Stpfl. endgültig festlegen wollte. Es hätte die Widersprüche im ersten Steuerbescheid vermeiden können, wenn es am Kopf des Steuerbescheids den Vorläufigkeitsvermerk eindeutig eingeschränkt hätte, etwa durch die Worte: "Beschränkt vorläufig gem. § 100 (1) AO"; dann hatten sich die "Erläuterungen" eindeutig auf das Wort "beschränkt" bezogen. Das FA hätte auch endgültige Klarheit dadurch schaffen können, daß es den Vermerk in den "Erläuterungen mit dem Zusatz versah: "Im übrigen ist die Steuerfestsetzung endgültig". Dieser Zusatz hätte dann klargestellt, daß der Vermerk nicht nur eine Begründung für die unbeschränkte Vorläufigkeit des Steuerbescheids sein sollte.
Fundstellen
Haufe-Index 412731 |
BStBl II 1968, 127 |
BFHE 1968, 385 |