Leitsatz (amtlich)
Tatsachen, die der Kläger erst im Verfahren über die Verfassungsbeschwerde gegen einen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ablehnenden Gerichtsbeschluß glaubhaft gemacht hat, die aber zur Aufhebung dieses Beschlusses durch das BVerfG geführt haben, sind der erneuten Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag zugrunde zu legen.
Normenkette
FGO § 56; BVerfGG § 31 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) hatte gegen das in der Einkommensteuersache 1971 ergangene Urteil des Finanzgerichts (FG) rechtzeitig Revision eingelegt. Diese wurde mit Vorbescheid vom 29. November 1978 zurückgewiesen. Der Vorbescheid wurde dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers am 29. Januar 1979 zugestellt. Mit Schriftsatz vom 27. Februar 1979 stellte dieser Antrag auf mündliche Verhandlung. Der Schriftsatz ging - um einen Tag verspätet - am 1. März 1979 beim Bundesfinanzhof (BFH) ein.
Der Senat wies mit Beschluß vom 6. Juni 1979 den Antrag auf mündliche Verhandlung zurück, da er verspätet sei. Dem - inzwischen gestellten - Wiedereinsetzungsantrag könne nicht stattgegeben werden. Aus dem Stempelaufdruck auf dem Briefkuvert, welches das Antragsschreiben vom 27. Februar 1979 enthalten habe, ergebe sich, daß die Post am 27. Februar 1979 um 21.00 Uhr gestempelt worden sei. Die Post sei also erst am Abend des Tages vor dem Fristablauf (28. Februar 1979) in Bonn aufgegeben worden. Bei normalem Postlauf habe der Prozeßbevollmächtigte des Klägers nicht darauf vertrauen dürfen, daß unter diesen Umständen der Brief bis zum Ablauf des folgenden Tages in München beim BFH eingehen werden. Angesichts der Entfernung zwischen Bonn und München habe mit fristgerechter Zustellung nicht mehr gerechnet werden können. Der Prozeßbevollmächtigte habe nicht vorgetragen, daß er sich bei dem Postamt wegen des Postlaufs im Hinblick auf den späten Aufgabezeitpunkt besonders vergewissert habe. Im Zweifel hätte er den Antrag auf mündliche Verhandlung durch Telegramm stellen müssen.
Auf Verfassungsbeschwerde des Klägers hob das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Beschluß vom 5. Februar 1980 2 BvR 914/79 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1980 S. 203 - HFR 1980, 203 -, BStBl II 1980, …) den Beschluß des Senats vom 6. Juni 1979 auf und verwies die Sache gemäß § 95 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) an den BFH zurück. Das BVerfG führte aus, daß nach inzwischen vorgelegten Auskünften der Bundespost der den Antrag auf mündliche Verhandlung enthaltende Brief des Klägers am 28. Februar 1979 - also rechtzeitig - beim BFH hätte eingehen müssen. Bei dieser Sachlage hätte der BFH nicht annehmen dürfen, daß der Kläger seine Sorgfaltspflichten verletzt habe, weil er keine Erkundigungen über den Postlauf eingezogen und keine besonderen Vorkehrungen für ein rechtzeitiges Eintreffen des Antrags auf mündliche Verhandlung getroffen habe. Der angegriffene Beschluß vom 6. Juni 1979 verletze die verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien der Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), welche es nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG verböten, dem Bürger im Rahmen der verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Bundespost, die er nicht zu vertreten habe, als Verschulden anzurechnen (vgl. zuletzt BVerfGE 46, 404).
Entscheidungsgründe
Gegen die Versäumung der Frist für den Antrag auf mündliche Verhandlung wird die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
I. Mit der Entscheidung des BVerfG, welche für den Senat gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG bindend ist, befindet sich das Verfahren grundsätzlich wieder in dem Stande vor Ergehen des Beschlusses vom 6. Juni 1979. Der Senat hat deshalb erneut über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versagung der Frist für den Antrag auf mündliche Verhandlung zu entscheiden.
II. Die Sachlage ist indes insofern mittlerweile verändert, als der Kläger nunmehr die Gründe für seinen Antrag auf Wiedereinsetzung glaubhaft gemacht hat.
1. Das BVerfG bezieht sich auf zwei Auskünfte der Postbehörden, welche von den Verfahrensbeteiligten nach Ergehen des Beschlusses vom 6. Juni 1979 eingeholt worden sind.
a) Nach einer Auskunft des Postamtes Bonn erreicht unter normalen Betriebs- und Verkehrsverhältnissen eine ordnungsgemäße Briefsendung, die werktags um 20.00 Uhr in den Briefkasten in Bonn, Münsterplatz, eingeworfen wird und den Tagesstempel mit der Uhrzeit 21.00 Uhr erhält, über das Nacht-Luftpostnetz die Zustellung am nächsten Werktag in München.
b) Die Oberpostdirektion Köln teilte mit, der Brief des Klägers hätte auch bei Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse - es war der Karnevalsdienstag - unter normalen Umständen am 28. Februar 1979 in München zugestellt werden müssen.
2. Da infolge der Aufhebung des Beschlusses vom 6. Juni 1979 das Verfahren über den Wiedereinsetzungsantrag als weiterhin anhängig anzusehen ist, sind Tatsachen, die bis zum Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung glaubhaft gemacht sind, bei dieser Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen (§ 56 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Dazu gehören auch solche Tatsachen, welche der Kläger - mit Erfolg - erst während des verfassungsgerichtlichen Verfahrens glaubhaft gemacht hat und auf welche er sich in dem gegenwärtigen Verfahren bezieht.
3. Grundsätzlich ist das Gericht bei der Prüfung der Glaubhaftmachung im Sinn des § 56 Abs. 1 FGO an Erklärungen von Postbehörden nicht gebunden. Es hat diese Erklärungen frei zu würdigen. Im Streitfall jedoch ist der Senat in seiner Würdigung nicht frei, weil die Aufhebung seines Beschlusses vom 6. Juni 1979 durch das BVerfG auf einer bestimmten verfassungsgerichtlichen Würdigung dieser Auskünfte beruht. Der Senat könnte deshalb beispielsweise nicht mehr berücksichtigen, daß die Auskunft des Postamtes Bonn möglicherweise nur die Beförderung von Luftpostbriefen betrifft, während es sich im Streitfall um einen gewöhnlichen Brief handelte. Da das BVerfG seiner Entscheidung die Erklärungen der Postbehörden zugrunde gelegt hat und zu dem Ergebnis gelangt ist, daß bei dieser Sachlage der BFH eine Verletzung der Sorgfaltspflichten des Klägers - oder seines Prozeßbevollmächtigten - nicht hätte annehmen dürfen, sieht sich der Senat an diese Würdigung gebunden. Hiernach ist dem Wiedereinsetzungsantrag stattzugeben.
Fundstellen
Haufe-Index 413381 |
BStBl II 1980, 514 |