Leitsatz (amtlich)
Die Schadensrückstellungen eines Versicherungsunternehmens sind keine Dauerschulden. Die Schwankungsrückstellung ist dagegen als Dauerschuld zu behandeln.
Normenkette
GewStG § 8 Nr. 1, § 12 Abs. 2 Nr. 1; BewG a.F. § 62 Abs. 2; BewDV § 53
Tatbestand
Die Revisionsbeklagte (Steuerpflichtige) ist eine Versicherungs-Aktiengesellschaft, die das Schadensversicherungsgeschäft betreibt. Bei der Festsetzung des einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrags für den streitigen Erhebungszeitraum 1950 rechnete der Revisionskläger (Finanzamt - FA -) Schadensrückstellungen von 678 602 DM und eine Rückstellung zum Ausgleich des schwankenden Jahresbedarfs (Schwankungsrückstellung) von 31 533 DM bei der Ermittlung des Gewerbekapitals als Dauerschulden wieder hinzu.
Der Einspruch hatte keinen Erfolg. Auf die Berufung hin änderte das FG den Gewerbesteuermeßbescheid und die Einspruchsentscheidung dahin, daß die Hinzurechnung der Schadensrückstellungen und der Schwankungsrückstellung unterblieb.
Das FG, dessen Entscheidung in den Entscheidungen der Finanzgerichte 1964 S. 119 - EFG 1964, 119 - veröffentlicht ist, hat ausgeführt, bei der Schadensrückstellung handle es sich zwar um einen Schuldposten, aber nicht um eine Rückstellung für Dauerschulden. Sie diene der Deckung des laufenden Wagnisses, denn die Schadensregulierung stehe in einem engen Zusammenhang mit dem laufenden Geschäftsgang. Daran ändere auch nichts die Tatsache, daß bis zur endgültigen Regulierung einzelner Schäden mitunter mehr als vier Jahre vergingen. Denn hier liege im Gegensatz zu den Dauerschulden ein sachlich erforderliches, unfreiwilliges Hinausschieben der Leistung vor. Die Schwankungsrückstellung sei aus ähnlichen Gründen keine Dauerschuld. Es handle sich um eine Schuld besonderer Art, deren Charakter im wesentlichen durch die Eigentümlichkeit des Versicherungsgeschäfts bestimmt werde, die darin bestehe, daß der Versicherungsvertrag seiner Natur nach ein auf längere Dauer angelegtes Vertragsverhältnis darstelle. Die Versicherungsnehmer, die ihre Prämien gezahlt hätten, wollten nicht die in der Schwankungsrückstellung erfaßten Teile ihrer Beiträge der Versicherung zur Verfügung stellen, um dieser einen Kredit einzuräumen, sondern, um in guten Jahren einen Stock zu bilden, aus dem die Versicherung später Überschäden decken könne.
Dagegen richtet sich die Rb. (Revision) des FA mit dem Antrag, das Urteil des FG aufzuheben sowie die Einspruchsentscheidung und den angefochtenen Gewerbesteuermeßbescheid wiederherzustellen.
Das FA ist der Meinung, daß durch die lange Abwicklungszeit der Schadensrückstellungen das Betriebskapital der Steuerpflichtigen tatsächlich und dauerhaft verstärkt werde und daß diese Verstärkung auch betriebsnotwendig sei. Für die Frage einer Dauerschuld seien die Schadensrückstellungen ohne Rücksicht auf die verschiedenen ständig wechselnden Gläubiger als eine Einheit zu betrachten. Gelange man hierbei - wie im Streitfall - zu dem Ergebnis, daß ein gewisser Mindestbestand unter Berücksichtigung der Zu- und Abgänge während eines längeren Zeitraums vorhanden sei, so sei damit eine Gesamtdauerschuld gegeben.
Auch die Schwankungsrückstellung verstärke als geborene Dauerschuld nachhaltig das Betriebskapital eines Versicherungsunternehmens. Schon allein die Tatsache, daß sie für mögliche Schadensfälle der Zukunft gebildet werde, lasse gewisse Schlüsse auf die Dauerhaftigkeit dieser Rückstellung und auf die damit verbundene, nicht nur vorübergehende Verstärkung des Betriebskapitals zu. Tatsächlich habe sich die Schwankungsrückstellung bei der Steuerpflichtigen ständig und in erheblichem Umfang erhöht und damit zweifellos das Betriebskapital in zunehmendem Maß nachhaltig verstärkt. Ihrem wirtschaftlichen Gehalt nach liege die Schwankungsrückstellung an der Grenze zwischen Rückstellungen und Eigenkapital, sie sei eine Rückstellung mit eigenkapitalähnlichem Charakter. Daraus rechtfertige sich die Hinzurechnung zum Gewerbekapital.
Die Steuerpflichtige beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Der BdF ist gemäß § 122 Abs. 2 FGO dem Verfahren beigetreten. Er hat die Auffassung vertreten, die Schadensrückstellungen und die Schwankungsrückstellung seien Dauerschulden. Den Schadensrückstellungen lägen zwar Verbindlichkeiten zugrunde, die mit dem laufenden Geschäftsverkehr zusammenhingen und die daher - jede einzelne für sich betrachtet - in der Regel keine Dauerschuld darstellten. Da es aber der Steuerpflichtigen nur auf die Gesamtbelastung und nicht auf die einzelnen Beträge ankomme, seien die Schadensrückstellungen als Einheit zu betrachten. Sie seien von Jahr zu Jahr gewachsen und verstärkten so seit fast zwei Jahrzehnten das Betriebskapital der Steuerpflichtigen. Daher seien sie Dauerschulden. Die Schwankungsrückstellung zähle zu den Dauerschulden, weil sie wegen des fehlenden Zusammenhanges mit bestimmten Vorfällen des laufenden Geschäftsverkehrs keine "laufende Verbindlichkeit" sei.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision ist bezüglich der Schadensrückstellungen unbegründet, bezüglich der Schwankungsrückstellung dagegen begründet.
Auch Rückstellungen können Dauerschulden sein, wenn sie für ungewisse Verbindlichkeiten angesetzt werden (§ 131 Abs. 1 B IV des Aktiengesetzes - AktG - 1937, § 152 Abs. 7 Satz 1 AktG 1965), die wirtschaftlich mit der Gründung oder dem Erwerb des Betriebs oder eines Anteils am Betrieb oder mit einer Erweiterung oder Verbesserung des Betriebs zusammenhängen oder der nicht nur vorübergehenden Verstärkung des Betriebskapitals dienen (§ 12 Abs. 2 Nr. 1, § 8 Nr. 1 GewStG).
Zu den Dauerschulden in diesem Sinn zählen grundsätzlich nicht die Verbindlichkeiten, die im gewöhnlichen Geschäftsgang des Unternehmens entstehen. Sie können zu Dauerschulden werden, wenn sie nicht innerhalb eines bestimmten Zeitraums nach dem Zeitpunkt getilgt werden, an dem sie erfüllt werden können und erfüllt zu werden pflegen (Urteile des BFH I 197/57 S vom 11. August 1959, BFH 69, 447, BStBl III 1959, 428; IV 385/62 S vom 13. März 1964, BFH 79, 311, BStBl III 1964, 344). Im laufenden Geschäftsverkehr entstanden sind im allgemeinen die Schulden, die im wirtschaftlichen Zusammenhang mit einzelnen laufenden, nach Art des Betriebes wiederkehrenden bestimmbaren Geschäftsvorfällen stehen (BFH-Urteil IV 385/62 S, a. a. O.). Bei Unternehmen, die einem nicht unbedeutenden Risiko der Entstehung von Haftpflicht- oder Gewährleistungsverbindlichkeiten ausgesetzt sind, können darunter auch Rückstellungen fallen, die anläßlich konkreter Schadensfälle für solche Verbindlichkeiten gebildet werden (BFH-Urteil IV 385/62 S, a. a. O.). Sie sind jedenfalls solange keine Dauerschulden, wie die den Rückstellungen zugrunde liegenden Ansprüche sich in der Abwicklung befinden und über die Berechtigung der Ansprüche zwischen den Beteiligten noch Verhandlungen im Gange sind. Zu Dauerschulden können sie werden, wenn die Verbindlichkeiten nicht innerhalb von 12 Monaten nach dem Wegfall der Ungewißheit getilgt werden.
Nach diesen Grundsätzen sind die Schadensrückstellungen nicht als Dauerschulden anzusehen. Die Schwankungsrückstellung ist dagegen als Dauerschuld zu beurteilen.
1. Schadensrückstellungen
Diese Rückstellungen enthalten die Versicherungsverpflichtungen aus den bis zum Bilanzstichtag eingetretenen und noch nicht erledigten Schadensfällen (Schmaltz-Sandig-Forster, Formblätter für den Jahresabschluß, S. 93; Prölss-v. d. Thüsen, Die versicherungstechnischen Rückstellungen im Steuerrecht, 2. Aufl., S. 93 ff.; Bühler, Bilanz und Steuer, 4. Aufl., S. 191). Der Ansatz dieser Rückstellungen in der Bilanz ist daher die Summe zahlreicher einzelner Rückstellungen.
Bei der Schadensversicherung ist der Versicherer verpflichtet, nach dem Eintritt des Versicherungsfalls dem Versicherungsnehmer den dadurch verursachten Vermögensschaden nach Maßgabe des Vertrags zu ersetzen (§ 1 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über den Versicherungsvertrag - VVG -). Die Erfüllung dieser Verpflichtung gehört somit zum laufenden Geschäftsverkehr eines Schadensversicherungsunternehmens. Die Rückstellungen für eine Vielzahl dieser Verpflichtungen sind nichts anderes als der bilanzrechtliche Ausdruck der einzelnen wiederkehrenden Geschäftsvorfälle. Wenn die Zugehörigkeit der Rückstellung für Haftpflichtverbindlichkeiten zum laufenden Geschäftsverkehr unter gewissen Voraussetzungen bei Unternehmen bejaht wird, deren Gegenstand in der Errichtung technischer Anlagen besteht (BFH-Urteil IV 385/62 S, a. a. O.), so muß dies auch gelten, wenn die Verpflichtung zum Schadensersatz die Leistung ist, die unmittelbar dem Gegenstand des Unternehmens entspringt.
Die Schadensrückstellungen werden auch, wie es das BFH-Urteil IV 385/62 S (a. a. O.) verlangt, anläßlich konkreter Schadensfälle gebildet. Die Schadensfälle sind bereits eingetreten, die Schadensersatzpflicht des Versicherers ist damit entstanden (§ 1 VVG), durch die Erhebungen zur Feststellung des Versicherungsfalls und des Umfangs der Leistung des Versicherers wird lediglich die Fälligkeit hinausgeschoben (§ 11 VVG). Dies gilt auch für die Schäden, die bereits eingetreten, aber noch nicht gemeldet sind, so daß der erforderliche Zusammenhang mit konkreten Schadensfällen auch für den Teil der Rückstellungen besteht, der in der Form eines geschätzten Zuschlags für diese eingetretenen, aber noch nicht gemeldeten Schadensfälle gebildet wird.
Somit gehören die Schadensrückstellungen nicht zu den Dauerschulden, ohne Rücksicht darauf, auf welchen Zeitraum sich die sachlich bedingte Abwicklung der zugrunde liegenden Verpflichtungen erstreckt. Die vom FG getroffenen Feststellungen lassen keine Anhaltspunkte dafür erkennen, daß in dem streitigen Posten Rückstellungen für Verbindlichkeiten enthalten sind, deren Abwicklung ungebührlich verzögert oder deren Erfüllung nach der abschließenden, notfalls gerichtlichen Klärung des Grundes und der Höhe der Versicherungsleistungen weiter hinausgeschoben worden wäre. Bei dieser Sachlage kommt es auf die zwischen den Beteiligten streitige Frage, ob die Steuerpflichtige ihre laufenden Schadensverbindlichkeiten auch ohne eine Verstärkung des Betriebskapitals durch die Schadensrückstellungen hätte erfüllen können, nicht mehr an. Denn es handelt sich jedenfalls nicht um eine dauernde Verstärkung des Betriebskapitals im Sinne des § 8 Nr. 1 GewStG.
Diese Beurteilung kann nicht dadurch umgestoßen werden, daß die einzelnen Schadensrückstellungen, wie der BdF will, zu einer Einheit zusammengefaßt werden. Die Schadensrückstellungen werden, wie ausgeführt wurde, für die einzelnen Verpflichtungen des Versicherungsunternehmens aus dem Versicherungsvertrag gebildet, die sich nach Grund und Höhe und Fälligkeit, meist auch nach der Person des Gläubigers, unterscheiden und deren rechtliches Eigenleben daher nicht bezweifelt werden kann. Sie sind daher in der Bilanz einzeln zu bewerten (§ 6 EStG, § 6 KStG) und dürfen auch bei der Prüfung, ob es sich um Dauerschulden handelt, nicht ohne zwingenden Grund als Gesamtheit betrachtet werden. Das entspricht der bisherigen Rechtsprechung, die den Grundsatz der Einzelbetrachtung stets anerkannt und nur ausnahmsweise eine einheitliche Beurteilung einzelner Verbindlichkeiten für geboten erachtet hat (vgl. BFH-Urteil I 230/56 U vom 26. November 1957, BFH 66, 97, BStBl III 1958, 39, mit weiteren Nachweisen). Aus dem Wortlaut des § 8 Nr. 1, § 12 Abs. 2 Nr. 1 GewStG, auch aus dem Gebrauch der Mehrzahl "Schulden" und "Verbindlichkeiten", läßt sich für die Ansicht des BdF nichts herleiten. Aber auch Sinn und Zweck der Hinzurechnungen nach §§ 8, 12 GewStG können nicht dazu führen, die Rechtsprechung zu ändern und den Grundsatz der Einzelbetrachtung aufzugeben. Dem BdF ist zuzugeben, daß es nicht die Schulden sind, die das Betriebskapital verstärken, sondern die ihnen entsprechenden Werte auf der Aktivseite der Bilanz. Da aber der Gesetzgeber, um den Tatbestand der Hinzurechnung zu umschreiben, nicht an die Aktivseite, sondern an die Passivseite der Bilanz anknüpft und sich dabei des Ausdrucks "Schulden" und "Verbindlichkeiten" bedient, muß die Auslegung der Vorschriften von diesen Begriffen ausgehen. Dabei ist zu bedenken, daß die Hinzurechnung der Schulden nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 GewStG nichts anderes ist als das Spiegelbild ihres vorherigen Abzugs. Daher ist es gerechtfertigt, den Grundsatz der Einzelbewertung, der beim Abzug der Schulden zu beachten ist, in jeder Beziehung auch für die Hinzurechnung gelten zu lassen.
2. Schwankungsrückstellung
Die Schwankungsrückstellung wird für den Teil der künftigen Verpflichtungen der Steuerpflichtigen aus den laufenden Versicherungsverträgen gebildet, der durch die künftigen Prämien voraussichtlich nicht gedeckt sein wird (Prölss-v. d. Thüsen, a. a. O., S. 97 ff.; Bühler, a. a. O., S. 194 ff.). Der Senat braucht nicht abschließend zu prüfen, ob die Schwankungsrückstellung ihrer Natur nach eine Rückstellung oder einen Rechnungsabgrenzungsposten oder aber, wie die Steuerpflichtige in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, als "versicherungstechnische Rückstellung" einen Posten eigener Art darstellt. Da das Gesetz sie bei der Ermittlung des Gewerbekapitals als abzugsfähige Betriebsschuld behandelt (§ 12 Abs. 1 GewStG, § 62 Abs. 2 BewG a. F., § 53 BewDV), kann ihre Eigenschaft als Dauerschuld nicht mit der Begründung verneint werden, im gegenwärtigen Zeitpunkt liege noch keine Schuld vor (vgl. auch BFH-Urteil I 165/64 U vom 13. April 1965, BFH 83, 253, BStBl III 1965, 592).
Die Schwankungsrückstellung ist hiernach als Dauerschuld im Sinne des § 8 Nr. 1 GewStG anzusehen. Auf sie trifft nicht zu, daß sie, wie der BFH in dem Urteil IV 385/62 S (a. a. O.) gefordert hat, anläßlich konkreter Schadensfälle gebildet wird. Sie gehört nicht zu den Verbindlichkeiten, die im wirtschaftlichen Zusammenhang mit einzelnen bestimmten Geschäftsvorfällen (Schadensfällen) stehen. Vielmehr ist sie ein Ausdruck des Risikos der Steuerpflichtigen aus den vorhandenen Versicherungsverträgen, für unbestimmte, aber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwartende Versicherungsfälle der Zukunft einstehen zu müssen. Gehört die Schwankungsrückstellung somit nicht zum laufenden Geschäftsverkehr, so ist sie infolge der unstreitigen Laufzeit der ihr zugrunde liegenden Verpflichtung (des Risikos) von mehr als 12 Monaten eine Dauerschuld (vgl. BFH-Urteil I 112/64 vom 25. Januar 1967, BFH 88, 50, BStBl III 1967, 266). Sie dient nicht nur der vorübergehenden Verstärkung des Betriebskapitals und ist daher dem Einheitswert des gewerblichen Betriebs der Steuerpflichtigen wieder hinzuzurechnen (§ 12 Abs. 2 Nr. 1 GewStG). Aus dem BFH-Urteil I 293/61 vom 21. Juli 1966 (BFH 89, 279, BStBl III 1967, 631) kann nichts anderes hergeleitet werden. Wenn dort darauf hingewiesen wird, daß bei Lebensversicherungsunternehmen die Ansammlung des Deckungstocks erst das Ergebnis abgeschlossener oder durchgeführter Verträge ist, während bei anderen gewerbetreibenden das Betriebskapital Voraussetzung für die Eröffnung oder Erweiterung des Betriebs ist, so dürfen diese Bemerkungen nicht über den Bereich der Deckungsrückstellungen bei Lebensversicherungsunternehmen hinaus verallgemeinert werden.
Fundstellen
Haufe-Index 68159 |
BStBl II 1968, 715 |
BFHE 1968, 154 |